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Drei Kameraden 1 страница



Erich Maria Remarque

 

 

I

 

Der Himmel war gelb wie Messing und noch nicht verqualmt vom Rauch der Schornsteine. Hinter den Dä chern der Fabrik leuchtete er sehr stark. Die Sonne muß te gleich aufgehen. Ich sah nach der Uhr. Es war noch vor acht. Eine Viertelstunde zu frü h.

Ich schloß das Tor auf und machte die Benzinpumpe fertig. Um diese Zeit kamen immer schon ein paar Wagen vorbei, die tanken wollten. Plö tzlich hö rte ich hinter mir ein heiseres Krä chzen, das klang, als ob unter der Erde ein rostiges Gewinde hochgedreht wü rde. Ich blieb stehen und lauschte. Dann ging ich ü ber den Hof zurü ck zur Werkstatt und machte vorsichtig die Tü r auf. In dem halbdunklen Raum taumelte ein Gespenst umher. Es trug ein schmutziges weiß es Kopftuch, eine blaue Schü rze, dicke Pantoffeln, schwenkte einen Besen, wog neunzig Kilo und war die Scheuerfrau Mathilde Stoß.

Ich blieb eine Weile stehen und sah ihr zu. Sie hatte die Grazie eines Nilpferdes, wie sie da zwischen den Autokü hlern hin und her torkelte und mit dumpfer Stimme das Lied vom treuen Husaren sang. Auf dem Tisch am Fenster standen zwei Kognakflaschen. Eine davon war fast leer. Am Abend vorher war sie voll gewesen. Ich hatte vergessen, sie einzuschließ en.

»Aber Frau Stoß «, sagte ich.

Der Gesang brach ab. Der Besen fiel zu Boden. Das selige Grinsen erlosch. Jetzt war ich das Gespenst. »Jesus Christus«, stammelte Mathilde und starrte mich aus roten Augen an. »Ihnen hab' ich noch nich erwartet... «

»Kann ich verstehen. Hat's geschmeckt? «

»Das ja — aber's is mir peinlich. « Sie wischte sich ü ber den Mund. »Direkt platt bin ich... «

»Na, das ist nun eine Ü bertreibung. Sie sind nur voll. Voll wie eine Strandhaubitze. «

Sie hielt sich mü hsam aufrecht. Ihr Schnurrbart zuckte, und ihre Augenlider klapperten wie bei einem alten Uhu. Aber allmä hlich gelang es ihr, klarer zu werden. Entschlossen trat sie einen Schritt vor. »Herr Lohkamp — Mensch is nur Mensch — erst hab' ich nur dran gerochen — und dann einen Schluck genommen — weil mir im Magen doch immer so flau is — ja, und dann — dann muß mir der Satan geritten haben. Man soll ein armes Weib auch nicht in Versuchung fü hren und die Pulle stehenlassen. «

Es war nicht das erstemal, daß ich sie so traf. Sie kam jeden Morgen zwei Stunden zum Aufrä umen in die Werkstatt, und man konnte ruhig so viel Geld umherliegen lassen, wie man wollte, sie rü hrte es nicht an — aber hinter Schnaps war sie her wie die Ratte hinterm Speck.

Ich nahm die Flasche hoch. »Natü rlich, den Kognak fü r die Kunden haben Sie nicht angerü hrt — aber den guten von Herrn Kö ster haben Sie weggeputzt. «

Ein Grinsen huschte ü ber Mathildes verwitterte Zü ge. »Alles, was recht is — Kenner bin ich. Aber werden Sie mir verraten, Herr Lohkamp? Eine schutzlose Witwe? «

Ich schü ttelte den Kopf. »Heute nicht. «

Sie ließ ihre Rö cke herunter. »Dann werd' ich mir mal verdrü cken. Wenn Herr Kö ster kommt — heiliges Donnerwetter! «

Ich ging zum Schrank und schloß ihn auf. »Mathilde... «

Sie watschelte eilig heran. Ich hielt eine braune, viereckige Flasche hoch. Protestierend hob sie die Hä nde. »Das bin ich nich gewesen! Auf Ehre! Den hab' ich nich angerü hrt! «

»Weiß ich«, sagte ich und goß ein Glas voll ein. »Kennen Sie ihn denn? «

»Und ob! « Sie leckte sich die Lippen. »Rum! Steinalter Jamaika! «

»Schö n. Dann trinken Sie das Glas mal aus! «

»Ich? « Sie prallte zurü ck. »Herr Lohkamp, das ist zuviel! Das sind ja glü hende Kohlen auf mein Haupt! Die olle Stoß sä uft heimlich Ihren Kognak weg, und Sie spendieren ihr da noch einen Rum drauf. Sie sind ein Heiliger, sind Sie! Lieber tot, als so was annehmen! «

»Na? « sagte ich und tat, als ob ich das Glas zurü ckzog.

