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Drei Kameraden 25 страница



Alois erschien in einem neu aufgefä rbten Frack, einem Geschenk des Wirts. Er brachte ein halbes Dutzend Kruken mit Steinhä ger und schenkte ein. Mit ihm kam Potter von der Feuerbestattungsgesellschaft, der noch eine Verbrennung geleitet hatte.

»Friede auf Erden! « sagte er groß artig, reichte Rosa die Hand und nahm neben ihr Platz. Stefan Grigoleit, der Georgie sofort mit an die Tafel geladen hatte, stand auf und hielt die kü rzeste und beste Rede seines Lebens. Er hob sein Glas mit dem glitzernden Wacholderschnaps hoch, sah sich strahlend um und rief: »Prost! «

Dann setzte er sich wieder, und Alois schleppte die Eisbeine, das Sauerkraut und die Salzkartoffeln herein. Der Wirt kam mit groß en, glä sernen Stangen goldgelben Pilseners.

»Iß langsam, Georgie«, sagte ich. »Dein Magen muß sich erst an das fette Fleisch gewö hnen. «

»Ich muß mich ü berhaupt erst gewö hnen«, erwiderte er und sah mich an.

»Das geht schnell«, sagte ich. »Man darf nur nicht vergleichen. Dann geht's immer. «

Er nickte und beugte sich wieder ü ber seinen Teller.

Plö tzlich entstand am untern Tischende Streit. Potters krä hende Stimme war zu hö ren. Er hatte dem Zigarrenhä ndler Busch, einem Gast, zutrinken wollen, aber Busch hatte sich geweigert mit der Begrü ndung, er wolle nicht trinken, um mehr essen zu kö nnen.

»Das ist Blö dsinn«, schimpfte Potter. »Zum Essen muß man doch trinken! Wer trinkt, kann sogar noch mehr essen. «

»Quatsch! « brummte Busch, ein hagerer, langer Mensch mit platter Nase und Hornbrille.

Potter fuhr hoch. »Quatsch? Das sagst du zu mir, du Tabakeule? «

»Ruhe! « rief Stefan Grigoleit. »Keinen Krach am Weihnachtsabend! «

Er ließ sich erklä ren, um was es sich handelte, und fä llte ein salomonisches Urteil. Die Sache sollte ausprobiert werden. Vor jeden der beiden Kä mpfer wurden mehrere gleich groß e Schü sseln aufgestellt mit Fleisch, Kartoffeln und Kraut. Es waren riesenhafte Portionen. Potter durfte dazu trinken, was er wollte, Busch muß te trocken bleiben. Um dem Ganzen Reiz zu geben, wurde auf beide gewettet. Grigoleit ü bernahm den Totalisator.

Potter baute einen Kranz von Bierglä sern um sich auf, dazwischen wie Diamanten kleine Glä ser mit Steinhä ger. Die Wetten standen 3: 1 fü r ihn. Dann startete Grigoleit die beiden.

Busch fraß verbissen, tief ü ber den Teller geduckt. Potter kä mpfte in offener, aufrechter Haltung.

Bei jedem Schluck, den er nahm, rief er Busch ein frohlockendes Prost zu, das dieser mit einem gehä ssigen Blick beantwortete.

»Mir wird schlecht«, sagte Georgie zu mir.

»Komm mit 'raus. «

Ich brachte ihn in den Waschraum und setzte mich dann in den Vorderraum, um auf ihn zu warten.

Der sü ß e Duft der Kerzen mischte sich mit dem Knistern und dem Geruch verbrennender Tannennadeln. Und plö tzlich war es mir, als hö rte ich leichte, geliebte Schritte, als spü rte ich einen warmen Atem und sä he zwei Augen dicht vor mir...

»Verdammt«, sagte ich und stand auf. »Was ist denn mit mir los? «

Im selben Moment hö rte ich gewaltiges Gebrü ll. »Potter! Bravo, Aloysius! «

Die Feuerbestattung hatte gesiegt.

Im Hinterzimmer qualmten die Zigarren, und der Kognak wurde aufgefahren. Ich saß immer noch neben der Theke. Die Mä dchen kamen nach vorn und tuschelten eifrig.

»Was habt ihr denn? « fragte ich.

»Wir haben doch auch unsere Bescherung«, erwiderte Marion.

