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Drei Kameraden 20 страница



Sä mtliche Scheiben der schweren Limousine waren zersplittert. Im Halbdunkel des Innern sahen wir das blutü berströ mte Gesicht einer Frau. Neben ihr war ein Mann, zwischen Steuerrad und Sitz gequetscht. Wir hoben zuerst die Frau heraus und legten sie auf die Straß e. Ihr Gesicht war voller Schnitte, ein paar Splitter steckten noch darin, aber das Blut lief regelmä ß ig. Schlimmer war der rechte Arm. Der Ä rmel der weiß en Kostü mjacke war hellrot und tropfte stark. Lenz schnitt ihn auf. Ein Schwall Blut floß heraus, dann pulste es weiter. Die Ader war zerschnitten. Lenz drehte sein Taschentuch zu einem Knebel. »Macht den Mann frei, ich werde hier schon fertig«, sagte er. »Wir mü ssen rasch ins nä chste Krankenhaus. «

Um den Mann loszubekommen, muß ten wir die Sitzlehne abschrauben. Zum Glü ck hatten wir Werkzeug genug bei uns, und es ging ziemlich schnell. Der Mann blutete ebenfalls und hatte anscheinend ein paar Rippen gebrochen. Als wir ihm heraushalfen, fiel er mit einem Schrei um. Es war auch was mit dem Knie los. Aber wir konnten im Augenblick nichts daran tun.

Kö ster fuhr Karl rü ckwä rts bis dicht an die Unglü cksstelle heran. Die Frau bekam einen Schreikrampf vor Angst, als sie ihn so nä her kommen sah, obschon er im Schritt fuhr. Wir legten die Lehne eines der Vordersitze zurü ck und konnten so den Mann hinlegen. Die Frau setzten wir auf den Hintersitz. Ich stellte mich neben sie auf das Trittbrett, Lenz hielt ebenso von der andern Seite den Mann fest. »Bleib hier und paß auf den Wagen auf, Jupp«, sagte Lenz.

»Wo ist eigentlich der Motorradfahrer geblieben? « fragte ich.

»Abgehauen, als wir am Arbeiten waren«, erklä rte Jupp.

Wir fuhren langsam los. In der Nä he des nä chsten Dorfes war ein kleines Sanatorium. Wir hatten es oft im Vorü berfahren gesehen. Es lag weiß und niedrig auf einem Hü gel. Soviel wir wuß ten, war es eine Art Privatirrenanstalt fü r leichtkranke, reiche Patienten — aber sicher war ein Arzt da und ein Verbandsraum.

Wir fuhren den Hü gel hinauf und klingelten. Eine sehr hü bsche Schwester kam heraus. Sie wurde blaß, als sie das Blut sah, und lief zurü ck. Gleich darauf kam eine zweite, bedeutend ä ltere. »Bedaure«, sagte sie sofort, »wir sind nicht auf Unfä lle eingerichtet. Sie mü ssen zum Virchow-Krankenhaus fahren. Es ist nicht weit. «

»Es ist fast eine Stunde von hier«, erwiderte Kö ster.

Die Schwester sah ihn abweisend an. »Wir sind gar nicht auf so etwas eingerichtet. Es ist auch kein Arzt da... «

»Dann verstoß en Sie gegen das Gesetz«, erklä rte Lenz. »Privatanstalten Ihrer Art mü ssen einen stä ndigen Arzt haben. Wü rden Sie mir erlauben, einmal Ihr Telefon zu benü tzen? Ich mö chte mit der Polizeidirektion und der Redaktion des Tageblattes telefonieren. «

Die Schwester wurde unschlü ssig. »Ich glaube, Sie kö nnen beruhigt sein«, sagte Kö ster kalt. »Ihre Arbeit wird Ihnen sicher gut bezahlt werden. Wir brauchen zunä chst eine Tragbahre. Den Arzt werden Sie ja wohl erreichen kö nnen. « Sie zö gerte immer noch. »Eine Tragbahre«, erlä uterte Lenz, »gehö rt ebenfalls laut Gesetz, ebenso wie ausreichendes Verbandsmaterial... «

»Jaja«, erwiderte sie hastig, scheinbar niedergeschmettert durch so viel Kenntnisse, »sofort, ich schicke jemand... «

Sie verschwand. »Allerhand«, sagte ich.

