Хелпикс

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Fünftes Buch 4 страница



 

352.

 

Centrum. – Jenes Gefü hl: »ich bin der Mittelpunct der Welt! «tritt sehr stark auf, wenn man plö tzlich von der Schande ü berfallen wird; man steht dann da wie betä ubt inmitten einer Brandung und fü hlt sich geblendet wie von Einem grossen Auge, das von allen Seiten auf uns und durch uns blickt.

 

353.

 

Redefreiheit. – »Die Wahrheit muss gesagt werden, und wenn die Welt in Stü cke gehen sollte! «– so ruft, mit grossein Munde, der grosse Fichte! – Ja! Ja! Aber man mü sste sie auch haben! – Aber er meint, Jeder solle seine Meinung sagen, und wenn Alles drunter und drü ber gienge. Darü ber liesse sich mit ihm noch rechten.

 

354.

 

Muth zum Leiden. – So wie wir jetzt sind, kö nnen wir eine ziemliche Menge von Unlust ertragen, und unser Magen ist auf diese schwere Kost eingerichtet. Vielleicht fä nden wir ohne sie die Mahlzeit des Lebens fade: und ohne den guten Willen zum Schmerze wü rden wir allzu viele Freuden fahren lassen mü ssen!

 

355.

 

Verehrer. – Wer so verehrt, dass er den Nichtverehrenden kreuzigt, gehö rt zu den Henkern seiner Partei, – man hü tet sich, ihm die Hand zu geben, selbst wenn man auch von der Partei ist.

 

356.

 

Wirkung des Glü ckes. – Die erste Wirkung des Glü ckes ist das Gefü hl der Macht: diese will sich ä ussern, sei es gegen uns selber oder gegen andere Menschen oder gegen Vorstellungen oder gegen eingebildete Wesen. Die gewö hnlichsten Arten, sich zu ä ussern, sind: Beschenken, Verspotten, Vernichten, – alle drei mit einem gemeinsamen Grundtriebe.

 

357.

 

Moralische Stechfliegen. – Jene Moralisten, denen die Liebe zur Erkenntniss abgeht und welche nur den Genuss des Wehethuns kennen – haben den Geist und die Langeweile von Kleinstä dtern; ihr ebenso grausames, als jä mmerliches Vergnü gen ist, dem Nachbar auf die Finger zu sehen und unvermerkt eine Nadel so zu stecken, dass er sich daran sticht. In ihnen ist die Unart kleiner Knaben rü ckstä ndig, welche nicht munter sein kö nnen ohne etwas Jagd und Misshandlung von Lebendigem und Todtem.

 

358.

 

Grü nde und ihre Grundlosigkeit. – Du hast eine Abneigung gegen ihn und bringst auch reichliche Grü nde fü r diese Abneigung vor, – ich glaube aber nur deiner Abneigung, und nicht deinen Grü nden! Es ist eine Schö nthuerei vor dir selber, Das, was instinctiv geschieht, dir und mir wie einen Vernunftschluss vorzufü hren.

 

359.

 

Etwas gut heissen. – Man heisst die Ehe gut, erstens weil man sie noch nicht kennt, zweitens weil man sich an sie gewö hnt hat, drittens weil man sie geschlossen hat, – das heisst fast in allen Fä llen. Und doch ist damit Nichts fü r die Gü te der Ehe ü berhaupt bewiesen.

 

360.

 

Keine Utilitarier. – »Die Macht, der viel Bö ses angethan und angedacht wird, ist mehr werth, als die Ohnmacht, der nur Gutes widerfä hrt«, – so empfanden die Griechen. Das heisst: das Gefü hl der Macht wurde von ihnen hö her geschä tzt, als irgend ein Nutzen oder guter Ruf.

 

361.

 

Hä sslich scheinen. – Die Mä ssigkeit sieht sich selber als schö n; sie ist unschuldig daran, dass sie im Auge des Unmä ssigen rauh und nü chtern, folglich als hä sslich erscheint.

 

362.

 

Verschieden im Hasse. – Manche hassen erst, wenn sie sich schwach und mü de fü hlen: sonst sind sie billig und ü bersehend. Andre hassen erst, wenn sie die Mö glichkeit der Rache sehen: sonst hü ten sie sich vor allem heimlichen und lauten Zorn, und denken, wenn es Anlä sse dazu giebt, daran vorbei.

 

363.

 

Menschen des Zufalls. – Das Wesentliche an jeder Erfindung thut der Zufall, aber den meisten Menschen begegnet dieser Zufall nicht.

 

364.

 

Wahl der Umgebung. – Man hü te sich, in einer Umgebung zu leben, vor der man weder wü rdig schweigen, noch sein Hö heres mitzutheilen vermag, sodass unsere Klagen und Bedü rfnisse und die ganze Geschichte unserer Nothstä nde zur Mittheilung ü brig bleiben. Dabei wird man mit sich unzufrieden, und unzufrieden mit dieser Umgebung, ja, nimmt den Verdruss, sich immer als Klagenden zu empfinden, noch zu dem Nothstande hinzu, der uns klagen macht. Sondern dort soll man leben, wo man sich schä mt, von sich zu reden, und es nicht nö thig hat. – Aber wer denkt an solche Dinge, an eine Wahl in solchen Dingen! Man redet von seinem» Verhä ngniss«, stellt sich mit breitem Rü cken hin und seufzt» ich unglü ckseliger Atlas! »

 

365.

 

Eitelkeit. – Die Eitelkeit ist die Furcht, original zu erscheinen, also ein Mangel an Stolz, aber nicht nothwendig ein Mangel an Originalitä t.

 

366.

 

VerbrecherKummer. – Man leidet als entdeckter Verbrecher nicht am Verbrechen, sondern an der Schande oder am Verdruss ü ber eine gemachte Dummheit oder an der Entbehrung des gewohnten Elementes, und es bedarf einer Feinheit, die selten ist, hierin zu unterscheiden. Jeder, der viel in Gefä ngnissen und Zuchthä usern verkehrt hat, ist erstaunt, wie selten daselbst ein unzweideutiger» Gewissensbiss «anzutreffen ist: um so mehr aber das Heimweh nach dem alten bö sen geliebten Verbrechen.

 

367.

 

Immer glü cklich seinen. – Als die Philosophie Sache des ö ffentlichen Wetteifers war, im Griechenland des dritten Jahrhunderts, gab es nicht wenige Philosophen, welche glü cklich durch den Hintergedanken wurden, dass Andere, die nach anderen Principien lebten und sich dabei quä lten, an ihrem Glü cke Ä rger haben mü ssten: sie glaubten, mit ihrem Glü cke jene am besten zu widerlegen, und dazu genü gte es ihnen, immer glü cklich zu scheinen: aber dabei mü ssten sie auf die Dauer glü cklich werden! Diess war zum Beispiel das Loos der Cyniker.

 

368.

 

Grund vieler Verkennung. – Die Moralitä t der zunehmenden Nervenkraft ist freudig und unruhig; die Moralitä t der abnehmenden Nervenkraft, am Abende oder bei Kranken und alten Leuten, ist leidend, beruhigend, abwartend, wehmü thig, ja nicht selten dü ster. Je nachdem man von dieser oder jener hat, versteht man die uns fehlende nicht, und dem Andern legt man sie oft als Unsittlichkeit und Schwä che aus.

 

369.

 

Sich ü ber seine Erbä rmlichkeit zu heben. – Das sind mir stolze Gesellen, die, um das Gefü hl ihrer Wü rde und Wichtigkeit herzustellen, immer erst Andere brauchen, die sie anherrschen und vergewaltigen kö nnen: Solche nä mlich, deren Ohnmacht und Feigheit es erlaubt, dass Einer vor ihnen ungestraft erhabene und zornige Gebä rden machen kann! – sodass sie die Erbä rmlichkeit ihrer Umgebung nö thig haben, um sich auf einen Augenblick ü ber die eigene Erbä rmlichkeit zu heben! – Dazu hat Mancher einen Hund, ein Andrer einen Freund, ein Dritter eine Frau, ein Vierter eine Partei und ein sehr Seltener ein ganzes Zeitalter nö thig.

 

370.