»Ach so. « Ich lehnte den Kopf an die Theke und dachte daran, was Pat jetzt wohl tä te. Ich stellte mir die Halle des Sanatoriums vor, den brennenden Kamin und Pat an einem der Fenstertische mit Helga Guttmann und irgendwelchen Leuten. Es war alles schon so schrecklich lange her. Manchmal dachte ich, daß man morgens einmal aufwachen kö nnte und daß dann alles vorbei wä re, was frü her gewesen war, vergessen, versunken, ertrunken. Es gab nichts Sicheres — nicht einmal die Erinnerung. Eine Klingel lä utete. Die Mä dchen rannten wie eine Schar aufgescheuchter Hü hner zum Billardzimmer hinü ber. Da stand Rosa mit der Klingel. Sie winkte mir, auch zu kommen. Unter einer kleinen Tanne stand auf dem Billardtisch eine Anzahl mit Seidenpapier verdeckter Teller. Auf jedem lag ein Zettel mit einem Namen, darunter die Pä ckchen mit den Geschenken, die die Mä dchen sich gegenseitig machten. Rosa hatte das alles arrangiert. Jede hatte ihr ihre eingepackten Geschenke fü r die andern geben mü ssen, und sie hatte alles auf die Teller geordnet.

Aufgeregt plapperten die Mä dchen durcheinander, eilig wie Kinder, um so rasch wie mö glich zu sehen, was sie bekommen hatten. »Willst du deinen Teller nicht haben? « fragte Rosa.

»Was fü r einen Teller? «

»Deinen. Du wirst doch auch beschert. «

Wahrhaftig, da stand mein Name, in zwei Farben, rot und schwarz, in Rundschrift sogar. Ä pfel, Nü sse, Apfelsinen — von Rosa ein selbstgestrickter Pullover, von der Wirtin ein grasgrü ner Schlips, vom schwulen Kiki ein Paar echt kunstseidene rosa Socken, von Wally, der Schö nen, ein Ledergü rtel, vom Kellner Alois eine halbe Flasche Rum, von Marion, Lina und Mimi zusammen ein halbes Dutzend Taschentü cher, und vom Wirt zwei Flaschen Kognak.

»Kinder«, sagte ich. »Kinder, das ist aber ganz unerwartet. «

»Ü berraschung? « rief Rosa.

»Total! «

Ich stand beschä mt da, und, verdammt, ich war gerü hrt bis auf die Knochen. »Kinder«, sagte ich, »wiß t ihr, wann ich zum letztenmal beschert worden bin? Ich weiß es gar nicht mehr. Es muß vor dem Kriege gewesen sein. Aber nun habe ich gar nichts fü r euch. «

Eine gewaltige Freude brach los, weil ich so glä nzend ü berrumpelt worden war. »Weil du uns immer was vorgespielt hast«, sagte Lina errö tend.

»Ja, du spielst uns was vor, das ist dein Geschenk«, erklä rte Rosa.

»Was ihr wollt«, sagte ich. »Alles, was ihr wollt. «

»Aus der Jugendzeit«, rief Marion.

»Nein, was Lustiges«, widersprach Kiki.

Er wurde ü berstimmt. Als Homo wurde er ohnehin nicht ganz fü r voll genommen. Ich setzte mich ans Klavier und begann. Alle sangen mit.

»Aus der Jugendzeit — klingt ein Lied mir immerdar — O wie liegt so weit — was mein einst war... «

Die Wirtin drehte alles elektrische Licht aus. Nur noch das milde Licht der Kerzen war da. Leise plä tscherte der Bierhahn wie eine ferne Quelle im Walde, und der plattfü ß ige Alois geisterte im Hintergrunde wie ein schwarzer Pan hin und her. Ich fing die zweite Strophe an. Mit glä nzenden Augen und guten Kleinbü rgerinnengesichtern standen die Mä dchen um das Klavier herum — aber sieh da, wer heulte Rotz und Trä nen? Kiki, Salzbrezelkiki aus Luckenwalde.

Leise ö ffnete sich die Tü r des groß en Vereinszimmers. Melodisch brummend zog im Gä nsemarsch die Liedertafel herein und stellte sich hinter den Mä dchen auf. Grigoleit mit einer schwarzen Brasilzigarre an der Spitze.

»Als ich Abschied nahm — war die Welt mir voll so sehr — Als ich wiederkam — war alles leer... «

Leise verhallte der gemischte Chor. »Schö n«, sagte Lina.