»Kann dir auch im Stä dtischen Krankenhaus passieren«, antwortete Gottfried gleichmü tig. »Erst kommt das Geld, dann die Bü rokratie, dann die Hilfe. «

Wir gingen zum Wagen zurü ck und halfen der Frau heraus. Sie sagte nichts; sie blickte nur auf ihre Hä nde. Wir brachten sie in einen kleinen Ordinationsraum im Parterre. Dann kam die Tragbahre fü r den Mann. Wir hoben ihn hinauf. Er stö hnte. »Einen Augenblick... «

Wir sahen ihn an. Er schloß die Augen. »Ich mö chte, daß niemand etwas erfä hrt«, sagte er mü hsam.

»Sie waren vö llig ohne Schuld«, erwiderte Kö ster. »Wir haben den Unfall genau gesehen und sind gern Zeugen fü r Sie. «

»Das ist es nicht«, sagte der Mann. »Ich mö chte aus anderen Grü nden, daß nichts bekannt wird. Sie verstehen... « Er blickte nach der Tü r, durch die die Frau gegangen war.

»Dann sind Sie hier am richtigen Platz«, erklä rte Lenz. »Es ist ein Privathaus. Das einzige wä re nur noch, daß Ihr Wagen verschwindet, ehe die Polizei ihn sieht. «

Der Mann stü tzte sich auf. »Wü rden Sie das fü r mich noch machen? Eine Reparaturanstalt anrufen? Und geben Sie mir bitte Ihre Adresse! Ich mö chte — ich bin Ihnen zu Dank... «

Kö ster wehrte mit einer Handbewegung ab. »Doch«, sagte der Mann, »ich wü ß te gern... «

»Ganz einfach«, erwiderte Lenz. »Wir haben selbst eine Reparaturwerkstatt und sind Spezialisten fü r Wagen wie den Ihren. Wir werden ihn gleich mitnehmen, wenn Sie einverstanden sind, und ihn wieder in Ordnung bringen. Damit ist Ihnen geholfen und uns gewissermaß en auch. «

»Gern«, sagte der Mann. »Wollen Sie meine Adresse — ich komme dann selbst, den Wagen holen. Oder schicke jemand. «

Kö ster steckte die Visitenkarte in die Tasche, und wir trugen ihn hinein. Der Arzt, ein junger Mann, war inzwischen gekommen. Er hatte das Blut vom Gesicht der Frau abgewaschen, und man sah jetzt die tiefen Schnitte. Die Frau hob sich auf den gesunden Arm und starrte in das blinkende Nickel einer Schale auf dem Verbandstisch. »Oh«, sagte sie leise und ließ sich zurü ckfallen, mit entsetzten Augen.

Wir fuhren zum Dorf und fragten nach einer Werkstatt. Dort liehen wir uns bei einem Schmied eine Abschleppvorrichtung und ein Seil und versprachen dem Mann zwanzig Mark dafü r. Doch der war miß trauisch und wollte den Wagen sehen. Wir nahmen ihn mit und fuhren zurü ck.

Jupp stand mitten auf der Straß e und winkte. Aber wir sahen ohne ihn schon, was los war. Ein alter, hochbordiger Mercedes stand am Straß enrand, und vier Leute waren dabei, den Stutz abzuschleppen.

»Da kommen wir ja gerade noch zurecht«, sagte Kö ster.

»Das sind die Brü der Vogt«, erwiderte der Schmied. »Gefä hrliche Bande. Wohnen drü ben. Was die in den Fingern haben, geben sie nicht wieder her. «

»Mal sehen«, sagte Kö ster.

»Ich habe denen da schon alles erklä rt, Herr Kö ster«, flü sterte Jupp. »Schmutzkonkurrenz. Wollen den Wagen fü r ihre eigene Werkstatt haben. «

»Schö n, Jupp. Bleibt mal vorlä ufig hier. «

Kö ster ging auf den grö ß ten der vier zu und sprach ihn an. Er erklä rte ihm, daß der Wagen uns gehö re. »Hast du irgend etwas Hartes bei dir? « fragte ich Lenz.

»Nur einen Schlü sselbund, und den brauche ich selber.