 

Inwiefern der Denker seinen Feind liebt. – Nie Etwas zurü ckhalten oder dir verschweigen, was gegen deinen Gedanken gedacht werden kann! Gelobe es dir! Es gehö rt zur ersten Redlichkeit des Denkens. Du musst jeden Tag auch deinen Feldzug gegen dich selber fü hren. Ein Sieg und eine eroberte Schanze sind nicht mehr deine Angelegenheit, sondern die der Wahrheit, – aber auch deine Niederlage ist nicht mehr deine Angelegenheit!

 

371.

 

Das Bö se der Stä rke. – Die Gewaltthä tigkeit als Folge der Leidenschaft, zum Beispiel des Zornes, ist physiologisch als ein Versuch zu verstehen, einem drohenden Erstickungsanfall vorzubeugen. Zahllose Handlungen des Ü bermuths, der sich an anderen Personen auslä sst, sind Ableitungen eines plö tzlichen Blutandranges durch eine starke Muskel‑ Action gewesen: und vielleicht gehö rt das ganze» Bö se der Stä rke «unter diesen Gesichtspunct. (Das Bö se der Stä rke thut dem Andern wehe, ohne daran zu denken, – es muss sich auslassen; das Bö se der Schwä che will wehe thun und die Zeichen des Leidens sehen. )

 

372.

 

Zur Ehre der Kenner. – Sobald Einer, ohne Kenner zu sein, doch den Urtheiler Spielt, soll man sofort protestiren: ob es nun Mä nnlein oder Weiblein sei. Schwä rmerei und Entzü cken fü r ein Ding oder einen Menschen sind keine Argumente: Widerwillen und Hass gegen sie auch nicht.

 

373.

 

Verrä therischer Tadel. – »Er kennt die Menschen nicht«– das heisst im Munde des Einen: »er kennt die Gemeinheit nicht«, im Munde des Andern: »er kennt die Ungewö hnlichkeit nicht und die Gemeinheit zu gut«.

 

374.

 

Werth des Opfers. – Je mehr man den Staaten und Fü rsten das Recht aberkennt, die Einzelnen zu opfern (wie bei der Rechtspflege, der Heeresfolge u. s. w. ), um so hö her wird der Werth der Selbst‑ Opferung steigen.

 

375.

 

Zu deutlich reden. – Man kann aus verschiedenen Grü nden zu deutlich articulirt sprechen: einmal, aus Misstrauen gegen sich, in einer neuen ungeü bten Sprache, sodann aber auch aus Misstrauen gegen die Anderen, wegen ihrer Dummheit oder Langsamkeit des Verstä ndnisses. Und so auch im Geistigsten: unsere Mittheilung ist mitunter zu deutlich, zu peinlich, weil Die, welchen wir uns mittheilen, uns sonst nicht verstehen. Folglich ist der vollkommne und leichte Stil nur vor einer vollkommenen Zuhö rerschaft erlaubt.

 

376.

 

Viel schlafen. – Was thun, um sich anzuregen, wenn man mü de und seiner selbst satt ist? Der Eine empfiehlt die Spielbank, der Andere das Christenthum, der Dritte die Electricitä t. Das Beste aber, mein lieber Melancholiker, ist und bleibt: viel schlafen, eigentlich und uneigentlich! So wird man auch seinen Morgen wieder haben! Das Kunststü ck der Lebensweisheit ist, den Schlaf jeder Art zur rechten Zeit einzuschieben wissen.

 

377.

 

Worauf phantastische Ideale rathen lassen. – Dort, wo unsere Mä ngel liegen, ergeht sich unsere Schwä rmerei. Den schwä rmerischen Satz» liebet eure Feinde! «haben Juden erfinden mü ssen, die besten Hasser, die es gegeben hat, und die schö nste Verherrlichung der Keuschheit ist von Solchen gedichtet worden, die in ihrer Jugend wü st und abscheulich gelebt haben.

 

378.

 

Reine Hand und reine Wand. – Man soll weder Gott noch den Teufel an die Wand malen. Man verdirbt damit seine Wand und seine Nachbarschaft.

 

379.

 

Wahrscheinlich und unwahrscheinlich. – Eine Frau liebte heimlich einen Mann, hob ihn hoch ü ber sich und sagte sich im Geheimsten hundert Male: »wenn mich ein solcher Mann liebte, so wä re diess wie eine Gnade, vor der ich im Staube liegen mü sste! «– Und dem Manne gieng es ganz ebenso, und gerade in Bezug auf diese Frau, und er sagte sich im Geheimsten auch gerade diesen Gedanken. Als endlich einmal Beiden die Zunge sich gelö st hatte und sie alles das Verschwiegene und Verschwiegenste des Herzens einander sagten, entstand schliesslich ein Stillschweigen und einige Besinnung. Darauf hob die Frau an, mit erkä lteter Stimme: »aber es ist ja ganz klar! wir sind Beide nicht Das, was wir geliebt haben! Wenn du Das bist, was du sagst und nicht mehr, so habe ich mich umsonst erniedrigt und dich geliebt; der Dä mon verfü hrte mich so wie dich. «– Diese sehr wahrscheinliche Geschichte kommt nie vor, – wesshalb?

 

380.

 

Erprobter Rath. – Von allen Trostmitteln thut Trostbedü rftigen Nichts so wohl, als die Behauptung, fü r ihren Fall gebe es keinen Trost. Darin liegt eine solche Auszeichnung, dass sie wieder den Kopf erheben.

 

381.

 

Seine» Einzelheit «kennen. – Wir vergessen zu leicht, dass wir im Auge fremder Menschen, die uns zum ersten Male sehen, etwas ganz Anderes sind, als Das, wofü r wir uns selber halten: meistens Nichts mehr, als eine in die Augen springende Einzelheit, welche den Eindruck bestimmt. So kann der sanftmü thigste und billigste Mensch, wenn er nur einen grossen Schnurrbart hat, gleichsam im Schatten desselben sitzen, und ruhig sitzen, – die gewö hnlichen Augen sehen in ihm den Zubehö r zu einem grossen Schnurrbart, will sagen: einen militä rischen, leicht aufbrausenden, unter Umstä nden gewaltsamen Charakter – und benehmen sich darnach vor ihm.

 

382.

 

Gä rtner und Garten. – Aus feuchten trü ben Tagen, Einsamkeit, lieblosen Worten an uns, wachsen Schlü sse auf wie Pilze: sie sind eines Morgens da, wir wissen nicht woher, und sehen sich grau und griesgrä mig nach uns um. Wehe dem Denker, der nicht der Gä rtner, sondern nur der Boden seiner Gewä chse ist!

 

383.

 

Die Komö die des Mitleidens. – Wir mö gen noch so sehr an einem Unglü cklichen Antheil nehmen: in seiner Gegenwart spielen wir immer etwas Komö die, wir sagen Vieles nicht, was wir denken und wie wir es denken, mit jener Behutsamkeit des Arztes am Bette von Schwerkranken.

 

384.

 

Wunderliche Heilige. – Es giebt Kleinmü thige, welche von ihrem besten Werke und Wirken Nichts halten und es schlecht zur Mittheilung oder zum Vortrage bringen: aber aus einer Art Rache halten sie auch Nichts von der Sympathie Anderer oder glauben gar nicht an Sympathie; sie schä men sich, von sich selber hingerissen zu erscheinen und fü hlen ein trotziges Wohlbehagen darin, lä cherlich zu werden. – Diess sind Zustä nde aus der Seele melancholischer Kü nstler.

 

385.

 

Die Eiteln. – Wir sind wie Schaulä den, in denen wir selber unsere angeblichen Eigenschaften, welche Andere uns zusprechen, fortwä hrend anordnen, verdecken oder in's Licht stellen, – um uns zu betrü gen.

 

386.

 

Die Pathetischen und die Naiven. – Es kann eine sehr unedle Gewohnheit sein, keine Gelegenheit vorbei zu lassen, wo man sich pathetisch zeigen kann: um jenes Genusses willen, sich den Zuschauer dabei zu denken, der sich an die Brust schlä gt und sich selber jä mmerlich und klein fü hlt. Es kann folglich auch ein Zeichen des Edelsinns sein, mit pathetischen Lagen Spott zu treiben und in ihnen sich unwü rdig zu benehmen. Der alte kriegerische Adel Frankreich's hatte diese Art Vornehmheit und Feinheit.

 

387.

 

Probe einer Ü berlegung vor der Ehe. – Gesetzt, sie liebte mich, wie lä stig wü rde sie mir auf die Dauer werden! Und gesetzt, sie liebte mich nicht, wie lä stig wü rde sie erst da mir auf die Dauer werden! – Es handelt sich nur um zwei verschiedene Arten des Lä stigen: – heirathen wir also!