Rosa zü ndete die Wunderkerzen an. Sie zischten und sprü hten. »So, und nun was Lustiges! « rief sie. »Kiki muß aufgeheitert werden. «

»Ich auch«, sagte Stefan Grigoleit.

Um elf Uhr kamen Kö ster und Lenz. Wir setzten uns mit dem blassen Georgie an einen Tisch neben der Theke. Georgie bekam ein paar Schnitten trockenes Brot zu essen, damit er wieder taktfest wurde. Bald darauf war Lenz im Tumult der Viehkommissionä re verschwunden. Eine Viertelstunde spä ter sahen wir ihn mit Grigoleit an der Theke auftauchen. Beide schlangen die Arme ineinander und tranken Brü derschaft.

»Stefan! « sagte Grigoleit.

»Gottfried! « erwiderte Lenz, und beide schü tteten den Kognak hinunter.

»Ich schicke dir morgen ein Paket Blut- und Leberwurst, Gottfried. In Ordnung? «

»In bester Ordnung! « Lenz schlug ihm auf die Schulter. »Alter, guter Stefan! «

Stefan strahlte. »Du kannst so schö n lachen«, sagte er begeistert. »Ich habe gern, wenn einer gut lachen kann. Ich werde zu leicht traurig, das ist mein Fehler. «

»Meiner auch«, erwiderte Lenz, »deshalb lache ich ja. Komm, Robby, trink einen mit auf das endlose Weltgelä chter! «

Ich ging zu ihnen hin. »Was hat denn der Kleine da? « fragte Stefan und zeigte auf Georgie. »Der sieht mä chtig traurig aus. «

»Der ist leicht glü cklich zu machen«, sagte ich. »Der braucht nur etwas Arbeit. «

»Kunststü ck«, antwortete Stefan. »Heutzutage. «

»Er macht alles. «

»Machen alle alles heutzutage. « Stefan wurde nü chterner.

»Der Junge braucht fü nfundsiebzig Mark im Monat. «

»Unsinn. Damit kommt er nicht aus. «

»Der kommt damit aus«, sagte Lenz.

»Gottfried«, erwiderte Grigoleit, »ich bin ein alter Sä ufer.

 

Gut. Aber Arbeit ist etwas Ernstes. Kann man jemand nicht heute geben und morgen wieder wegnehmen. So was ist schlimmer als heiraten lassen und morgen die Frau wieder wegnehmen. Aber wenn der Junge ehrlich ist und mit fü nfundsiebzig Mark auskommt, hat er Schwein gehabt. Kann sich Dienstag acht Uhr bei mir melden. Brauche eine Hilfe fü r meine Laufereien mit dem Verein und so. Ab und zu ein Paket mit Geschlachtetem gibt's extra. Scheint was in die Rippen haben zu mü ssen. «

»Ist das ein Wort? « fragte Lenz.

»Es ist ein Wort von Stefan Grigoleit. «

»Georgie«, rief ich, »komm mal her. «

Er begann zu zittern, als er es hö rte. Ich ging zu Kö ster zurü ck. »Hö r mal, Otto«, sagte ich, »wenn du dein Leben noch einmal von vorn leben kö nntest, mö chtest du das? « »Genauso, wie es war? « »Ja. « »Nein«, sagte Kö ster. »Ich auch nicht«, sagte ich.

XXIV

 

Es war drei Wochen spä ter, an einem kalten Abend im Januar. Ich saß im International und spielte mit dem Wirt »Siebzehn und vier«. Das Lokal war leer, nicht einmal die Huren waren gekommen. Die Stadt war unruhig. Drauß en marschierten alle Augenblicke Kolonnen vorü ber, manche mit schmetternden Militä rmä rschen, andere mit der Internationale, und dann wieder schweigende, lange Zü ge, denen Schilder vorangetragen wurden mit Forderungen nach Arbeit und Brot. Man hö rte die vielen Schritte auf dem Pflaster wie das Gehen einer riesigen, unerbittlichen Uhr. Nachmittags war es zwischen Streikenden und der Polizei bereits zu einem Zusammenstoß gekommen, bei dem zwö lf Leute verletzt worden waren, und die ganze Polizei stand seit Stunden unter Alarm. Die Pfiffe der Ü berfallautos gellten durch die Straß en.