Nimm einen kleinen Englä nder. «

»Lieber nicht«, sagte ich, »das kö nnte zu schwerer Kö rperverletzung fü hren. Schade, daß ich so leichte Schuhe anhabe. Sonst wä re Treten immer noch das beste. «

»Machen Sie mit? « fragte Lenz den Schmied. »Dann sind wir vier gegen vier. «

»Ich werde mich hü ten! Damit die mir morgen die Bude einschlagen. Ich bleibe streng neutral. «

»Auch richtig«, sagte Gottfried.

»Ich mache mit«, erklä rte Jupp.

»Untersteh dich! « sagte ich. »Du paß t auf, ob jemand kommt, weiter nichts. «

Der Schmied entfernte sich ein Stü ck von uns, um seine strenge Neutralitä t noch deutlicher zu zeigen.

»Quatsch keine Opern! « hö rte ich gleich darauf den grö ß ten der Brü der Vogt Kö ster anknarren. »Wer zuerst da ist, mahlt zuerst! Fertig! Und nun schiebt ab! «

Kö ster erklä rte nochmals, daß der Wagen uns gehö re. Er bot Vogt an, ihn in das Sanatorium zu fahren, damit er sich dort erkundigen kö nne. Der grinste verä chtlich. Lenz und ich kamen nä her. »Ihr wollt wohl auch ins Krankenhaus, was? « fragte Vogt. Kö ster antwortete nicht, sondern ging an das Auto heran. Die drei andern Vogts richteten sich auf. Sie standen jetzt dicht zusammen. »Gebt mal das Abschleppseil her«, sagte Kö ster zu uns. »Mensch«, erwiderte der ä lteste Vogt. Er war einen Kopf grö ß er als Kö ster. »Tut mir leid«, sagte Kö ster, »aber wir werden den Wagen mitnehmen. « Lenz und ich schlenderten noch nä her heran, die Hä nde in den Taschen. Kö ster bü ckte sich zu dem Wagen herunter. Im gleichen Moment schleuderte Vogt ihn mit einem Tritt beiseite. Otto hatte damit gerechnet; er hatte in derselben Sekunde das Bein gefaß t und Vogt umgerissen. Dann kam er hoch und schlug dem nä chsten der Brü der, der gerade die Stange des Wagenhebers hob, vor den Magen, daß er taumelte und ebenfalls zu Boden ging. Im nä chsten Augenblick sprangen Lenz und ich auf die beiden andern zu. Ich bekam sofort einen Schlag ins Gesicht. Es war nicht schlimm, aber meine Nase fing an zu bluten, ich verfehlte den nä chsten Schlag, rutsche am fettigen Kinn des andern ab, bekam einen zweiten Hieb gegen das Auge und stü rzte so unglü cklich, daß mich der Vogt mit dem Magenschlag am Boden zu fassen kriegte. Er drü ckte mich gegen den Asphalt und umklammerte meinen Hals. Ich spannte die Muskeln an, damit er mich nicht wü rgen konnte, und versuchte, mich zu krü mmen und herumzurollen, um ihn mit den Fü ß en wegzustoß en oder ihm in den Bauch zu treten. Aber Lenz und sein Vogt waren ü ber meinen Beinen am Ringen, und ich kam nicht frei. Der Atem wurde mir schwer trotz der angespannten Halsmuskeln, weil ich durch die blutende Nase keine Luft bekam. Allmä hlich wurde alles glasig um mich her, das Gesicht Vogts zitterte vor meinen Augen wie Gallert, und ich spü rte schwarze Schatten hinter meinem Schä del. Mit dem letzten Blick sah ich Jupp plö tzlich neben mir; — er kniete im Straß engraben, verfolgte ruhig und aufmerksam mein Zucken und schlug, als in einer Sekunde der Stille alles fü r ihn parat schien, mit einem Hammer gegen Vogts Handgelenk. Beim zweiten Schlag ließ Vogt los und griff vom Boden aus wü tend nach Jupp, der einen halben Meter zurü ckrutschte und ihm in aller Ruhe einen dritten saftigen Schlag auf die Finger und dann einen auf den Kopf versetzte. Ich kam hoch, rollte mich auf Vogt und begann ihm meinerseits den Hals zuzuschnü ren. In diesem Augenblick erscholl ein tierisches Brü llen und dann ein Wimmern: »Loslassen — loslassen! «

Es war der ä lteste Vogt. Kö ster hatte ihm einen Arm umgedreht und ü ber den Rü cken hochgerissen. Vogt war mit dem Kopf voran zu Boden gegangen, und Kö ster kniete jetzt auf seinem Rü cken und drehte den Arm weiter. Gleichzeitig schob er ihn mit dem Knie nä her zum Nacken heran. Vogt heulte, aber Kö ster wuß te, daß er ihn richtig fertigmachen muß te, wenn wir Ruhe haben wollten. Er renkte ihm mit einem Ruck den Arm aus und ließ ihn erst dann los. Vogt blieb eine Weile am Boden liegen. Ich sah auf. Einer der Brü der stand noch, aber das Schreien seines Bruders hatte ihn fö rmlich gelä hmt.