 

388.

 

Die Schurkerei mit gutem Gewissen. – Im kleinen Handel ü bervortheilt zu werden, – das ist in manchen Gegenden, zum Beispiel in Tyrol, so unangenehm, weil man das bö se Gesicht und die grobe Begierde darin, nebst dem schlechten Gewissen und der plumpen Feindseligkeit, welche im betrü gerischen Verkä ufer gegen uns entsteht, noch obendrein in den schlechten Kauf bekommt. In Venedig dagegen ist der Prellende von Herzen ü ber das gelungene Schelmenstü ck vergnü gt und gar nicht feindselig gegen den Geprellten gestimmt, ja geneigt, ihm eine Artigkeit zu erweisen und namentlich mit ihm zu lachen, falls er dazu Lust haben sollte. – Kurz, man muss zur Schurkerei auch den Geist und das gute Gewissen haben: das versö hnt den Betrogenen beinahe mit dem Betruge.

 

389.

 

Etwas zu schwer. – Sehr brave Leute, die aber etwas zu schwer sind, um hö flich und liebenswü rdig zu sein, suchen eine Artigkeit sofort mit einer ernsthaften Dienstleistung oder mit einem Beitrag aus ihrer Kraft zu beantworten. Es ist rü hrend anzusehen, wie sie ihre Goldstü cke schü chtern heranbringen, wenn ein Anderer ihnen seine vergoldeten Pfennige geboten hat.

 

390.

 

Geist verbergen. – Wenn wir Jemanden dabei ertappen, dass er seinen Geist vor uns verbirgt, so nennen wir ihn bö se: und zwar um so mehr, wenn wir argwö hnen, dass Artigkeit und Menschenfreundlichkeit ihn dazu getrieben haben.

 

391.

 

Der bö se Augenblick. – Lebhafte Naturen lü gen nur einen Augenblick: nachher haben sie sich selber belogen und sind ü berzeugt und rechtschaffen.

 

392.

 

Bedingung der Hö flichkeit. – Die Hö flichkeit ist eine sehr gute Sache und wirklich eine der vier Haupttugenden (wenn auch die letzte): aber damit wir uns einander nicht mit ihr lä stig werden, muss Der, mit dem ich gerade zu thun habe, um einen Grad weniger oder mehr hö flich sein, als ich es bin, – sonst kommen wir nicht von der Stelle, und die Salbe salbt nicht nur, sondern klebt uns fest.

 

393.

 

Gefä hrliche Tugenden. – »Er vergisst Nichts, aber er vergiebt Alles. «– Dann wird er doppelt gehasst, denn er beschä mt doppelt, mit seinem Gedä chtniss und mit seiner Grossmuth.

 

394.

 

Ohne Eitelkeit. – Leidenschaftliche Menschen denken wenig an Das, was die Anderen denken, ihr Zustand erhebt sie ü ber die Eitelkeit.

 

395.

 

Die Contemplation. – Bei dem einen Denker folgt der dem Denker eigene beschauliche Zustand immer auf den Zustand der Furcht, bei einem andern immer auf den Zustand der Begierde. Dem ersten scheint demnach die Beschaulichkeit mit dem Gefü hl der Sicherheit verbunden, dem andern mit dem Gefü hl der Sä ttigung – das heisst: jener ist dabei muthig, dieser ü berdrü ssig und neutral gestimmt.

 

396.

 

Auf der Jagd. – Jener ist auf der Jagd, angenehme Wahrheiten zu haschen, dieser – unangenehme. Aber auch der Erstere hat mehr Vergnü gen an der Jagd, als an der Beute.

 

397.

 

Erziehung. – Die Erziehung ist eine Fortsetzung der Zeugung und oft eine Art nachträ glicher Beschö nigung derselben.

 

398.

 

Woran der Hitzigere zu erkennen ist. – Von zwei Personen, die mit einander kä mpfen oder sich lieben oder sich bewundern, ü bernimmt die, welche die hitzigere ist, immer die unbequemere Stellung. Das Selbe gilt auch von zwei Vö lkern.

 

399.

 

Sich vertheidigen. – Manche Menschen haben das beste Recht, so und so zu handeln; aber wenn sie sich darob vertheidigen, glaubt man's nicht mehr – und irrt sich.

 

400.

 

Moralische Verzä rtelung. – Es giebt zart moralische Naturen, welche bei jedem Erfolge Beschä mung und bei jedem Misserfolge Gewissensbisse haben.

 

401.

 

Gefä hrlichstes Verlernen. – Man fä ngt damit an, zu verlernen, Andere zu lieben und hö rt damit auf, an sich nichts Liebenswerthes mehr zu finden.

 

402.

 

Auch eine Toleranz. – »Eine Minute zu lange auf glü henden Kohlen gelegen haben und ein Wenig dabei anzubrennen, – das schadet noch Nichts, bei Menschen und Kastanien! Diese kleine Bitterkeit und Hä rte lä sst erst recht schmecken, wie sü ss und milde der Kern ist. «– Ja! So urtheilt ihr Geniessenden! Ihr sublimen Menschenfresser!

 

403.

 

Verschiedener Stolz. – Die Frauen sind es, welche bei der Vorstellung erbleichen, ihr Geliebter mö chte ihrer nicht werth sein; die Mä nner sind es, welche bei der Vorstellung erbleichen, sie mö chten ihrer Geliebten nicht werth sein. Es ist hier von ganzen Frauen, ganzen Mä nnern die Rede. Solche Mä nner, als die Menschen der Zuversichtlichkeit und des Machtgefü hls fü r gewö hnlich, haben im Zustande der Passion ihre Verschä mtheit, ihren Zweifel an sich; solche Frauen aber fü hlen sich sonst immer als die Schwachen, zur Hingebung Bereiten, aber in der hohen Ausnahme der Passion haben sie ihren Stolz und ihr Machtgefü hl, – als welches frä gt: wer ist meiner wü rdig?

 

404.

 

Wem man selten gerecht wird. – Mancher kann sich nicht fü r etwas Gutes und Grosses erwä rmen, ohne schweres Unrecht nach irgend einer Seite hin zu thun: diess ist seine Art Moralitä t.

 

405.

 

Luxus. – Der Hang zum Luxus geht in die Tiefe eines Menschen: er verrä th, dass das Ü berflü ssige und Unmä ssige das Wasser ist, in dem seine Seele am liebsten schwimmt.

 

406.

 

Unsterblich machen. – Wer seinen Gegner tö dten will, mag erwä gen, ob er ihn nicht gerade dadurch bei sich verewigt.

 

407.

 

Wider unsern Charakter. – Geht die Wahrheit, die wir zu sagen haben, wider unsern Charakter – wie es oft vorkommt –, so benehmen wir uns dabei, als ob wir schlecht lö gen und erregen Misstrauen.

 

408.

 

Wo viel Milde noth thut. – Manche Naturen haben nur die Wahl, entweder ö ffentliche Ü belthä ter oder geheime Leidträ ger zu sein.

 

409.

 

Krankheit. – Unter Krankheit ist zu verstehen: eine unzeitige Annä herung des Alters, der Hä sslichkeit und der pessimistischen Urtheile: welche Dinge zu einander gehö ren.

 

410.

 

Die Ä ngstlichen. – Gerade die ungeschickten ä ngstlichen Wesen werden leicht zu Todtschlä gern: sie verstehen die kleine zweckentsprechende Vertheidigung oder Rache nicht, ihr Hass weiss aus Mangel an Geist und Geistesgegenwart keinen andern Ausweg, als die Vernichtung.

 

411.

 

Ohne Hass. – Du willst von deiner Leidenschaft Abschied nehmen? Thue es, aber ohne Hass gegen sie! Sonst hast du eine zweite Leidenschaft. – Die Seele der Christen, die sich von der Sü nde freigemacht hat, wird gewö hnlich hinterher durch den Hass gegen die Sü nde ruinirt. Sieh die Gesichter der grossen Christen an! Es sind die Gesichter von grossen Hassern.

 

412.

 

Geistreich und beschrä nkt. – Er versteht Nichts zu schä tzen, ausser sich; und wenn er Andere schä tzen will, so muss er sie immer erst in sich verwandeln. Darin aber ist er geistreich.

 

413.