»Alsdann! « Sie griff eilig zu. »Man muß das Gute nehmen, wie es kommt. Auch wenn man's nicht versteht. Zum Wohle! Haben Sie vielleicht Geburtstag? «

»Ja, Mathilde. Gut geraten. «

»Was, wahrhaftig? « Sie umklammerte meine Hand und schü ttelte sie. »Herzlichsten Glü ckwunsch! Zaster in Fü lle! Herr Lohkamp« — sie wischte sich den Mund —, »ich bin so gerü hrt — darauf muß ich unbedingt noch einen zwitschern. Wo ich Ihnen doch gern hab' wie einen Sohn. «

»Schö n. «

Ich schenkte ihr noch ein Glas ein. Sie kippte es herunter und verließ lobpreisend die Werkstatt.

Ich packte die Flasche weg und setzte mich an den Tisch. Die blasse Sonne fiel durch das Fenster auf meine Hä nde. Merkwü rdiges Gefü hl, so ein Geburtstag, auch wenn man sich nichts draus machte. Dreiß ig Jahre — es hatte eine Zeit gegeben, da glaubte ich, nie zwanzig werden zu kö nnen, so weit weg erschien mir das. Und dann...

Ich zog einen Briefbogen aus dem Fach und fing an zu rechnen. Die Kinderzeit, die Schule — das war ein Komplex, fern, irgendwo, schon nicht mehr wahr. Das richtige Leben begann erst 1916. Da war ich gerade Rekrut geworden, dü nn, hochgeschossen, achtzehn Jahre alt, und ü bte nach dem Kommando eines schnauzbä rtigen Unteroffiziers auf den Sturzä ckern hinter der Kaserne Hinlegen und Aufstehen. An einem der ersten Abende kam meine Mutter in die Kaserne, um mich zu besuchen; aber sie muß te ü ber eine Stunde auf mich warten. Ich hatte meinen Tornister nicht vorschriftsmä ß ig gepackt gehabt und muß te deshalb in der freien Zeit zur Strafe die Latrinen scheuern. Sie wollte mir helfen, aber das durfte sie nicht. Sie weinte, und ich war so mü de, daß ich einschlief, als sie noch bei mir saß.

1917. Flandern. Middendorf und ich hatten in der Kantine eine Flasche Rotwein gekauft. Damit wollten wir feiern. Aber wir kamen nicht dazu. Frü hmorgens fing das schwere Feuer der Englä nder an. Kö ster wurde mittags verwundet. Meyer und Deters fielen nachmittags. Und abends, als wir schon glaubten, Ruhe zu haben, und die Flasche aufmachten, kam Gas und quoll in die Unterstä nde. Wir hatten zwar rechtzeitig die Masken auf, aber die von Middendorf war kaputt. Als er es merkte, war es zu spä t. Bis sie abgerissen und eine neue gefunden war, hatte er schon zuviel Gas geschluckt und brach bereits Blut. Er starb am nä chsten Morgen, grü n und schwarz im Gesicht. Sein Hals war ganz zerrissen — so hatte er mit den Nä geln versucht, ihn aufzukratzen, um Luft zu kriegen.

1918. Das war im Lazarett. Ein paar Tage vorher war ein neuer Transport angekommen. Papierverbä nde. Schwere Verletzungen. Den ganzen Tag fuhren die flachen Operationswagen herein und hinaus. Manchmal kamen sie leer wieder. Neben mir lag Josef Stoll. Er hatte keine Beine mehr, aber er wuß te es noch nicht. Es war nicht zu sehen, weil die Decke ü ber einem Drahtkorb lag. Er hä tte es auch nicht geglaubt, denn er spü rte Schmerzen in den Fü ß en. Nachts starben zwei Leute bei uns im Zimmer. Einer sehr langsam und schwer.