»Macht euch weg, sonst geht's noch mal los«, sagte Kö ster zu ihm.

Ich schlug meinem Vogt zum Abschied noch einmal den Schä del auf die Straß e und ließ dann los. Lenz stand schon neben Kö ster. Seine Jacke war zerrissen. Er blutete aus dem Mundwinkel. Der Kampf schien unentschieden gewesen zu sein, denn sein Vogt blutete zwar auch, stand aber ebenfalls. Die Niederlage des ä ltesten Bruders hatte alles entschieden. Keiner wagte noch ein Wort. Sie halfen dem ä ltesten auf und gingen zu ihrem Wagen. Der Unverletzte kam noch einmal zurü ck und holte den Wagenheber. Er schielte Kö ster an, als wä re er der Teufel. Dann rasselte der Mercedes los.

Auf einmal war der Schmied wieder da. »Die haben genug«, sagte er. »So was ist denen lange nicht passiert. Der ä lteste hat schon wegen Totschlag gesessen. «

Niemand antwortete ihm. Kö ster schü ttelte sich plö tzlich. »Schweinerei«, sagte er. Dann drehte er sich um. »Los! «

»Bin schon da«, erwiderte Jupp und rollte den Schleppesel heran.

»Komm mal her«, sagte ich. »Ab heute bist du Unteroffizier und darfst mit Zigarrenrauchen anfangen. «

Wir bockten den Wagen auf und befestigten ihn mit dem Drahtseil hinter Karl. »Glaubst du, daß es ihm nicht schadet? « fragte ich Kö ster. »Karl ist schließ lich ein Rennpferd und kein Packesel. «

Er schü ttelte den Kopf. »Ist ja nicht weit. Und ebene Straß e. « Lenz setzte sich in den Stutz, und wir fuhren langsam los. Ich drü ckte mein Taschentuch gegen die Nase und schaute ü ber die abendlichen Felder und in die sinkende Sonne. Es war ein ungeheurer, durch nichts zu erschü tternder Friede darin, und man spü rte, daß es der Natur vö llig gleichgü ltig war, was dieses bö sartige Ameisengewimmel, Menschheit genannt, auf der Welt trieb. Es war viel wichtiger, daß die Wolken jetzt allmä hlich zu goldenen Gebirgen wurden, daß die violettfarbenen Schatten der Dä mmerung lautlos vom Horizont heranwehten, daß die Lerchen aus der grenzenlosen Weite des Himmels heimkehrten in ihre Ackerfurchen und daß es langsam Nacht wurde.

Wir fuhren auf unsern Hof ein. Lenz kletterte aus dem Stutz und nahm feierlich den Hut vor ihm ab. »Sei gegrü ß t, Gesegneter! Du kommst aus traurigem Anlaß hierher, aber uns wirst du, mit liebevollem Auge oberflä chlich geschä tzt, etwa drei- bis dreieinhalbtausend Mark einbringen. Und jetzt gebt mir ein groß es Glas Kirschwasser und ein Stü ck Seife — ich muß die Familie Vogt loswerden! «

Wir tranken alle ein Glas, dann gingen wir sofort daran, den Stutz mö glichst weit auseinanderzunehmen. Es genü gte nä mlich nicht immer, daß der Besitzer allein den Auftrag zur Reparatur gab; — oft kam nachträ glich noch die Versicherungsgesellschaft um den Wagen anderswohin, in eine ihrer Vertragswerkstä tten, zu geben. Je weiter wir deshalb kamen, um so besser war es. Die Kosten fü r die Neumontage waren dann schon so hoch, daß es billiger war, den Wagen bei uns zu lassen. Es war dunkel, als wir aufhö rten. »Fä hrst du heute abend noch Taxi? « fragte ich Lenz.