 

Die privaten und ö ffentlichen Anklä ger. – Sieh dir Jeden genau an, der anklagt und inquirirt, – er enthü llt dabei seinen Charakter: und zwar nicht selten einen schlechteren Charakter, als das Opfer hat, hinter dessen Verbrechen er her ist. Der Anklagende meint in aller Unschuld, der Gegner eines Frevels und eines Frevlers mü sse schon an sich von gutem Charakter sein oder als gut gelten, – und so lä sst er sich gehen, das heisst: er lä sst sich heraus.

 

414.

 

Die freiwillig Blinden. – Es giebt eine Art schwä rmerischer, bis zum Ä ussersten gehender Hingebung an eine Person oder Partei, die verrä th, dass wir im Geheimen uns ihr ü berlegen fü hlen und darü ber mit uns grollen. Wir blenden uns gleichsam freiwillig zur Strafe dafü r, dass unser Auge zu viel gesehen hat.

 

415.

 

Remedium amoris. – Immer noch hilft gegen die Liebe in den meisten Fä llen jenes alte Radicalmittel: die Gegenliebe.

 

416.

 

Wo ist der schlimmste Feind? – Wer seine Sache gut fü hren kann und sich dessen bewusst ist, ist gegen seinen Widersacher meist versö hnlich gestimmt. Aber zu glauben, dass man die gute Sache fü r sich habe, und zu wissen, dass man nicht geschickt ist, sie zu vertheidigen, – das macht einen ingrimmigen und unversö hnlichen Hass auf den Gegner der eignen Sache. – Mö ge jeder darnach berechnen, wo seine schlimmsten Feinde zu suchen sind!

 

417.

 

Grä nze aller Demuth. – Zu der Demuth, welche spricht: credo quia absurdum est, und ihre Vernunft zum Opfer anbietet, brachte es wohl schon Mancher: aber Keiner, so viel ich weiss, bis zu jener Demuth, die doch nur einen Schritt davon entfernt ist und welche spricht: credo quia absurdus sum.

 

418.

 

Wahrspielerei. – Mancher ist wahrhaftig, – nicht weil er es verabscheut, Empfindungen zu heucheln, sondern weil es ihm schlecht gelingen wü rde, seiner Heuchelei Glauben zu verschaffen. Kurz, er traut seinem Talent als Schauspieler nicht und zieht die Redlichkeit vor, die» Wahrspielerei«.

 

419.

 

Muth in der Partei. – Die armen Schafe sagen zu ihrem Zugfü hrer: »gehe nur immer voran, so wird es uns nie an Muth fehlen, dir zu folgen. «Der arme Zugfü hrer aber denkt bei sich: »folgt mir nur immer nach, so wird es mir nie an Muth fehlen, euch zu fü hren. »

 

420.

 

Verschlagenheit des Opferthiers. – Es ist eine traurige Verschlagenheit, wenn man sich ü ber Jemanden tä uschen will, dem man sich geopfert hat, und ihm Gelegenheit bietet, wo er uns so erscheinen muss, wie wir wü nschen, dass er wä re.

 

421.

 

Durch Andre hindurch. – Es giebt Menschen, die gar nicht anders gesehen werden wollen, als durch Andre hindurchschimmernd. Und daran ist viel Klugheit.

 

422.

 

Andern Freude machen. – Warum geht Freude machen ü ber alle Freuden? – Weil man damit seinen fü nfzig eignen Trieben auf Einmal eine Freude macht. Es mö gen das einzeln sehr kleine Freuden sein: aber thut man sie alle in Eine Hand, so hat man die Hand voller, als jemals sonst, – und das Herz auch! –

 

Fü nftes Buch

 

 

423.

 

Im grossen Schweigen. – Hier ist das Meer, hier kö nnen wir der Stadt vergessen. Zwar lä rmen eben jetzt noch ihre Glocken das Ave Maria – es ist jener dü stere und thö richte, aber sü sse Lä rm am Kreuzwege von Tag und Nacht –, aber nur noch einen Augenblick! Jetzt schweigt Alles! Das Meer liegt bleich und glä nzend da, es kann nicht reden. Der Himmel spielt sein ewiges stummes Abendspiel mit rothen, gelben, grü nen Farben, er kann nicht reden. Die kleinen Klippen und Felsenbä nder, welche in's Meer hineinlaufen, wie um den Ort zu finden, wo es am einsamsten ist, sie kö nnen alle nicht reden. Diese ungeheure Stummheit, die uns plö tzlich ü berfä llt, ist schö n und grausenhaft, das Herz schwillt dabei. – Oh der Gleissnerei dieser stummen Schö nheit! Wie gut kö nnte sie reden, und wie bö se auch, wenn sie wollte! Ihre gebundene Zunge und ihr leidendes Glü ck im Antlitz ist eine Tü cke, um ü ber dein Mitgefü hl zu spotten! – Sei es drum! Ich schä me mich dessen nicht, der Spott solcher Mä chte zu sein. Aber ich bemitleide dich, Natur, weil du schweigen musst, auch wenn es nur deine Bosheit ist, die dir die Zunge bindet: ja, ich bemitleide dich um deiner Bosheit willen! – Ach, es wird noch stiller, und noch einmal schwillt mir das Herz: es erschrickt vor einer neuen Wahrheit, es kann auch nicht reden, es spottet selber mit, wenn der Mund Etwas in diese Schö nheit hinausruft, es geniesst selber seine sü sse Bosheit des Schweigens. Das Sprechen, ja das Denken wird mir verhasst: hö re ich denn nicht hinter jedem Worte den Irrthum, die Einbildung, den Wahngeist lachen? Muss ich nicht meines Mitleidens spotten? Meines Spottes spotten? – Oh Meer! Oh Abend! Ihr seid schlimme Lehrmeister! Ihr lehrt den Menschen aufhö ren, Mensch zu sein! Soll er sich euch hingeben? Soll er werden, wie ihr es jetzt seid, bleich, glä nzend, stumm, ungeheuer, ü ber sich selber ruhend? ü ber sich selber erhaben?

 

424.

 

Fü r wen die Wahrheit da ist. – Bis jetzt sind die Irrthü mer die trostreichen Mä chte gewesen: nun erwartet man von den erkannten Wahrheiten die selbe Wirkung und wartet ein Wenig lange schon. Wie, wenn die Wahrheiten gerade diess – zu trö sten – nicht zu leisten vermö chten? – Wä re diess denn ein Einwand gegen die Wahrheiten? Was haben diese mit den Zustä nden leidender, verkü mmerter, kranker Menschen gemeinsam, dass sie gerade ihnen nü tzlich sein mü ssten? Es ist doch kein Beweis gegen die Wahrheit einer Pflanze, wenn festgestellt wird, dass sie zur Genesung kranker Menschen Nichts beiträ gt. Aber ehemals war man bis zu dem Grade vom Menschen als dem Zwecke der Natur ü berzeugt, dass man ohne Weiteres annahm, es kö nne auch durch die Erkenntniss Nichts aufgedeckt werden, was nicht dem Menschen heilsam und nü tzlich sei, ja, es kö nne, es dü rfe gar keine anderen Dinge geben. – Vielleicht folgt aus alledem der Satz, dass die Wahrheit als Ganzes und Zusammenhä ngendes nur fü r die zugleich mä chtigen und harmlosen, freud‑ und friedenvollen Seelen (wie es die des Aristoteles war) da ist, ebenso wie diese wohl auch nur im Stande sein werden, sie zu suchen: denn die anderen suchen Heilmittel fü r sich, mö gen sie noch so stolz ü ber ihren Intellect und dessen Freiheit denken, – sie suchen nicht die Wahrheit. Daher kommt es, dass diese Anderen so wenig ä chte Freude an der Wissenschaft haben und ihr Kä lte, Trockenheit und Unmenschlichkeit zum Vorwurf machen: es ist diess das Urtheil der Kranken ü ber die Spiele der Gesunden. – Auch die griechischen Gö tter verstanden nicht zu trö sten; als endlich auch die griechischen Menschen allesammt krank wurden, war diess ein Grund zum Untergang solcher Gö tter.

 

425.