1919. Wieder zu Hause. Revolution. Hunger. Drauß en immerfort Maschinengewehrgeknatter. Soldaten gegen Soldaten. Kameraden gegen Kameraden.

1920. Putsch. Karl Brö ger erschossen. Kö ster und Lenz verhaftet. Meine Mutter im Krankenhaus. Krebs im letzten Stadium.

1921 — Ich dachte nach. Ich wuß te es nicht mehr. Das Jahr fehlte einfach. 1922 war ich Bahnarbeiter in Thü ringen gewesen, 1923 Reklamechef einer Gummifabrik. Das war in der Inflation. Zweihundert Billionen Mark hatte ich monatlich verdient. Zweimal am Tage gab es Geld und hinterher jedesmal eine halbe Stunde Urlaub, damit man in die Lä den rasen und etwas kaufen konnte, bevor der nä chste Dollarkurs 'rauskam — dann war das Geld nur noch die Hä lfte wert.

Und dann? Die Jahre darauf? Ich legte den Bleistift hin. Hatte keinen Zweck, das alles nachzurechnen. Ich wuß te es auch nicht mehr so genau. War zu sehr durcheinandergegangen. Meinen letzten Geburtstag hatte ich im Café International gefeiert. Da war ich ein Jahr lang Stimmungspianist gewesen. Dann hatte ich Kö ster und Lenz wiedergetroffen. Und jetzt saß ich hier in der Aurewe: Auto-Reparatur-Werkstatt Kö ster und Co. Der Co. waren Lenz und ich, aber die Werkstatt gehö rte eigentlich Kö ster allein. Er war frü her unser Schulkamerad und unser Kompaniefü hrer gewesen; dann Flugzeugfü hrer, spä ter eine Zeitlang Student, dann Rennfahrer — und schließ lich hatte er die Bude hier gekauft. Erst war Lenz, der sich einige Jahre in Sü damerika herumgetrieben hatte, dazugekommen — dann ich.

Ich nahm eine Zigarette aus der Tasche. Eigentlich konnte ich ganz zufrieden sein. Es ging mir nicht schlecht, ich hatte Arbeit, ich war krä ftig, ich wurde nicht leicht mü de, ich war heil, wie man das so nennt — aber es war doch besser, nicht allzuviel darü ber nachzudenken. Besonders nicht, wenn man allein war. Und abends auch nicht. Da kam ab und zu noch einmal etwas von frü her und starrte einen aus toten Augen an. Aber dafü r hatte man den Schnaps.

Drauß en quietschte das Tor. Ich zerriß den Zettel mit den Daten meines Lebens und warf ihn in den Papierkorb. Die Tü r flog auf. Gottfried Lenz stand im Rahmen, lang, mager, mit strohblonder Mä hne und einer Nase, die fü r einen ganz anderen Mann gepaß t hä tte. »Robby«, brü llte er, »alter Speckjä ger, steh auf und nimm die Knochen zusammen! Deine Vorgesetzten wollen mit dir reden! «

»Herrgott! « Ich stand auf. »Ich habe gehofft, ihr hä ttet nicht dran gedacht! Macht's gnä dig, Kinder! «

»Das kö nnte dir so passen! « Gottfried legte ein Paket auf den Tisch, in dem es mä chtig klirrte. Kö ster kam hinter ihm drein. Lenz baute sich vor mir auf. »Robby, was ist dir heute morgen zuerst begegnet? «

Ich dachte nach. »Ein tanzendes altes Weib. «

»Heiliger Moses! Ein schlechtes Vorzeichen! Paß t aber zu deinem Horoskop. Habe es gestern gestellt. Du bist ein Kind des Schü tzen, unzuverlä ssig, schwankend, ein Rohr im Winde, mit verdä chtigen Saturntrigonen und einem lä dierten Jupiter in diesem Jahr. Da Otto und ich Vater-und Mutterstelle an dir vertreten, ü berreiche ich dir deshalb als erstes etwas zum Schutz. Nimm dieses Amulett! Eine Nachkommin der Inkas hat es mir dereinst ü berlassen. Sie hatte blaues Blut, Plattfü ß e, Lä use und die Gabe, in die Zukunft zu schauen. ›Weiß hä utiger Fremdling‹, sagte sie zu mir, ›Kö nige haben es getragen, die Kraft der Sonne, des Mondes und der Erde ist darin, von den kleineren Planeten ganz zu schweigen — gib mir einen Silberdollar fü r Schnaps dafü r und du kannst es haben. ‹ Damit die Glü ckskette weitergeht, ü berreiche ich es dir. Es wird dich behü ten und deinen unfreundlichen Jupiter in die Flucht schlagen. «