»Ausgeschlossen«, erwiderte Gottfried. »Man soll das Geldverdienen auf keinen Fall ü bertreiben. Der Stutz genü gt mir. «

»Mir nicht«, sagte ich. »Wenn du nicht fä hrst, werde ich von elf bis zwei die Nachtlokale abgrasen. «

»Laß das lieber«, schmunzelte Gottfried. »Sieh statt dessen mal in den Spiegel. Du hast in letzter Zeit Pech mit deiner Nase. Mit der Runkelrü be steigt kein Mensch bei dir ein. Geh ruhig nach Hause und leg dir Kompressen drauf. «

Er hatte recht. Es ging wirklich nicht mit meiner Nase. Ich verabschiedete mich deshalb bald und ging nach Hause. Unterwegs traf ich Hasse und ging mit ihm das letzte Stü ck zusammen. Er sah verstaubt und elend aus. »Sie sind dü nner geworden«, sagte ich.

Er nickte und erzä hlte mir, daß er abends nicht mehr richtig ä ß e. Seine Frau sei fast jeden Tag bei den Bekannten, die sie gefunden hä tte, und kä me immer erst spä t nach Hause. Er sei froh, daß sie Unterhaltung habe, aber abends hä tte er keine Lust, sich allein etwas zu essen zu machen. Er hä tte auch nicht viel Hunger; er sei viel zu mü de dazu.

Ich sah ihn von der Seite an, wä hrend er mit hä ngenden Schultern neben mir herging. Vielleicht glaubte er wirklich, was er sagte, aber es war doch jammervoll, es mit anzuhö ren. Es war nur ein biß chen Sicherheit und ein biß chen Geld, woran diese Ehe und dieses sanfte, bescheidene Leben scheiterte. Ich dachte daran, daß es Millionen solcher Menschen gab und daß es immer nur das biß chen Sicherheit und das biß chen Geld war. Das Dasein war in einer entsetzlichen Weise zusammengeschrumpft zu dem armseligen Kampf um die nackte Existenz. Ich dachte an die Prü gelei heute nachmittag, ich dachte an das, was ich in den letzten Wochen gesehen hatte, ich dachte an alles, was ich schon gemacht hatte, und dann dachte ich an Pat und hatte plö tzlich das Gefü hl, daß das nie zusammenkommen kö nnte. Der Sprung war zu groß, das Leben war zu dreckig geworden fü r das Glü ck, es konnte nicht dauern, man glaubte nicht mehr daran, es war eine Atempause, aber kein Hafen.

Wir stiegen die Treppe hinauf und schlossen die Tü r auf. Auf dem Vorplatz blieb Hasse stehen. »Also dann auf Wiedersehen... «

»Essen Sie heute mal was«, sagte ich.

Er schü ttelte den Kopf mit einem schwachen Lä cheln, als wollte er um Entschuldigung bitten, und ging in sein leeres dunkles Zimmer. Ich blickte ihm nach. Dann ging ich weiter den Schlauch des Korridors entlang. Plö tzlich hö rte ich leises Singen. Ich blieb stehen und horchte. Es war nicht Erna Bö nigs Grammophon, wie ich zuerst glaubte; es war die Stimme Pats. Sie war allein in ihrem Zimmer und sang. Ich sah nach der Tü r hinü ber, hinter der Hasse verschwunden war, ich beugte mich wieder vor und lauschte, und dann preß te ich plö tzlich die Hä nde zusammen — verflucht, mochte es tausendmal nur eine Atempause und kein Hafen sein, mochte es tausendmal zu weit auseinanderliegen, so daß man nicht daran glauben konnte — gerade weil man nicht daran glauben konnte, gerade deshalb war es immer und immer wieder bestü rzend neu und ü berwä ltigend, das Glü ck!

Pat hö rte mich nicht kommen. Sie saß auf dem Boden vor dem Spiegel und probierte an einem Hut herum, einer kleinen schwarzen Kappe. Neben ihr auf dem Teppich stand die Lampe. Das Zimmer war voll von einer warmen braungoldenen Dä mmerung, und nur ihr Gesicht war hell vom Licht bestrahlt. Sie hatte sich einen Stuhl herangerü ckt, von dem ein biß chen Seide herunterhing. Auf dem Sitz lag eine Schere und blitzte.