 

Wir Gö tter in der Verbannung! – Durch Irrthü mer ü ber ihre Herkunft, ihre Einzigkeit, ihre Bestimmung, und durch Anforderungen, die auf Grund dieser Irrthü mer gestellt wurden, hat sich die Menschheit hoch gehoben und sich immer wieder» selber ü bertroffen«: aber durch die selben Irrthü mer ist unsä glich viel Leiden, gegenseitige Verfolgung, Verdä chtigung, Verkennung, und noch mehr Elend des Einzelnen in sich und an sich in die Welt gekommen. Die Menschen sind leidende Geschö pfe geworden, in Folge ihrer Moralen: was sie damit eingekauft haben, das ist, Alles in Allem, ein Gefü hl, als ob sie im Grunde zu gut und zu bedeutend fü r die Erde wä ren und nur vorü bergehend sich auf ihr aufhielten. »Der leidende Hochmü thige «ist einstweilen immer noch der hö chste Typus des Menschen.

 

426.

 

Farbenblindheit der Denker. – Wie anders sahen die Griechen in ihre Natur, wenn ihnen, wie man sich eingestehen muss, das Auge fü r Blau und Grü n blind war, und sie statt des ersteren ein tieferes Braun, statt des zweiten ein Gelb sahen (wenn sie also mit gleichem Worte zum Beispiel die Farbe des dunkelen Haares, die der Kornblume und die des sü dlä ndischen Meeres bezeichneten, und wiederum mit gleichem Worte die Farbe der grü nsten Gewä chse und der menschlichen Haut, des Honigs und der gelben Harze: sodass ihre grö ssten Maler bezeugtermaassen ihre Welt nur mit Schwarz, Weiss, Roth und Gelb wiedergegeben haben), – wie anders und wie viel nä her an den Menschen gerü ckt musste ihnen die Natur erscheinen, weil in ihrem Auge die Farben des Menschen auch in der Natur ü berwogen und diese gleichsam in dem Farbenä ther der Menschheit schwamm! (Blau und Grü n entmenschlichen die Natur mehr, als alles Andere. ) Auf diesem Mangel ist die spielende Leichtigkeit, welche die Griechen auszeichnet, Naturvorgä nge als Gö tter und Halbgö tter, das heisst als menschartige Gestalten zu sehen, grossgewachsen. – Diess sei aber nur das Gleichniss fü r eine weitere Vermuthung. Jeder Denker malt seine Welt und jedes Ding mit weniger Farben, als es giebt, und ist gegen einzelne Farben blind. Diess ist nicht nur ein Mangel. Er sieht vermö ge dieser Annä herung und Vereinfachung Harmonien der Farben in die Dinge hinein, welche einen grossen Reiz haben und eine Bereicherung der Natur ausmachen kö nnen. Vielleicht ist diess sogar der Weg gewesen, auf dem die Menschheit den Genuss im Anblick des Daseins erst gelernt hat: dadurch, dass ihr dieses Dasein zunä chst in einem oder zwei Farbentö nen und dadurch harmonisirt vorgefü hrt wurde: sie ü bte sich gleichsam auf diese wenigen Tö ne ein, bevor sie zu mehreren ü bergehen konnte. Und noch jetzt arbeitet sich mancher Einzelne aus einer theilweisen Farbenblindheit in ein reicheres Sehen und Unterscheiden hinaus: wobei er aber nicht nur neue Genü sse findet, sondern immer auch einige der frü heren aufgeben und verlieren muss.

 

427.

 

Die Verschö nerung der Wissenschaft. – Wie die Rococo‑ Gartenkunst entstand, aus dem Gefü hl» die Natur ist hä sslich, wild, langweilig, – auf! wir wollen sie verschö nern (embellir la nature)! «– so entsteht aus dem Gefü hl» die Wissenschaft ist hä sslich, trocken, trostlos, schwierig, langwierig, – auf! lasst uns sie verschö nern! «immer wieder Etwas, das sich die Philosophie nennt. Sie will, was alle Kü nste und Dichtungen wollen, – vor Allem unterhalten: sie will diess aber, gemä ss ihrem ererbten Stolze, in einer erhabeneren und hö heren Art, vor einer Auswahl von Geistern. Fü r diese eine Gartenkunst zu schaffen, deren Hauptreiz wie bei jener» gemeineren «die Tä uschung der Augen ist (durch Tempel, Fernblicke, Grotten, Irrpfade, Wasserfä lle, um im Gleichnisse zu reden), die Wissenschaft in einem Auszuge und mit allerlei wunderbaren und plö tzlichen Beleuchtungen vorzufü hren und so viel Unbestimmtheit, Unvernunft und Trä umerei in sie einzumischen, dass man in ihr» wie in der wilden Natur «und doch ohne Mü hsal und Langeweile wandeln kö nne, – das ist kein geringer Ehrgeiz: wer ihn hat, trä umt sogar davon, auf diese Art die Religion entbehrlich zu machen, welche bei den frü heren Menschen die hö chste Gattung von Unterhaltungskunst abgegeben hat. – Diess geht nun seinen Gang und erreicht eines Tages seine hohe Fluth: jetzt schon beginnen die Gegenstimmen gegen die Philosophie laut zu werden, welche rufen» Rü ckkehr zur Wissenschaft! Zur Natur und Natü rlichkeit der Wissenschaft! «– womit vielleicht ein Zeitalter anhebt, das die mä chtigste Schö nheit gerade in den» wilden, hä sslichen «Theilen der Wissenschaft entdeckt, wie man seit Rousseau erst den Sinn fü r die Schö nheit des Hochgebirges und der Wü ste entdeckt hat.

 

428.

 

Zwei Arten Moralisten. – Ein Gesetz der Natur zum ersten Male sehen und ganz sehen, also es nachweisen (zum Beispiel das der Fallkraft, der Licht‑ und Schallreflexion) ist etwas Anderes und die Sache anderer Geister, als ein solches Gesetz erklä ren. So unterscheiden sich auch jene Moralisten, welche die menschlichen Gesetze und Gewohnheiten sehen und aufzeigen – die feinohrigen, feinnasigen, feinä ugigen Moralisten – durchaus von denen, welche das Beobachtete erklä ren. Die letzteren mü ssen vor Allem erfinderisch sein und eine durch Scharfsinn und Wissen entzü gelte Phantasie haben.

 

429.

 

Die neue Leidenschaft. – Warum fü rchten und hassen wir eine mö gliche Rü ckkehr zur Barbarei? Weil sie die Menschen unglü cklicher machen wü rde, als sie es sind? Ach nein! Die Barbaren aller Zeiten hatten mehr Glü ck: tä uschen wir uns nicht! – Sondern unser Trieb zur Erkenntniss ist zu stark, als dass wir noch das Glü ck ohne Erkenntniss oder das Glü ck eines starken festen Wahnes zu schä tzen vermö chten; es macht Pein, uns solche Zustä nde auch nur vorzustellen! Die Unruhe des Entdeckens und Errathens ist uns so reizvoll und unentbehrlich geworden, wie die unglü ckliche Liebe dem Liebenden wird: welche er um keinen Preis gegen den Zustand der Gleichgü ltigkeit hergeben wü rde; – ja, vielleicht sind wir auch unglü cklich Liebende! Die Erkenntniss hat sich in uns zur Leidenschaft verwandelt, die vor keinem Opfer erschrickt und im Grunde Nichts fü rchtet, als ihr eigenes Erlö schen; wir glauben aufrichtig, dass die gesammte Menschheit unter dem Drange und Leiden dieser Leidenschaft sich erhabener und getrö steter glauben mü sste als bisher, wo sie den Neid auf das grö bere Behagen, das im Gefolge der Barbarei kommt, noch nicht ü berwunden hat. Vielleicht selbst, dass die Menschheit an dieser Leidenschaft der Erkenntniss zu Grunde geht! – auch dieser Gedanke vermag Nichts ü ber uns! Hat sich denn das Christenthum je vor einem ä hnlichen Gedanken gescheut? Sind die Liebe und der Tod nicht Geschwister? Ja, wir hassen die Barbarei, – wir wollen Alle lieber den Untergang der Menschheit, als den Rü ckgang der Erkenntniss! Und zuletzt: wenn die Menschheit nicht an einer Leidenschaft zu Grunde geht, so wird sie an einer Schwä che zu Grunde gehen: was will man lieber? Diess ist die Hauptfrage. Wollen wir fü r sie ein Ende im Feuer und Licht oder im Sande? –

 

430.

 

Auch heldenhaft. – Dinge vom ü belsten Geruche thun, von denen man kaum zu reden wagt, die aber nü tzlich und nö thig sind, – ist auch heldenhaft. Die Griechen haben sich nicht geschä mt, unter die grossen Arbeiten des Herakles auch die Ausmistung eines Stalles zu setzen.