Er hä ngte mir eine kleine schwarze Figur an einer dü nnen Kette um den Hals. »So! Das ist gegen die hö here Misere — gegen die tä gliche hier: sechs Flaschen Rum von Otto! Doppelt so alt wie du! «

Er ö ffnete das Paket und stellte die Flaschen einzeln in die Morgensonne. Sie schimmerten wie Bernstein. »Sieht wunderbar aus«, sagte ich. »Wo hast du die bloß her, Otto? «

Kö ster lachte. »War eine verwickelte Sache. Zu lang zum Erzä hlen. Aber sag mal, wie fü hlst du dich denn? Wie dreiß ig? «

Ich winkte ab. »Wie sechzehn und fü nfzig gleichzeitig. Nicht besonders. «

»Das nennst du nicht besonders? « erwiderte Lenz. »Das ist doch das hö chste, was es gibt. Du hast damit souverä n die Zeit besiegt und lebst doppelt. «

Kö ster sah mich an. »Laß ihn, Gottfried«, sagte er dann.

»Geburtstage drü cken mä chtig aufs Selbstgefü hl. Besonders frü hmorgens. Er wird sich schon wieder erholen. «

Lenz kniff die Augen zusammen. »Je weniger Selbstgefü hl ein Mensch hat, um so mehr ist er wert, Robby. Trö stet dich das ein biß chen? «

»Nein«, sagte ich, »ganz und gar nicht. Wenn der Mensch erst was wert ist, ist er nur noch sein eigenes Denkmal. Das finde ich anstrengend und langweilig. «

»Er philosophiert, Otto«, sagte Lenz, »er ist schon gerettet. Er hat den stillen Moment ü berstanden! Den stillen Geburtstagsmoment, wo man sich selbst in die Pupille blickt und entdeckt, was man fü r ein armseliges Kü ken ist. Jetzt kö nnen wir getrost an unser Tagwerk gehen und dem alten Cadillac die Eingeweide ö len —«

Wir arbeiteten, bis es dä mmerig wurde. Dann wuschen wir uns und zogen uns um. Lenz sah begehrlich zu der Flaschenreihe hinü ber. »Wollen wir einer den Hals brechen? «

»Das muß Robby entscheiden«, sagte Kö ster. »Es ist nicht fein, Gottfried, dem Beschenkten so plump mit dem Zaunpfahl zu winken. «

»Noch weniger fein ist es, die Schenker verdursten zu lassen«, erwiderte Lenz und machte eine Flasche auf.

Der Geruch verbreitete sich sofort durch die ganze Werkstatt.

»Heiliger Moses«, sagte Gottfried.

Wir schnupperten alle. »Phantastisch, Otto. Man muß schon in die hohe Poesie gehen, um da wü rdige Vergleiche zu finden. «

»Zu schade fü r die dunkle Bude hier! « entschied Lenz. »Wiß t ihr was? Wir fahren 'raus, essen irgendwo zu Abend und nehmen die Flasche mit. In Gottes freier Natur wollen wir sie aussaufen! «

»Glä nzend. «

Wir schoben den Cadillac beiseite, an dem wir nachmittags gearbeitet hatten. Hinter ihm stand ein sonderbares Ding auf Rä dern. Es war der Rennwagen Otto Kö sters, der Stolz der Werkstatt.