Ich blieb ruhig an der Tü r stehen und sah zu, wie sie ernsthaft an der Kappe arbeitete. Sie liebte es, auf dem Boden zu sitzen, und ich hatte sie manchmal schon abends eingeschlafen in irgendeiner Zimmerecke auf dem Boden gefunden, neben sich ein Buch und den Hund.

Der Hund lag auch jetzt neben ihr und begann zu knurren. Pat blickte auf und sah mich im Spiegel. Sie lä chelte, und mir schien, als ob alles in der Welt heller dadurch wü rde. Ich ging durch das Zimmer, kniete hinter ihr nieder und legte meinen Mund nach all dem Dreck des Tages auf die warme, weiche Haut des Nackens vor mir.

Sie hob die schwarze Kappe hoch. »Ich habe sie geä ndert, Liebling. Gefä llt sie dir so? «

»Es ist ein ganz herrlicher Hut«, sagte ich.

»Aber du siehst ja gar nicht hin! Ich habe hinten den Rand abgeschnitten und ihn vorn hochgeklappt. «

»Ich sehe ihn ganz genau«, sagte ich mit dem Gesicht in ihrem Haar, »es ist ein Hut, bei dem die Pariser Schneider vor Neid erbleichen wü rden, wenn sie ihn sä hen. «

»Aber Robby! « Lachend schob sie mich zurü ck. »Du hast keine Ahnung davon. Siehst du ü berhaupt manchmal, was ich anhabe? «

»Ich sehe jede Kleinigkeit«, erklä rte ich und hockte mich dicht neben sie auf den Boden, allerdings etwas in den Schatten, wegen meiner Nase.

»So? Was habe ich denn gestern abend angehabt? «

»Gestern? « Ich dachte nach. Ich wuß te es tatsä chlich nicht.

»Das habe ich erwartet, Liebling! Du weiß t ja ü berhaupt fast gar nichts von mir. «

»Stimmt«, sagte ich, »aber das ist gerade das Schö ne. Je mehr man voneinander weiß, desto mehr miß versteht man sich. Und je nä her man sich kennt, desto fremder wird man sich. Sieh mal die Familie Hasse an; — die wissen alles voneinander und sind sich mehr zuwider als die fremdesten Menschen. «

Sie setzte die kleine schwarze Kappe auf und probierte sie vor dem Spiegel. »Was du da sagst, stimmt nur halb, Robby. «

»Das ist mit allen Wahrheiten so«, erwiderte ich. »Weiter kommen wir nie. Dafü r sind wir Menschen. Und wir machen schon genug Unsinn mit unsern halben Wahrheiten. Mit den ganzen kö nnten wir ü berhaupt nicht leben. «

Sie setzte den Hut ab und legte ihn fort. Dann drehte sie sich um. Dabei erblickte sie meine Nase. »Was ist denn das? « fragte sie erschrocken.

»Nichts Schlimmes. Es sieht nur so aus. Beim Arbeiten unter dem Wagen ist mir was drauf gefallen. «

Sie sah mich unglä ubig an. »Wer weiß, wo du wieder gewesen bist! Du sagst mir ja nie etwas. Ich weiß von dir ebensowenig wie du von mir. «

»Das ist auch besser«, sagte ich.

Sie holte eine Schale mit Wasser und ein Tuch und machte mir eine Kompresse. Dann betrachtete sie mich noch einmal. »Es sieht wie ein Schlag aus. Dein Hals ist auch zerkratzt. Du wirst sicher irgendein Abenteuer gehabt haben, Liebling. «

»Mein grö ß tes Abenteuer heute kommt noch«, sagte ich.

Sie sah ü berrascht auf. »So spä t noch, Robby? Was hast du denn noch vor? «

»Ich bleibe hier! « erwiderte ich, warf die Kompresse weg und nahm sie in die Arme. »Ich bleibe den ganzen Abend hier mit dir zusammen! «

XX

 

Der August war warm und klar, und auch im September das Wetter noch fast sommerlich; — aber dann fing es Ende September an zu regnen, die Wolken hingen tagelang tief ü ber der Stadt, die Dä cher trieften, es begann zu stü rmen, und als ich an einem Sonntag frü h erwachte und ans Fenster trat, sah ich in den Bä umen auf dem Friedhof schwefelgelbe Flecken und die ersten kahlen Ä ste.