 

431.

 

Die Meinungen der Gegner. – Um zu messen, wie fein oder wie schwachsinnig von Natur auch die gescheutesten Kö pfe sind, gebe man darauf Acht, wie sie die Meinungen ihrer Gegner auffassen und wiedergeben: dabei verrä th sich das natü rliche Maass jedes Intellectes. – Der vollkommene Weise erhebt, ohne es zu wollen, seinen Gegner in's Ideal und macht dessen Widerspruch frei von allen Flecken und Zufä lligkeiten: erst wenn dadurch aus seinem Gegner ein Gott mit leuchtenden Waffen geworden ist, kä mpft er gegen ihn.

 

432.

 

Forscher und Versucher. – Es giebt keine alleinwissendmachende Methode der Wissenschaft! Wir mü ssen versuchsweise mit den Dingen verfahren, bald bö se, bald gut gegen sie sein und Gerechtigkeit, Leidenschaft und Kä lte nach einander fü r sie haben. Dieser redet mit den Dingen als Polizist, jener als Beichtvater, ein Dritter als Wanderer und Neugieriger. Bald mit Sympathie, bald mit Vergewaltigung wird man ihnen Etwas abdringen; Einen fü hrt Ehrfurcht vor ihren Geheimnissen vorwä rts und zur Einsicht, Einen wiederum Indiscretion und Schelmerei in der Erklä rung von Geheimnissen. Wir Forscher sind wie alle Eroberer, Entdecker, Schifffahrer, Abenteuerer von einer verwegenen Moralitä t und mü ssen es uns gefallen lassen, im Ganzen fü r bö se zu gelten.

 

433.

 

Mit neuen Augen sehen. – Gesetzt, dass unter Schö nheit in der Kunst immer die Nachbildung des Glü cklichen zu verstehen ist – und so halte ich es fü r die Wahrheit –, je nachdem eine Zeit, ein Volk, ein grosses in sich selber gesetzgeberisches Individuum sich den Glü cklichen vorstellt: was giebt dann der sogenannte Realismus der jetzigen Kü nstler ü ber das Glü ck unserer Zeit zu verstehen? Es ist unzweifelhaft seine Art von Schö nheit, welche wir jetzt am leichtesten zu erfassen und zu geniessen wissen. Folglich muss man wohl glauben, das jetzige uns eigene Glü ck liege im Realistischen, in mö glichst scharfen Sinnen und treuer Auffassung des Wirklichen, nicht also in der Realitä t, sondern im Wissen um die Realitä t? So sehr hat die Wirkung der Wissenschaft schon Tiefe und Breite gewonnen, dass die Kü nstler des Jahrhunderts, ohne es zu wollen, bereits zu Verherrlichern der wissenschaftlichen» Seligkeiten «an sich geworden sind!

 

434.

 

Fü rsprache einlegen. – Fü r die grossen Landschaftsmaler sind die anspruchslosen Gegenden da, die merkwü rdigen und seltenen Gegenden aber fü r die kleinen. Nä mlich: die grossen Dinge der Natur und Menschheit mü ssen fü r alle die Kleinen, Mittelmä ssigen und Ehrgeizigen unter ihren Verehrern Fü rsprache einlegen, – aber der Grosse legt Fü rsprache fü r die schlichten Dinge ein.

 

435.

 

Nicht unvermerkt zu Grunde gehen. – Nicht Einmal, sondern fortwä hrend brö ckelt es an unserer Tü chtigkeit und Grö sse; die kleine Vegetation, welche zwischen Allem hineinwä chst und sich ü berall anzuklammern versteht, diese ruinirt Das, was gross an uns ist, – die alltä gliche, stü ndliche ü bersehene Erbä rmlichkeit unserer Umgebung, die tausend Wü rzelchen dieser oder jener kleinen und kleinmü thigen Empfindung, welche aus unserer Nachbarschaft, aus unserem Amte, unserer Geselligkeit, unserer Tageseintheilung herauswä chst. Lassen wir diess kleine Unkraut unbemerkt, so gehen wir an ihm unbemerkt zu Grunde! – Und wollt ihr durchaus zu Grunde gehen, so thut es lieber auf einmal und plö tzlich: dann bleiben vielleicht von euch erhabene Trü mmer ü brig! Und nicht, wie jetzt zu befü rchten steht, Maulwurfshü gel! Und Gras und Unkraut auf ihnen, die kleinen Siegreichen, bescheiden wie vordem, und zu erbä rmlich selbst zum Triumphiren!

 

436.

 

Casuistisch. – Es giebt eine bitterbö se Alternative, der nicht Jedermanns Tapferkeit und Charakter gewachsen ist: als Passagier eines Schiffes zu entdecken, dass Capitä n und Steuermann gefä hrliche Fehler machen und dass man ihnen in nautischem Wissen ü berlegen sei, – und nun sich zu fragen: Wie! wenn du gegen sie eine Meuterei erregtest und sie Beide gefangen nehmen liessest? Verpflichtet dich deine Ü berlegenheit nicht dazu? Und sind sie nicht wiederum im Rechte, dich einzusperren, weil du den Gehorsam untergrä bst? – Diess ist ein Gleichniss fü r hö here und bö sere Lagen: wobei zuletzt immer noch die Frage bleibt, was uns unsere Ü berlegenheit, unseren Glauben an uns selber in solchen Fä llen gewä hrleistet. Der Erfolg? Aber da muss man eben schon das Ding thun, welches alle Gefahren in sich trä gt, – und nicht nur Gefahren fü r uns, sondern fü r das Schiff.

 

437.

 

Vorrechte. – Wer sich selber wirklich besitzt, das heisst wer sich endgü ltig erobert hat, betrachtet es fü rderhin als sein eigenes Vorrecht, sich zu strafen, sich zu begnadigen, sich zu bemitleiden: er braucht diess Niemandem zuzugestehen, er kann es aber auch einem Andern mit Freiheit in die Hand geben, einem Freunde zum Beispiel, – aber er weiss, dass er damit ein Recht verleiht und dass man nur aus dem Besitze der Macht heraus Rechte verleihen kann.

 

438.

 

Mensch und Dinge. – Warum sieht der Mensch die Dinge nicht? Er steht selber im Wege: er verdeckt die Dinge.

 

439.

 

Merkmale des Glü cks. – Das Gemeinsame aller Glü cksempfindungen ist zweierlei: Fü lle des Gefü hls und Ü bermuth darin, sodass man wie ein Fisch sein Element um sich fü hlt und in ihm springt. Gute Christen werden verstehen, was christliche Ausgelassenheit ist.

 

440.

 

Nicht entsagen! – Auf die Welt verzichten, ohne sie zu kennen, gleich einer Nonne, – das giebt eine unfruchtbare, vielleicht schwermü thige Einsamkeit. Diess hat Nichts gemeinsam mit der Einsamkeit der vita contemplativa des Denkers: wenn er sie wä hlt, will er keineswegs entsagen; vielmehr wä re es ihm Entsagung, Schwermuth, Untergang seiner selbst, in der vita practica ausharren zu mü ssen: auf diese verzichtet er, weil er sie kennt, weil er sich kennt. So springt er in sein Wasser, so gewinnt er seine Heiterkeit.

 

441.

 

Warum das Nä chste uns immer ferner wird. – Je mehr wir an Alles, was war und sein wird, denken, um so bleicher wird uns Das, was gerade jetzt ist. Wenn wir mit Gestorbenen leben und in ihrem Sterben mitsterben, was sind uns dann noch die Nä chsten«? Wir werden einsamer, – und zwar weil die ganze Fluth der Menschheit um uns rauscht. Die Gluth in uns, die allem Menschlichen gilt, nimmt immer zu – und darum blicken wir auf Das, was uns umgiebt, wie als ob es gleichgü ltiger und schattenhafter geworden wä re. – Aber unser kalter Blick beleidigt

 

442.

 

Die Regel. – »Die Regel ist mir immer interessanter, als die Ausnahme«– wer so empfindet, der ist in der Erkenntniss weit voraus und gehö rt zu den Eingeweihten.

 

443.

 

Zur Erziehung. ‑ Allmä hlich ist mir das Licht ü ber den allgemeinsten Mangel unserer Art Bildung und Erziehung aufgegangen: Niemand lernt, Niemand strebt darnach, Niemand lehrt – die Einsamkeit ertragen.

 

444.