»Es gibt keine Ruhe«, sagte der Wirt und zeigte eine Sechzehn vor.

»Seit dem Krieg hat's keine Ruhe mehr gegeben. Und damals haben wir doch alle nichts anderes gewollt als Ruhe. Verrü ckte Welt! «

Ich zeigte Siebzehn vor und strich den Pott ein. »Die Welt ist nicht verrü ckt«, sagte ich. »Nur die Menschen. «

Alois, der hinter dem Stuhl des Wirtes stand und kiebitzte, erhob Einspruch. »Verrü ckt sind die nicht. Bloß habgierig. Einer gö nnt dem andern nischt. Und weil zuviel von allem da ist, haben die meisten gar nischt. Es liegt bloß an der Verteilung. «

»Klar«, sagte ich und paß te bei zwei Karten. »Daran liegt's aber seit ein paar tausend Jahren. «

Der Wirt deckte auf. Er hatte fü nfzehn und sah mich zweifelnd an. Dann kaufte er weiter ein, ein As, und war kaputt. Ich zeigte meine Karten vor. Es waren nur zwö lf Augen, und er hä tte mit fü nfzehn gewonnen gehabt. »Verdammt, jetzt hö re ich auf«, fluchte er. »So was an gemeinem Bluff! Ich dachte, Sie hä tten mindestens achtzehn. «

Alois meckerte. Ich strich das Geld ein. Der Wirt gä hnte und sah nach der Uhr: »Fast elf. Ich glaube, wir machen Schluß. Kommt doch keiner mehr. «

»Da kommt noch einer«, sagte Alois.

Die Tü r ging auf. Es war Kö ster. »Gibt's was Neues drauß en, Otto? «

Er nickte. »Eine Saalschlacht in den Borussiasä len. Zwei Schwerverletzte, ein paar Dutzend Leichtverletzte und ungefä hr hundert Verhaftungen. Zwei Schieß ereien im Norden. Ein Schupo tot. Weiß nicht, wieviel Verletzte. Na, und jetzt geht's ja wohl erst noch los, wenn die groß en Versammlungen zu Ende sind. Bist du hier fertig? «

»Ja«, sagte ich. »Wir wollten gerade Schluß machen. «

»Dann komm mit. «

Ich sah zum Wirt hinü ber. Er nickte. »Also, Servus«, sagte ich.

»Servus«, erwiderte der Wirt trä ge. »Nehmt euch in acht. «

Wir gingen hinaus. Drauß en roch es nach Schnee. Flugblä tter lagen wie groß e, tote, weiß e Schmetterlinge auf der Straß e.

»Gottfried ist nicht da«, sagte Kö ster. »Er steckt in einer dieser Versammlungen. Ich habe gehö rt, daß sie gesprengt werden sollen, und glaube, daß noch allerhand passieren wird. Es wä re ganz gut, wenn wir ihn vor Schluß erwischen kö nnten. Er ist ja nicht gerade der Ruhigste. «

»Weiß t du denn, wo er ist? « fragte ich.

»Nicht genau. Aber ziemlich sicher in einer der drei Hauptversammlungen. Wir mü ssen sie abfahren. Gottfried mit seinem leuchtenden Haarschopf ist ja leicht zu erkennen. «

»Gut. « Wir stiegen ein und jagten mit Karl los zum ersten Versammlungslokal.

Auf der Straß e stand ein Lastwagen mit Schupos. Die Sturmriemen der Tschakos waren heruntergelassen. Karabinerlä ufe schimmerten stumpf im Laternenlicht. Bunte Fahnen hingen in den Fenstern. Vor dem Eingang drä ngte sich eine Anzahl uniformierter Leute. Fast alle waren sehr jung.

Wir kauften zwei Billetts, lehnten Broschü ren, Sammelbü chsen und Mitgliedserklä rungen ab und gingen in den Saal. Er war voll besetzt und gut beleuchtet, um Zwischenrufer sofort herausfinden zu kö nnen. Wir blieben am Eingang stehen, und Kö ster, der sehr scharfe Augen hatte, musterte die Reihen.