Ich blieb eine Zeitlang am Fenster stehen. Es war sonderbar gewesen in diesen Monaten, seit wir von der See zurü ckgekommen waren — ich hatte immer, in jeder Stunde, gewuß t, daß Pat im Herbst fortmuß te, aber ich hatte es gewuß t, so wie man vieles weiß: — daß die Jahre vergehen, daß man ä lter wird und daß man nicht ewig leben kann. Die Gegenwart war stä rker gewesen, sie hatte alle Gedanken stets wieder beiseite gedrä ngt, und solange Pat da war und die Bä ume noch voll im grü nen Laub gestanden hatten, waren Worte wie Herbst und Fortgehen und Abschied nie mehr gewesen als blasse Schatten am Horizont, die das Glü ck der Nä he und des Nochbeieinanderseins nur um so stä rker empfinden ließ en.

Ich sah hinaus auf den nassen, verregneten Friedhof und auf die Grabsteine, die von schmutzigem braunem Laub bedeckt waren. Wie ein bleiches Tier hatte der Nebel ü ber Nacht den grü nen Saft aus den Blä ttern der Bä ume gesogen, matt und kraftlos hingen sie an den Zweigen, jeder Windstoß, der hindurchfuhr, riß neue ab und trieb sie vor sich her — und wie einen scharfen, schneidenden Schmerz spü rte ich plö tzlich, zum erstenmal, daß die Trennung bald da war, daß sie Wirklichkeit wurde, ebenso Wirklichkeit wie der Herbst, der durch die Wipfel drauß en geschlichen war und seine gelben Spuren hinterlassen hatte.

Ich horchte zum Zimmer nebenan hinü ber. Pat schlief noch. Ich ging zur Tü r und blieb dort eine Weile stehen. Sie schlief ruhig und hustete nicht. Einen Augenblick packte mich eine jä he Hoffnung — ich stellte mir vor, daß Jaffé heute oder morgen oder in den nä chsten Tagen anrufen wü rde, um mir zu sagen, sie brauche nicht fort — aber dann dachte ich an die Nä chte, in denen ich das leise Rascheln ihres Atems gehö rt hatte, dieses regelmä ß ige, gedä mpfte Scharren, das kam und ging wie das Gerä usch einer sehr fernen, dü nnen Sä ge — und die Hoffnung erlosch ebenso rasch, wie sie aufgeflackert war.

Ich ging zum Fenster zurü ck und starrte wieder hinaus in den Regen. Dann setzte ich mich an den Schreibtisch und begann mein Geld zu zä hlen. Ich rechnete mir aus, wie lange es fü r Pat reichen kö nnte, aber mir wurde elend dabei, und ich schloß es wieder weg.

Ich sah nach der Uhr. Es war kurz vor sieben. Ich hatte noch mindestens zwei Stunden Zeit, ehe Pat aufwachte. Rasch zog ich mich an, um noch etwas hinauszufahren. Es war besser, als mit seinen Gedanken allein im Zimmer zu bleiben.

Ich ging zur Werkstatt, holte die Droschke und fuhr langsam durch die Straß en. Es waren wenig Leute unterwegs. In den Arbeitergegenden standen die langen Reihen der Mietskasernen kahl und ö de da wie alte, traurige Huren im Regen. Die Fassaden waren abgebrö ckelt und verschmutzt, die trü ben Fenster blinzelten freudlos in den Morgen, und der zerblä tternde Putz der Mauern zeigte an vielen Stellen tiefe gelbgraue Lö cher, als wä re er von Geschwü ren zerfressen.

Ich durchquerte die Altstadt und fuhr zum Dom. Vor dem kleinen Eingang ließ ich den Wagen stehen und stieg aus. Durch die schwere Eichentü r hö rte ich halblaut die Klä nge der Orgel. Es war gerade die Zeit der Morgenmesse, und ich hö rte an der Orgel, daß die Opferung soeben begonnen hatte — es muß te also noch mindestens zwanzig Minuten dauern, bevor die Messe beendet war und die Leute herauskamen.

Ich ging in den Kreuzgarten. Er lag in grauem Licht. Die Rosenbü sche trieften im Regen, aber die meisten hatten noch Blü ten. Mein Regenmantel war ziemlich weit, und ich konnte die Zweige, die ich abschnitt, gut darunter verstecken. Obschon es Sonntag war, kam niemand vorü ber, und ich brachte den ersten Armvoll Rosen ungehindert zum Wagen. Dann ging ich zurü ck, um noch einen zweiten zu holen. Als ich ihn gerade unter meinem Mantel hatte, hö rte ich jemand durch den Kreuzweg kommen. Ich klemmte den Strauß mit dem Arm fest und blieb vor einer der Rosenkranzstationen stehen, als ob ich betete.