 

Verwunderung ü ber Widerstand. – Weil Etwas fü r uns durchsichtig geworden ist, meinen wir, es kö nne uns nunmehr keinen Widerstand leisten – und sind dann erstaunt, dass wir hindurchsehen und doch nicht hindurch kö nnen! Es ist diess die selbe Thorheit und das selbe Erstaunen, in welches die Fliege vor jedem Glasfenster gerä th.

 

445.

 

Worin sich die Edelsten verrechnen. – Man giebt Jemandem endlich sein Bestes, sein Kleinod, – nun hat die Liebe Nichts mehr zu geben: aber Der, welcher es annimmt, hat daran gewiss nicht sein Bestes, und folglich fehlt ihm jene volle und letzte Erkenntlichkeit, auf welche der Gebende rechnet.

 

446.

 

Rangordnung. – Es giebt erstens oberflä chliche Denker, zweitens tiefe Denker – solche, welche in die Tiefe einer Sache gehen –, drittens grü ndliche Denker, die einer Sache auf den Grund gehen, – was sehr viel mehr werth ist, als nur in ihre Tiefe hinabsteigen! – endlich solche, welche den Kopf in den Morast stecken: was doch weder ein Zeichen von Tiefe noch von Grü ndlichkeit sein sollte! Es sind die lieben Untergrü ndlichen.

 

447.

 

Meister und Schü ler. – Zur Humanitä t eines Meisters gehö rt, seine Schü ler vor sich zu warnen.

 

448.

 

Die Wirklichkeit ehren. – Wie kann man dieser jubelnden Volksmenge ohne Thrä nen und ohne Zustimmung zusehen! Wir dachten vorher gering von dem Gegenstand ihres Jubels und wü rden noch immer so denken, wenn wir ihn nicht erlebt hä tten! Wozu kö nnen uns also die Erlebnisse fortreissen! Was sind unsere Meinungen! Man muss, um sich nicht zu verlieren, um seine Vernunft nicht zu verlieren, vor den Erlebnissen flü chten! So floh Plato vor der Wirklichkeit und wollte die Dinge nur in den blassen Gedankenbildern anschauen; er war voller Empfindung und wuß te, wie leicht die Wellen der Empfindung ü ber seiner Vernunft zusammenschlugen. – So hä tte sich demnach der Weise zu sagen: »ich will die Wirklichkeit ehren, aber ihr den Rü cken dabei zuwenden, weil ich sie kenne und fü rchte«? – er mü sste es machen wie africanische Vö lkerschaften vor ihrem Fü rsten: welche ihm nur rü ckwä rts nahen und ihre Verehrung zugleich mit ihrer Angst zu zeigen wissen?

 

449.

 

Wo sind die Bedü rftigen des Geistes? – Ah! Wie es mich anwidert, einem Anderen die eigenen Gedanken aufzudrä ngen! Wie ich mich jeder Stimmung und heimlichen Umkehr in mir freue, bei der die Gedanken Anderer gegen die eigenen zu Rechte kommen! Ab und zu giebt es aber ein noch hö heres Fest, dann, wenn es einmal erlaubt ist, sein geistiges Haus und Habe wegzuschenken, dem Beichtvater gleich, der im Winkel sitzt, begierig, dass ein Bedü rftiger komme und von der Noth seiner Gedanken erzä hle, damit er ihm wieder einmal Hand und Herz voll und die beunruhigte Seele leicht mache! Nicht nur, dass er keinen Ruhm davon haben will: er mö chte auch der Dankbarkeit aus dem Wege laufen, denn sie ist zudringlich und ohne Scheu vor Einsamkeit und Stillschweigen. Aber namenlos oder leicht verspottet leben, zu niedrig, um Neid oder Feindschaft zu erwecken, mit einem Kopf ohne Fieber, einer Handvoll Wissen und einem Beutel voll Erfahrungen ausgerü stet, gleichsam ein Armenarzt des Geistes sein und Dem und Jenem, dessen Kopf durch Meinungen verstö rt ist, helfen, ohne dass er recht merkt, wer ihm geholfen hat! Nicht vor ihm Recht haben und einen Sieg feiern wollen, sondern so zu ihm sprechen, dass er das Rechte nach einem kleinen unvermerkten Fingerzeig oder Widerspruch sich selber sagt und stolz darü ber fortgeht! Wie eine geringe Herberge sein, die Niemanden zurü ckstö sst, der bedü rftig ist, die aber hinterher vergessen oder verlacht wird! Nichts voraus haben, weder die bessere Nahrung, noch die reinere Luft, noch den freudigeren Geist, – sondern abgeben, zurü ckgeben, mittheilen, ä rmer werden! Niedrig sein kö nnen, um Vielen zugä nglich und fü r Niemanden demü thigend zu sein! Viel Unrecht auf sich liegen haben und durch die Wurmgä nge aller Art Irrthü mer gekrochen sein, um zu vielen verborgenen Seelen auf ihren geheimen Wegen gelangen zu kö nnen! Immer in einer Art Liebe und immer in einer Art Selbstsucht und Selbstgeniessens! Im Besitz einer Herrschaft und zugleich verborgen und entsagend sein! Bestä ndig in der Sonne und Milde der Anmuth liegen und doch die Aufstiege zum Erhabenen in der Nä he wissen! – Das wä re ein Leben! Das wä re ein Grund, lange zu leben!

 

450.

 

Die Lockung der Erkenntniss. – Auf leidenschaftliche Geister wirkt der Blick durch das Thor der Wissenschaft wie der Zauber aller Zauber; und vermuthlich werden sie dabei zu Phantasten und im gü nstigen Falle zu Dichtern: so heftig ist ihre Begierde nach dem Glü ck der Erkennenden. Geht es euch nicht durch alle Sinne, – dieser Ton der sü ssen Lockung, mit dem die Wissenschaft ihre frohe Botschaft verkü ndet hat, in hundert Worten und im hundert‑ ersten und schö nsten: »Lass den Wahn schwinden! Dann ist auch das Wehe mir! verschwunden; und mit dem Wehe mir! ist auch das Wehe dahin. «(Marc Aurel. )

 

451.

 

Wem ein Hofnarr nö thig ist. – Die sehr Schö nen, die sehr Guten, die sehr Mä chtigen erfahren fast nie ü ber irgend Etwas die volle und gemeine Wahrheit, – denn in ihrer Gegenwart lü gt man unwillkü rlich ein Wenig, weil man ihre Wirkungen empfindet und diesen Wirkungen gemä ss Das, was man an Wahrheit mittheilen kö nnte, in der Form einer Anpassung vorbringt (also Farben und Grade des Thatsä chlichen fä lscht, Einzelheiten weglä sst oder hinzuthut und Das, was sich gar nicht anpassen lassen will, hinter seinen Lippen zurü ckbehä lt). Wollen Menschen der Art trotz Alledem und durchaus die Wahrheit hö ren, so mü ssen sie sich ihren Hofnarren halten, – ein Wesen mit dem Vorrechte des Verrü ckten, sich nicht anpassen zu kö nnen.

 

452.

 

Ungeduld. – Es giebt einen Grad von Ungeduld bei Menschen der That und des Gedankens, welcher sie, bei einem Misserfolge, sofort in das entgegengesetzte Reich ü bertreten, sich dort passioniren und in Unternehmungen einlassen heisst, – bis auch von hier wieder ein Zö gern des Erfolges sie vertreibt: so irren sie, abenteuernd und heftig, durch die Praxis vieler Reiche und Naturen und kö nnen zuletzt, durch die Allkenntniss von Menschen und Dingen, welche ihre ungeheuere Wanderung und Ü bung in ihnen zurü cklä sst, und bei einiger Milderung ihres Triebes, – zu mä chtigen Praktikern werden. So wird ein Fehler des Charakters zur Schule des Genie's.

 

453.

 

Moralisches Interregnum. – Wer wä re jetzt schon im Stande, Das zu beschreiben, was einmal die moralischen Gefü hle und Urtheile ablö sen wird! – so sicher man auch einzusehen vermag, dass diese in allen Fundamenten irrthü mlich angelegt sind und ihr Gebä ude der Reparatur unfä hig ist: ihre Verbindlichkeit muss von Tag zu Tage immer abnehmen, sofern nur die Verbindlichkeit der Vernunft nicht abnimmt! Die Gesetze des Lebens und Handelns neu aufbauen, – zu dieser Aufgabe sind unsere Wissenschaften der Physiologie, Medicin, Gesellschafts‑ und Einsamkeitslehre ihrer selbst noch nicht sicher genug: und nur aus ihnen kann man die Grundsteine fü r neue Ideale (wenn auch nicht die neuen Ideale selber) entnehmen. So leben wir denn ein vorlä ufiges Dasein oder ein nachlä ufiges Dasein, je nach Geschmack und Begabung, und thun am besten, in diesem Interregnum, so sehr, als nur mö glich, unsere eigenen reges zu sein und kleine Versuchsstaaten zu grü nden. Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!