Kö ster hatte den Wagen, eine hochbordige, alte Kiste, seinerzeit auf einer Auktion fü r ein Butterbrot gekauft. Fachleute, die ihn damals sahen, bezeichneten ihn ohne Zö gern als interessantes Stü ck fü r ein Verkehrsmuseum. Der Konfektionä r Bollwies, Besitzer einer Damenmä ntelfabrik und Rennamateur, riet Otto, eine Nä hmaschine daraus zu machen. Aber Kö ster kü mmerte sich nicht darum. Er zerlegte den Wagen wie eine Taschenuhr und arbeitete Monate hindurch bis in die Nä chte daran herum. Eines Abends erschien er dann mit ihm vor der Bar, in der wir gewö hnlich saß en. Bollwies fiel vor Lachen fast um, als er ihn wieder erblickte, so komisch sah er immer noch aus. Um einen Witz zu machen, bot er Otto eine Wette an. Er wollte zweihundert Mark gegen zwanzig setzen, wenn Kö ster ein Rennen gegen seinen neuen Sportwagen annä hme — Strecke zehn Kilometer, ein Kilometer Vorgabe fü r Ottos Wagen. Kö ster nahm die Wette an. Alles lachte und versprach sich einen Riesenspaß. Aber Otto tat noch mehr; er lehnte die Vorgabe ab und erhö hte die Wette mit unbewegter Miene auf tausend Mark gegen tausend Mark. Bollwies fragte ihn entgeistert, ob er ihn in eine Irrenanstalt bringen solle. Kö ster ließ als Antwort nur seinen Motor an. Beide brachen daraufhin sofort auf, um die Sache auszutragen. Bollwies kam nach einer halben Stunde so verstö rt zurü ck, als hä tte er die Seeschlange gesehen. Schweigend schrieb er den Scheck aus und einen zweiten dazu. Er wollte die Maschine jetzt auf der Stelle kaufen. Aber Kö ster lachte ihn aus. Er hä tte sie fü r kein Geld der Erde mehr hergegeben. Doch so tadellos der Wagen nun innen auch war — von auß en sah er immer noch wü st aus. Wir hatten fü r den tä glichen Gebrauch eine besonders altmodische Karosserie, die gerade paß te, darauf gesetzt; der Lack war blind, die Kotflü gel hatten Risse, und das Verdeck war reichlich zehn Jahre alt. Wir hä tten das alles besser machen kö nnen — aber wir hatten einen Grund, es nicht zu tun. Der Wagen hieß Karl. Karl, das Chausseegespenst.

Karl schnob die Chaussee entlang.

»Otto«, sagte ich, »da kommt ein Opfer. «

Hinter uns hupte ungeduldig ein schwerer Buick. Er holte rasch auf. Bald lagen die Kü hler nebeneinander. Der Mann am Steuer sah lä ssig herü ber. Sein Blick streifte von oben herab den ruppigen Karl. Dann wendete er sich ab und hatte uns schon vergessen.

Ein paar Sekunden spä ter muß te er feststellen, daß Karl sich immer noch auf gleicher Hö he mit ihm befand. Er rü ckte sich etwas zurecht, blickte uns amü siert an und gab Gas. Aber Karl wankte nicht. Wie ein Terrier neben einer Dogge hielt er sich weiter klein und flink neben der strahlenden Lokomotive aus Nickel und Lack.

Der Mann faß te das Steuerrad fester. Er war vollkommen ahnungslos und verzog spö ttisch die Lippen. Man sah, daß er uns jetzt zeigen wollte, was sein Schlitten leistete. Er trat so krä ftig auf den Gashebel, daß der Auspuff zwitscherte wie ein Feld voll Lerchen im Sommer. Doch es nutzte nichts; er kam nicht vorbei. Wie verhext klebte Karl hä ß lich und unscheinbar an seiner Seite. Der Mann starrte erstaunt zu uns herunter. Er begriff nicht, daß bei einem Tempo von ü ber hundert Kilometern der altmodische Kasten unter ihm nicht abzuschü tteln war. Verwundert blickte er auf seinen Tachometer, als kö nne der nicht stimmen. Dann gab er Vollgas.

Die Wagen rasten jetzt genau nebeneinander ü ber die lange, gerade Chaussee. Nach ein paar hundert Metern kam ein Lastwagen aus der entgegengesetzten Richtung angetost. Der Buick muß te hinter uns zurü ck, um auszuweichen. Kaum war er wieder neben Karl, da fegte ein Beerdigungsauto mit wehenden Kranzschleifen heran, und er muß te abermals zurü ck. Dann wurde die Sicht frei.

Der Mann am Steuer hatte inzwischen all seinen Hochmut verloren; ä rgerlich, die Lippen zusammengepreß t, saß er vorgebeugt da — das Rennfieber hatte ihn gepackt, und plö tzlich hing die Ehre seines Lebens davon ab, um keinen Preis gegen den Klä ffer neben sich klein beizugeben.