Auf dem Podium stand ein krä ftiger, untersetzter Mann und redete. Er hatte eine volle Bruststimme, die mü helos in den entferntesten Winkeln verstä ndlich war. Es war eine Stimme, die ü berzeugte, ohne daß man viel darauf achtete, was sie sagte. Und was sie sagte, war leicht verstä ndlich. Der Mann ging auf der Bü hne umher, ungezwungen, mit kleinen Armbewegungen, ab und zu trank er einen Schluck Wasser und machte einen Witz. Dann aber stand er plö tzlich still, voll dem Publikum zugekehrt, und peitschte mit verä nderter, greller Stimme Satz um Satz hinaus, Wahrheiten, die jeder kannte, von der Not, vom Hunger, von der Arbeitslosigkeit, sich immer weiter steigernd, die Zuhö rer mitreiß end, bis er in einem Furioso herausschmetterte: »Das kann nicht so weitergehen! Das muß anders werden! «

Das Publikum tobte Beifall, es klatschte und schrie, als sei damit schon alles anders geworden. Der Mann oben wartete ab. Sein Gesicht glä nzte. Und dann kam es, breit, ü berzeugend, unwiderstehlich, Versprechen ü ber Versprechen, es regnete nur so Versprechen, ein Paradies erstand ü ber den vielen Kö pfen, es wö lbte sich zauberhaft bunt, es war eine Lotterie, in der alle Lose Haupttreffer waren und in der jeder sein Privatglü ck und sein Privatrecht und seine Privatrache fand.

Ich sah mir die Zuhö rer an. Es waren Leute aller Berufe, Buchhalter, kleine Gewerbetreibende, Beamte, eine Anzahl Arbeiter und viele Frauen. Sie saß en jetzt da in dem heiß en Saal, zurü ckgelehnt oder vorgebeugt. Reihe an Reihe, Gesicht neben Gesicht, der Strom der Worte spü lte ü ber sie hin, und es war sonderbar: So verschieden sie auch waren, die Gesichter hatten alle den gleichen, abwesenden Ausdruck, einen schlä frig-sü chtigen Blick in die Ferne einer nebeligen Fata Morgana, es war Leere darin und zugleich eine ü bermä chtige Erwartung, die alles auslö schte, Kritik, Zweifel, Widersprü che und Fragen, den Alltag, die Gegenwart, die Realitä t. Der da oben wuß te alles — er hatte fü r jede Frage eine Antwort, fü r jede Not eine Hilfe. Es war gut, sich ihm anzuvertrauen. Es war gut, jemand zu haben, der fü r einen dachte. Es war gut, zu glauben.

Kö ster stieß mich an. Lenz war nicht da. Er winkte mit dem Kopf nach dem Ausgang. Ich nickte, und wir gingen.

Die Saalwachen sahen uns finster und argwö hnisch nach. Im Vorraum stand eine Kapelle, fertig zum Einmarsch in den Saal. Ein Wald von Fahnen und Abzeichen dahinter.

»Gut gemacht, was? « fragte Kö ster drauß en.

»Erstklassig. Das kann ich als alter Propagandachef beurteilen. «

Wir fuhren ein paar Straß en weiter. Dort war die zweite politische Versammlung. Andere Fahnen, andere Uniformen, ein anderer Saal; aber sonst alles ä hnlich. Auf den Gesichtern der gleiche Ausdruck von Ungewisser Hoffnung und glä ubiger Leere. Ein weiß gedeckter Vorstandstisch, quer vor den Stuhlreihen. Daran die Parteisekretä re, der Vorstand, ein paar eifrige alte Jungfern. Der Redner, ein Beamtentyp, war schwä cher als der vorige. Er redete Papierdeutsch, er brachte Zahlen, Beweise, es stimmte alles, was er sagte, aber trotzdem ü berzeugte er weniger als der andere, der ü berhaupt nichts bewies, sondern nur behauptete. Mü de dö sten die Parteisekretä re am Vorstandstisch vor sich hin; sie hatten Hunderte solcher Versammlungen hinter sich.

»Komm«, sagte Kö ster nach einer Weile. »Hier ist er auch nicht. Habe ich ü brigens auch nicht erwartet. «

Wir fuhren weiter. Die Luft war kalt und frisch nach dem verbrauchten Dunst in den ü berfü llten Sä len. Der Wagen schoß durch die Straß en. Wir kamen am Kanal vorbei. Die Laternen warfen ö liggelbe Reflexe auf das dunkle Wasser, das leise an die betonierten Ufer klatschte. Eine Zille zog schwarz und langsam vorü ber. Der Schleppdampfer hatte rote und grü ne Signallichter gesetzt. Ein Hund bellte herü ber, dann ging ein Mann vor dem Licht her und verschwand in einer Luke, die einen Augenblick golden aufschimmerte. Jenseits des Kanals lagen hell angestrahlt die Hä user des Westens. Ein Brü ckenbogen schwang sich von ihnen zur anderen Seite hinü ber. Ruhelos schoben sich Autos, Omnibusse und elektrische Bahnen darauf hin und her. Er sah aus wie eine funkelnde bunte Schlange ü ber dem trä gen schwarzen Wasser.