Die Schritte kamen nä her, aber sie gingen nicht vorbei, sondern hielten an. Mir wurde etwas schwü l. Ich blickte sehr vertieft auf das Steinbild, schlug ein Kreuz und ging langsam weiter zur nä chsten Station, die etwas entfernter vom Kreuzgang war. Die Schritte folgten mir und hielten wieder an. Ich wuß te nicht, was ich machen sollte. Weitergehen konnte ich jetzt nicht gleich, ich muß te mindestens so lange ausharren, wie es dauerte, um zehn Ave Maria und ein Vaterunser zu beten; — sonst hä tte ich mich sofort verraten. Ich blieb also stehen und blickte, um festzustellen, was los war, vorsichtig, mit abweisendem Gesicht auf, als wü rde ich in der Andacht gestö rt.

Ich sah in das freundliche, runde Gesicht eines Pastors und atmete auf. Ich hielt mich schon fü r gerettet, weil ich wuß te, daß er mich beim Beten nicht unterbrechen wü rde — da bemerkte ich, daß ich unglü cklicherweise die letzte Station des Rosenkranzes erwischt hatte. Selbst wenn ich noch so langsam betete, muß te ich in ein paar Minuten fertig sein, und das war es auch, worauf er anscheinend wartete. Es hatte keinen Zweck, die Sache weiter hinzuziehen. Ich ging also langsam und unbeteiligt dem Ausgang zu.

»Guten Morgen«, sagte der Pfarrer. »Gelobt sei Jesus Christus! «

»In Ewigkeit, Amen! « erwiderte ich. Es war der kirchliche Gruß der Katholiken.

»Es ist selten, daß jemand um diese Zeit schon hier ist«, sagte er freundlich und sah mich aus hellen blauen Kinderaugen an.

Ich murmelte irgend etwas.

»Leider ist es selten geworden«, fuhr er etwas bekü mmert fort. »Besonders Mä nner sieht man kaum noch den Kreuzweg beten. Ich freue mich deshalb ü ber Sie und habe Sie darum auch angesprochen. Sie haben sicher eine besondere Bitte, daß Sie so frü h und bei diesem Wetter gekommen sind... «

Ja, daß du weitergehst, dachte ich und nickte erleichtert. Bis jetzt hatte er anscheinend nichts von den Blumen gemerkt. Jetzt galt es nur, ihn rasch loszuwerden, damit er nicht noch aufmerksam wurde.

Er lä chelte mich wieder an. »Ich bin im Begriff, meine Messe zu lesen. Da werde ich Ihre Bitte in mein Gebet mit einschließ en. «

»Danke«, sagte ich ü berrascht und verlegen.

»Ist es fü r das Seelenheil eines Verstorbenen? « fragte er.

Ich starrte ihn einen Augenblick an, und meine Blumen begannen zu rutschen. »Nein«, sagte ich dann rasch und preß te den Arm fest gegen den Mantel.

Er blickte mir mit seinen klaren Augen arglos forschend ins Gesicht. Wahrscheinlich wartete er darauf, daß ich ihm sagen wü rde, um was es sich handle. Aber mir fiel nichts Rechtes im Moment ein, und ich hatte auch etwas dagegen, ihn mehr zu belü gen, als nö tig war. Deshalb schwieg ich.

»Ich werde also um Hilfe in der Not fü r einen Unbekannten beten«, sagte er schließ lich.

»Ja«, erwiderte ich, »wenn Sie das tun wollen. Ich danke Ihnen auch sehr. «

Er wehrte lä chelnd ab. »Sie brauchen mir nicht zu danken. Wir stehen alle in Gottes Hand. « Er sah mich noch einen Augenblick an, den Kopf ein wenig schrä g vorgeneigt, und mir schien, als husche irgend etwas ü ber seine Zü ge. »Vertrauen Sie nur«, sagte er. »Der himmlische Vater hilft. Er hilft immer, auch wenn wir es manchmal nicht verstehen. « Dann nickte er mir zu und ging.



  

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