Wir dagegen hockten scheinbar gleichgü ltig auf unseren Sitzen. Der Buick existierte fü r uns gar nicht. Kö ster blickte ruhig auf die Straß e, ich schaute gelangweilt in die Luft; und Lenz, obschon er ein Bü ndel Spannung war, zog eine Zeitung hervor und tat, als ob es nichts Wichtigeres fü r ihn gä be, als gerade jetzt zu lesen.

Ein paar Minuten spä ter blinzelte Kö ster uns zu. Karl verlor unmerklich an Tempo, und der Buick rü ckte langsam vor. Seine breiten, blinkenden Kotflü gel drü ckten sich an uns vorbei. Der Auspuff donnerte uns blauen Qualm in die Gesichter. Allmä hlich gewann er ungefä hr zwanzig Meter — da erschien auch schon das Gesicht des Besitzers im Fenster und grinste offenen Triumph. Er glaubte gewonnen zu haben.

Aber der Mann tat noch ein ü briges. Er konnte sich eine Revanche nicht verkneifen. Er winkte uns zu, doch nachzukommen. Er winkte sogar besonders nachlä ssig und siegessicher. »Otto! « sagte Lenz mahnend.

Aber er brauchte nichts zu sagen. Karl machte im selben Moment schon einen Sprung. Der Kompressor pfiff los. Und plö tzlich verschwand die winkende Hand im Fenster — denn Karl folgte der Aufforderung; er kam. Er kam sogar unaufhaltsam, er holte alles wieder auf — und nun, zum ersten Male, nahmen wir Notiz von dem fremden Wagen. Unschuldig fragend schauten wir hinauf zu dem Mann am Steuer; wir wollten gerne wissen, weshalb er uns gewinkt hatte. Doch der sah krampfhaft nach der anderen Seite, und Karl zog jetzt erst mit vollem Gas davon, starrend vor Schmutz, mit wehenden Kotflü geln, ein siegreicher Dreckfink.

»Gut gemacht, Otto«, sagte Lenz zu Kö ster. »Dem Mann wird sein Abendbrot nicht schmecken. «

Diese Jagden waren der Grund, weshalb wir Karls Karosserie nicht ä nderten. Er brauchte nur auf der Straß e zu erscheinen — sofort versuchte jemand, ihn abzuhä ngen. Auf andere Wagen wirkte er wie eine flü gellahme Krä he auf ein Rudel hungriger Katzen. Er reizte die friedlichsten Familienkutschen zum Ü berholen, und selbst die behä bigsten Vollbä rte wurden unwiderstehlich vom Rennehrgeiz gepackt, wenn sie sein klappriges Fahrgestell vor sich auf und nieder tanzen sahen. Wer konnte auch ahnen, daß in dieser lä cherlichen Gestalt das groß e Herz eines Rennmotors schlug!

Lenz behauptete, Karl wirke erzieherisch. Er lehre die Leute Ehrfurcht vor dem Schö pferischen, das immer in einer unscheinbaren Hü lle stecke. Das sagte Lenz, der von sich ebenfalls behauptete, er wä re der letzte Romantiker.

Wir hielten vor einem kleinen Gasthaus und kletterten aus dem Wagen. Der Abend war schö n und still. Die Furchen der aufgebrochenen Ä cker schimmerten violett. Die Kanten leuchteten golden und braun. Wie groß e Flamingos schwammen die Wolken am apfelgrü nen Himmel und behü teten zwischen sich die schmale Sichel des zunehmenden Mondes. Ein Haselnuß strauch hielt Dä mmerung und Ahnung in seinen Armen, rü hrend kahl und schon voll Knospenhoffnung. Aus dem kleinen Gasthaus drang der Duft gebratener Leber. Auch Zwiebeln waren dabei. Uns schwoll das Herz.

Lenz stü rzte ins Haus, dem Geruch nach. Verklä rt kam er zurü ck. »Ihr mü ß tet die Bratkartoffeln sehen! Rasch, sonst ist das Beste 'runter! «

In diesem Augenblick summte noch ein Wagen heran. Wie angenagelt blieben wir stehen. Es war der Buick. Er hielt mit scharfem Ruck neben Karl. »Hoppla! « sagte Lenz. Wir hatten schon ö fter Schlä gereien wegen ä hnlicher Sachen gehabt.

Der Mann stieg aus. Er war groß und schwer und trug einen weiten, braunen Raglan aus Kamelhaar. Miß vergnü gt schielte er nach Karl, streifte dann ein Paar dicke gelbe Handschuhe ab und kam heran.