»Ich denke, wir lassen den Wagen hier stehen und gehen das letzte Stü ck zu Fuß «, sagte Kö ster nach einer Weile. »Ist unauffä lliger. «

Wir hielten Karl unter einer Laterne vor einer Kneipe an. Eine weiß e Katze huschte weg, als wir ausstiegen. Ein paar Huren mit Schü rzen standen etwas weiter unter einem Torbogen und verstummten, als wir vorü bergingen. In einer Hausecke lehnte ein Drehorgelspieler und schlief. Eine alte Frau wü hlte in den Abfä llen am Straß enrand.

Wir kamen an eine riesige, schmutzige Mietskaserne mit mehreren Hinterhä usern, Hö fen und Durchgä ngen. Im untersten Stock befanden sich Lä den, eine Bä ckerei und eine Annahmestelle fü r Lumpen und altes Eisen. Auf der Straß e vor dem ersten Durchgang standen zwei Lastwagen mit Schupos.

Im ersten Hof war in einer Ecke aus Holzlatten ein Stand aufgebaut, an dem ein paar groß e Sternkarten hingen. Vor einem Tisch mit Papieren stand auf einem kleinen Podium ein Mann mit einem Turban. Ü ber seinem Kopf hing ein Schild: Astrologie, Handlesekunst, Zukunftsdeutung — Ihr Horoskop fü r 50 Pfennig. Ein Schwarm Menschen umdrä ngte ihn. Das grelle Licht einer Karbidlampe fiel auf sein gelbes, faltiges Gesicht. Er redete auf die Zuschauer ein, die schweigend zu ihm aufschauten — mit dem gleichen verlorenen, abwesenden, wundersü chtigen Blick wie vorher die Zuhö rer in den Versammlungen mit den Fahnen und den Musikkapellen.

»Otto«, sagte ich zu Kö ster, der vor mir her ging, »jetzt weiß ich, was die Leute wollen. Sie wollen gar keine Politik. Sie wollen Religionsersatz. «

Er sah sich um. »Natü rlich. Sie wollen an irgend etwas wieder glauben. An was, ist ganz egal. Deshalb sind sie auch so fanatisch. «

Wir kamen auf den zweiten Hof, an dem das Versammlungslokal lag. Alle Fenster waren erleuchtet. Plö tzlich hö rten wir Lä rm von drinnen. Im selben Moment stü rzte aus einem dunklen Seiteneingang eine Anzahl junger Leute in Windjacken, wie auf ein verabredetes Zeichen ü ber den Hof, dicht unter den Fenstern entlang, auf die Tü r des Lokals los. Der vorderste riß sie auf, und sie stü rmten hinein.

»Ein Stoß trupp«, sagte Kö ster. »Komm hier an die Wand hinter die Bierfä sser. «

Ein Brü llen und Toben begann im Saal. In der nä chsten Sekunde splitterte ein Fenster und jemand flog heraus. Gleich darauf brach die Tü r auf, ein Haufen Menschen wä lzte sich heraus, die ersten stü rzten, die andern fielen darü ber hinweg. Eine Frau schrie gellend um Hilfe und rannte durch den Torbogen hinaus. Ein zweiter Schub folgte mit Stuhlbeinen und Bierglä sern, wü tend ineinander verfilzt. Ein riesiger Zimmermann sprang heraus, stellte sich etwas auß erhalb auf, und jedesmal, wenn er den Kopf eines Gegners vor sich sah, fegte sein langer Arm im Kreise herum und schlug ihn in das Gewü hl zurü ck. Er machte das vö llig ruhig, als ob er Holz hackte.

Ein neuer Knä uel stü rzte heran, und plö tzlich sahen wir, drei Meter vor uns, den gelben Schö pf Gottfrieds in den Hä nden eines tobenden Schnauzbartes.