»Is denn das fü r 'n Modell, Ihr Wagen da? « fragte er Kö ster, der ihm am nä chsten stand, mit einem Gesicht wie eine Essiggurke.

Wir sahen ihn alle drei eine Weile schweigend an. Sicherlich hielt er uns fü r Monteure im Sonntagsanzug auf einer Schwarzfahrt. »Haben Sie etwas gesagt? « fragte Otto dann schließ lich zweifelnd, um ihn zu belehren, daß er hö flicher sein kö nnte.

Der Mann wurde rot. »Ich habe nach dem Wagen da gefragt«, erklä rte er brummig im selben Ton wie vorher.

Lenz richtete sich auf. Seine groß e Nase zuckte. Er hielt auß erordentlich auf Hö flichkeit bei anderen. Aber bevor er den Mund auftun konnte, ö ffnete sich plö tzlich, wie durch eine Geisterhand, die zweite Tü r des Buick — ein schmaler Fuß glitt heraus, ein schmales Knie folgte —, dann stieg ein Mä dchen aus und schritt langsam auf uns zu.

Ü berrascht blickten wir uns an. Wir hatten vorher nicht gesehen, daß noch jemand im Wagen war. Lenz verä nderte sofort seine Haltung. Er lä chelte ü ber sein ganzes sommersprossiges Gesicht. Wir lä chelten auf einmal alle, weiß der Kuckuck, warum.

Der Dicke schaute uns verblü fft an. Er wurde unsicher und wuß te scheinbar nicht mehr, was er aus der Sache machen sollte. »Binding«, sagte er schließ lich, mit einer halben Verbeugung, als kö nne er sich an seinem Namen festhalten.

Das Mä dchen war jetzt ganz herangekommen. Wir wurden noch freundlicher. »Zeig doch mal den Wagen, Otto«, sagte Lenz mit einem raschen Blick zu Kö ster hin.

»Warum nicht«, erwiderte Otto und gab den Blick belustigt zurü ck.

»Ich wü rde ihn wirklich gern mal sehen«, sagte Binding bereits versö hnlicher. »Muß verdammt schnell sein. Hat mich ja nur so weggepustet. «

Beide gingen zum Parkplatz hinü ber, und Kö ster klappte Karls Motorhaube hoch.

Das Mä dchen ging nicht mit. Es blieb schlank und schweigend neben Lenz und mir in der Dä mmerung stehen. Ich erwartete, daß Gottfried die Gelegenheit ausnü tzen und losgehen wü rde wie eine Bombe. Er war fü r solche Situationen. Doch er schien die Sprache verloren zu haben. Sonst konnte er balzen wie ein Birkhahn — aber jetzt stand er da wie ein Karmelitermö nch auf Urlaub und rü hrte sich nicht.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich schließ lich. »Wir haben nicht gesehen, daß Sie im Wagen waren. Sonst hä tten wir den Unfug vorhin sicher nicht gemacht. «

Das Mä dchen sah mich an. »Aber warum denn nicht? « erwiderte es ruhig, mit einer ü berraschend dunklen Stimme. »So schlimm war das doch gar nicht. «

»Schlimm nicht, aber auch nicht ganz anstä ndig. Der Wagen da lä uft ungefä hr zweihundert Kilometer. «

Sie beugte sich etwas vor und steckte die Hä nde in die Taschen ihres Mantels. »Zweihundert Kilometer? «

»Genau hundertneunundachtzig Komma zwei, amtlich abgestoppt«, erklä rte Lenz, wie aus der Pistole geschossen, stolz.

Sie lachte. »Und wir dachten, ungefä hr so sechzig, siebzig. «

»Sehen Sie«, sagte ich, »das konnten Sie doch nicht wissen. «

»Nein«, erwiderte sie, »das konnten wir wirklich nicht wissen. Wir glaubten, der Buick wä re doppelt so schnell wie Ihr Wagen. «

»Ja« — ich stieß mit dem Fuß einen abgebrochenen Zweig beiseite —, »aber wir hatten einen zu groß en Vorteil. Und Herr Binding drü ben hat sich wohl auch ziemlich ü ber uns geä rgert. «

Sie lachte. »Einen Augenblick sicher. Aber man muß auch verlieren kö nnen; wie sollte man sonst leben. «

»Gewiß... «

Es entstand eine Pause. Ich blickte zu Lenz hinü ber. Doch der letzte Romantiker grinste nur, zuckte mit der Nase und ließ mich im Stich. Die Birken raschelten. Ein Huhn gackerte hinter dem Hause.