Kö ster duckte sich und verschwand in dem Haufen. Ein paar Sekunden spä ter ließ der Schnauzbart Gottfried los, warf mit einer Miene ä uß ersten Erstaunens die Arme hoch und fiel wie ein entwurzelter Baum in die Menge zurü ck. Gleich darauf entdeckte ich Kö ster, der Lenz am Kragen hinter sich herschleppte.

Lenz wehrte sich. »Laß mich nur noch einen Augenblick hin, Otto«, keuchte er.

»Unsinn«, rief Kö ster, »die Schupo kommt sofort! Los, da hinten 'rauf. «

Wir liefen ü ber den Hof, dem dunklen Seiteneingang zu. Es war keinen Augenblick zu frü h. Im gleichen Moment schrillte jä hes Pfeifen ü ber den Hof, die schwarzen Tschakos der Schupo blitzten auf, und die Polizei riegelte den Hof ab. Wir rannten die Treppen hinauf, um nicht mit zur Wache geschleppt zu werden. Von einem Flurfenster aus sahen wir, wie es weiterging. Die Schupo arbeitete glä nzend. Sie sperrte ab, trieb einen Keil in den Knä uel, riß die Haufen auseinander, lö ste sie auf und begann sofort abzutransportieren. Als ersten den verblü fften Zimmermann, der vergeblich etwas zu erklä ren suchte. Hinter uns schnappte eine Tü r. Eine Frau im Hemd, mit bloß en, dü nnen Beinen, eine Kerze in der Hand, steckte den Kopf heraus. »Bist du das? « fragte sie mü rrisch.

»Nein«, sagte Lenz, der sich erholt hatte. Die Frau warf die Tü r zu. Lenz leuchtete mit seiner Taschenlampe die Tü r ab. Es war der Maurerpolier Gerhard Peschke, der hier erwartet wurde.

Unten wurde es still. Die Schupo zog ab, und der Hof wurde leer. Wir warteten noch etwas, dann gingen wir die Treppen hinunter. Hinter einer Tü r weinte ein Kind. Es weinte leise und klagend im Dunkel.

Wir gingen durch den vorderen Hof. Der Astrologe stand verlassen vor seinen Sternkarten. »Ein Horoskop, die Herrschaften? « rief er. »Oder die Zukunft aus der Hand? «

»Immer los«, sagte Gottfried und hielt ihm die Hand hin.

Der Mann studierte eine Zeitlang. »Sie haben einen Herzfehler«, sagte er dann kategorisch. »Ihr Gefü hl ist stark entwickelt, Ihre Verstandeslinie sehr kurz, dafü r sind Sie musikalisch begabt. Sie trä umen viel, aber Sie taugen nicht als Ehemann. Trotzdem sehe ich hier drei Kinder. Sie sind eine diplomatische Natur, neigen zur Verschlossenheit und werden etwa achtzig Jahre alt. «

»Stimmt«, erklä rte Gottfried. »Das hat mein Frä ulein Mutter auch schon immer gesagt: Wer bö se ist, wird alt. Moral ist eine Erfindung der Menschen; nicht eine Konsequenz des Lebens. «

Er gab dem Mann sein Geld, und wir gingen weiter. Die Straß e war leer. Eine schwarze Katze huschte vor uns her. Lenz zeigte hin. »Jetzt mü ß ten wir eigentlich umkehren. «

»Laß man«, sagte ich, »wir haben vorhin eine weiß e gesehen; das hebt sich auf. «

Wir gingen die Straß e entlang. Ein paar Leute kamen uns auf der anderen Seite entgegen. Es waren vier junge Burschen. Einer trug hellgelbe, neue Ledergamaschen, die andern eine Art von Militä rstiefeln. Sie blieben stehen und sahen zu uns herü ber. »Da ist er! « rief plö tzlich der mit den Gamaschen und lief schrä g ü ber die Straß e auf uns zu. Im nä chsten Augenblick krachten zwei Schü sse, der Bursche sprang weg, und alle vier rissen aus, so schnell sie konnten.

Ich sah, wie Kö ster zum Sprung ansetzte, aber dann in einer merkwü rdigen Drehung abbog, die Arme ausstreckte, einen gepreß ten, wilden Laut ausstieß und Gottfried Lenz aufzufangen versuchte, der schwer aufs Pflaster schlug.