»Wunderbares Wetter«, sagte ich endlich, um das Schweigen zu unterbrechen.

»Ja, herrlich«, erwiderte das Mä dchen.

»Und so milde«, fü gte Lenz hinzu.

»Sogar ungewö hnlich milde«, ergä nzte ich.

Es entstand eine neue Pause. Das Mä dchen muß te uns fü r ziemliche Schafskö pfe halten; aber mir fiel beim besten Willen nichts mehr ein. Lenz schnupperte in die Gegend. »Geschmorte Ä pfel«, sagte er gefü hlvoll, »es scheint auch geschmorte Ä pfel zur Leber zu geben. Eine Delikatesse. «

»Ohne Zweifel«, gab ich zu und verfluchte uns beide.

Kö ster und Binding kamen zurü ck. Binding war in den paar Minuten ein ganz anderer Mann geworden. Er schien einer dieser Autonarren zu sein, die ganz selig sind, wenn sie irgendwo einen Fachmann finden, mit dem sie reden kö nnen.

»Wollen wir zusammen essen? « fragte er.

»Selbstverstä ndlich«, erwiderte Lenz.

Wir gingen hinein. Unter der Tü r blinzelte Gottfried mir zu und nickte zu dem Mä dchen hinü ber. »Du, die hebt das tanzende alte Weib von heute morgen zehnfach wieder auf... «

Ich zuckte die Achseln. »Mag sein — aber warum hast du mich dann alleine herumstottern lassen? «

Er lachte. »Muß t es doch auch mal lernen, Baby! «

»Habe gar keine Lust mehr, was zu lernen«, sagte ich.

Wir folgten den andern. Sie saß en schon am Tisch. Die Wirtin kam gerade mit der Leber und den Bratkartoffeln. Sie brachte auß erdem eine groß e Flasche Kornschnaps als Einleitung mit.

Binding erwies sich als wahrer Sturzbach von einem Redner. Es war erstaunlich, was er alles ü ber Automobile zu sagen hatte. Als er hö rte, daß Otto auch Rennen gefahren hatte, kannte seine Zuneigung ü berhaupt keine Grenzen mehr.

Ich sah ihn mir genauer an. Er war ein schwerer, groß er Mann mit dicken Augenbrauen ü ber einem roten Gesicht; etwas prahlerisch, etwas lä rmend, und wahrscheinlich gutmü tig, wie Leute, die im Leben Erfolg haben. Ich konnte mir vorstellen, daß er sich abends vor dem Schlafengehen ernst, wü rdig und achtungsvoll in einem Spiegel betrachtete.

Das Mä dchen saß zwischen Lenz und mir. Es hatte den Mantel ausgezogen und trug darunter ein graues englisches Kostü m. Um den Hals hatte es ein weiß es Tuch geknü pft, das aussah wie eine Reitkrawatte. Ihr Haar war braun und seidig und hatte im Lampenlicht einen bernsteinfarbenen Schimmer. Die Schultern waren sehr gerade, aber etwas vorgebeugt, die Hä nde schmal, ü berlang und eher etwas knochig als weich. Das Gesicht war schmal und blaß, aber die groß en Augen gaben ihm eine fast leidenschaftliche Kraft. Sie sah sehr gut aus, fand ich — aber ich dachte mir nichts weiter dabei.

Lenz dagegen war jetzt Feuer und Flamme. Er war vö llig verwandelt gegen vorhin. Sein gelber Schopf glä nzte wie die Haube eines Wiedehopfs. Er ließ ein Feuerwerk von Einfä llen los und beherrschte mit Bindung zusammen den Tisch. Ich saß nur so dabei und konnte mich wenig bemerkbar machen; hö chstens einmal eine Schü ssel reichen oder Zigaretten anbieten. Und mit Binding anstoß en. Das tat ich ziemlich oft.

Lenz schlug sich plö tzlich vor die Stirn: »Der Rum! Robby, hol mal unsern Geburtstagsrum! «

»Geburtstag? Hat denn jemand Geburtstag? « fragte das Mä dchen.

»Ich«, sagte ich. »Ich werde schon den ganzen Tag damit verfolgt. «



  

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