Eine Sekunde dachte ich, er sei nur gefallen; dann sah ich das Blut. Kö ster riß ihm die Jacke auf, zerrte das Hemd weg — das Blut quoll dicht hervor. Ich preß te mein Taschentuch dagegen. »Bleib hier, ich hole den Wagen«, rief Kö ster und rannte los.

»Gottfried«, sagte ich, »hö rst du mich? «

Sein Gesicht wurde grau. Die Augen waren halb geschlossen. Die Lider bewegten sich nicht. Ich hielt mit der einen Hand seinen Kopf, mit der anderen drü ckte ich das Taschentuch auf die blutende Stelle. Ich kniete neben ihm, ich lauschte auf sein Rö cheln, seinen Atem, aber ich hö rte nichts, lautlos war alles, die endlose Straß e, die endlosen Hä user, die endlose Nacht — ich hö rte nur leise klatschend das Blut auf das Pflaster fallen und wuß te, daß das schon einmal so gewesen sein muß te und daß es nicht wahr sein konnte.

Kö ster raste heran. Er riß die Lehne des linken Sitzes nach hinten herum. Wir hoben Gottfried vorsichtig hoch und legten ihn auf die beiden Sitze. Ich sprang in den Wagen und Kö ster schoß los. Wir fuhren zur nä chsten Unfallstelle. Kö ster bremste vorsichtig. »Sieh nach, ob ein Arzt da ist. Sonst mü ssen wir weiter. «

Ich lief hinein. Ein Sanitä ter kam mir entgegen. »Ist ein Arzt da? « »Ja. Habt ihr jemand? « »Ja. Kommen Sie mit 'ran! Eine Tragbahre. « Wir hoben Gottfried auf die Bahre und trugen ihn hinein.

Der Arzt stand schon in Hemdsä rmeln bereit. »Hierher! « Er zeigte auf einen flachen Tisch. Wir hoben die Bahre hinauf. Der Arzt zog eine Lampe herunter, dicht ü ber den Kö rper.

»Was ist es? « — »Revolverschuß. «

Er nahm einen Bausch Watte, wischte das Blut fort, griff nach Gottfrieds Puls, horchte ihn ab und richtete sich auf. »Nichts mehr zu machen. «

 

Kö ster starrte ihn an. »Der Schuß sitzt doch ganz seitlich.

Es kann doch nicht schlimm sein! «

»Es sind zwei Schü sse! « sagte der Arzt.

Er wischte wieder das Blut weg. Wir beugten uns vor. Da sahen wir, daß schrä g unter der stark blutenden Wunde eine zweite war — ein kleines, dunkles Loch in der Herzgegend.

»Er muß fast augenblicklich tot gewesen sein«, sagte der Arzt. Kö ster richtete sich auf. Er sah Gottfried an. Der Arzt bedeckte die Wunden mit Tampons und klebte Heftpflasterstreifen darü ber. »Wollen Sie sich waschen? « fragte er mich.

»Nein«, sagte ich.

Gottfrieds Gesicht war jetzt gelb und eingefallen. Der Mund war etwas schiefgezogen, die Augen waren halb geschlossen, das eine etwas mehr als das andere. Er sah uns an. Er sah uns immerfort an.

»Wie ist es denn gekommen? « fragte der Arzt.

Niemand antwortete. Gottfried sah uns an. Er sah uns unverwandt an.

»Er kann hierbleiben«, sagte der Arzt.

Kö ster rü hrte sich. »Nein«, erwiderte er. »Wir nehmen ihn mit! «

»Das geht nicht«, sagte der Arzt. »Wir mü ssen die Polizei anrufen. Die Kriminalpolizei auch. Es muß doch sofort alles getan werden, um den Tä ter zu finden. «

»Den Tä ter? « Kö ster blickte den Arzt an, als verstü nde er ihn nicht.

»Gut«, sagte er dann, »ich werde hinfahren und die Polizei holen. «

»Sie kö nnen telefonieren. Dann sind sie schneller hier. «

Kö ster schü ttelte langsam den Kopf. »Nein. Ich werde sie holen. «

Er ging hinaus, und ich hö rte Karl anspringen. Der Arzt schob mir einen Stuhl hin. »Wollen Sie sich nicht solange setzen? «

»Danke«, sagte ich und blieb stehen. Das helle Licht lag immer noch auf Gottfrieds blutiger Brust. Der Arzt schob die Lampe etwas hö her.



  

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