 

454.

 

Zwischenrede. – Ein Buch, wie dieses, ist nicht zum Durchlesen und Vorlesen, sondern zum Aufschlagen, namentlich im Spazierengehen und auf Reisen, man muss den Kopf hinein‑ und immer wieder hinausstecken kö nnen und nichts Gewohntes um sich finden.

 

455.

 

Die erste Natur. – So wie man uns jetzt erzieht, bekommen wir zuerst eine zweite Natur: und wir haben sie, wenn die Welt uns reif, mü ndig, brauchbar nennt. Einige Wenige sind Schlangen genug, um diese Haut eines Tages abzustossen: dann, wenn unter ihrer Hü lle ihre erste Natur reif geworden ist. Bei den Meisten vertrocknet der Keim davon.

 

456.

 

Eine werdende Tugend. – Solche Behauptungen und Verheissungen, wie die der antiken Philosophen von der Einheit der Tugend und der Glü ckseligkeit, oder wie die des Christenthums» Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes, so wird euch solches Alles zufallen! «– sind nie mit voller Redlichkeit, und doch immer ohne schlechtes Gewissen, gemacht worden: man stellte solche Sä tze, deren Wahrheit man sehr wü nschte, keck als die Wahrheit gegen den Augenschein auf, und empfand dabei nicht einen religiö sen oder moralischen Gewissensbiss – denn man war in honorem majorem der Tugend oder Gottes ü ber die Wirklichkeit hinausgegangen und ohne alle eigennü tzigen Absichten! Auf dieser Stufe der Wahrhaftigkeit stehen noch viele brave Menschen: wenn sie sich selbstlos fü hlen, scheint es ihnen erlaubt, es mit der Wahrheit leichter Zunehmen. Man beachte doch, dass weder unter den sokratischen, noch unter den christlichen Tugenden die Redlichkeit vorkommt: diese ist eine der jü ngsten Tugenden, noch wenig gereift, noch oft verwechselt und verkannt, ihrer selber noch kaum bewusst, – etwas Werdendes, das wir fö rdern oder hemmen kö nnen, je nachdem unser Sinn steht.

 

457.

 

Letzte Schweigsamkeit. – Einzelnen geht es sowie Schatzgrä bern: sie entdecken zufä llig die verborgen gehaltenen Dinge einer fremden Seele und haben daran ein Wissen, welches oft schwer zu tragen ist! Man kann unter Umstä nden Lebende und Todte bis zu einem Grade gut kennen und innerlich ausfindig machen, dass es Einem peinlich wird, von ihnen gegen Andere zu reden: man fü rchtet mit jedem Worte indiscret zu sein. – Ich kö nnte mir ein plö tzliches Stummwerden des weisesten Historikers denken.

 

458.

 

Das groß e Loos. – Das ist etwas sehr Seltenes, aber ein Ding zum Entzü cken: der Mensch nä mlich mit schö n gestaltetem Intellecte, welcher den Charakter, die Neigungen und auch die Erlebnisse hat, die zu einem solchen Intellecte gehö ren.

 

459.

 

Die Grossmü thigkeit des Denkers. – Rousseau und Schopenhauer – Beide waren stolz genug, ihrem Dasein den Wahlspruch aufzuschreiben: vitam impendere vero. Und Beide wiederum – was mö gen sie in ihrem Stolze gelitten haben, dass es ihnen nicht gelingen wollte, verum impendere vitae! – Verum, wie es jeder von ihnen verstand –, dass ihr Leben neben ihrer Erkenntniss nebenher lief wie ein launischer Bass, der zur Melodie nicht stimmen will! – Aber es stü nde schlimm um die Erkenntniss, wenn sie jedem Denker nur in dem Maasse zugemessen wü rde, als sie ihm gerade auf den Leib passt! Und es stü nde schlimm um die Denker, wenn ihre Eitelkeit so gross wä re, dass sie diess allein ertrü gen! Gerade darin glä nzt die schö nste Tugend des grossen Denkers: die Grossmü thigkeit, dass er als Erkennender sich selber und sein Leben unverzagt, oftmals beschä mt, oftmals mit erhabenem Spotte und lä chelnd – zum Opfer bringt.

 

460.

 

Seine gefä hrlichen Stunden ausnü tzen. – Man lernt einen Menschen und einen Zustand ganz anders kennen, wenn Gefahr um Hab und Gut, Ehre, Leben und Tod, fü r uns und unsere Liebsten, in jeder ihrer Bewegungen liegt: wie zum Beispiel Tiberius tiefer ü ber das Innere des Kaisers Augustus und seines Regimentes nachgedacht und mehr davon gewusst haben muss, als dem weisesten Historiker es auch nur mö glich wä re. Nun leben wir Alle vergleichungsweise in einer viel zu grossen Sicherheit, als dass wir gute Menschenkenner werden kö nnten: der Eine erkennt aus Liebhaberei, der Andere aus Langerweile, der Dritte aus Gewohnheit; niemals heisst es: »erkenne, oder geh' zu Grunde! «Solange sich uns die Wahrheiten nicht mit Messern in's Fleisch schneiden, haben wir in uns einen geheimen Vorbehalt der Geringschä tzung gegen sie: sie scheinen uns immer noch den» gefiederten Trä umen «zu ä hnlich, wie als ob wir sie haben und auch nicht haben kö nnten, – als ob Etwas an ihnen in unserem Belieben stü nde, als ob wir auch von diesen unseren Wahrheiten erwachen kö nnten!

 

461.

 

Hic Rhodus, hic salta. – Unsere Musik, die sich in Alles verwandeln kann und verwandeln muss, weil sie, wie der Dä mon des Meeres, an sich keinen Charakter hat: diese Musik ist ehemals dem christlichen Gelehrten nachgegangen und hat dessen Ideal in Klä nge zu ü bersetzen vermocht: warum sollte sie nicht endlich auch jenen helleren, freudigeren und allgemeinen Klang finden, der dein idealen Denker entspricht? – eine Musik, die erst in den weiten schwebenden Wö lbungen seiner Seele sich heimisch auf und nieder zu wiegen vermö chte? – Unsere Musik war bisher so gross, so gut: bei ihr war kein Ding unmö glich! So zeige sie denn, dass es mö glich ist, diese Drei: Erhabenheit, tiefes und warmes Licht und die Wonne der hö chsten Folgerichtigkeit auf Einmal zu empfinden!

 

462.

 

Langsame Curen. – Die chronischen Krankheiten der Seele entstehen wie die des Leibes, sehr selten nur durch einmalige grobe Vergehungen gegen die Vernunft von Leib und Seele, sondern gewö hnlich durch zahllose unbemerkte kleine Nachlä ssigkeiten. – Wer zum Beispiel Tag fü r Tag um einen noch so unbedeutenden Grad zu schwach athmet und zu wenig Luft in die Lunge nimmt, sodass sie als Ganzes nicht hinreichend angestrengt und geü bt wird, trä gt endlich ein chronisches Lungenleiden davon: in einem solchen Falle kann die Heilung auf keinem anderen Wege erfolgen, als dass wiederum zahllose kleine Ü bungen des Gegentheils vorgenommen und unvermerkt andere Gewohnheiten gepflegt werden, zum Beispiel, wenn man sich zur Regel macht, alle Viertelstunden des Tages Einmal stark und tief aufzuathmen (womö glich platt am Boden liegend; eine Uhr, welche die Viertelstunden schlä gt, muss dabei zur Lebensgefä hrtin gewä hlt werden). Langsam und kleinlich sind alle diese Curen; auch wer seine Seele heilen will, soll ü ber die Verä nderung der kleinsten Gewohnheiten nachdenken. Mancher sagt zehnmal des Tages ein bö ses kaltes Wort an seine Umgebung und denkt sich Wenig dabei, namentlich nicht, dass nach einigen Jahren er ein Gesetz der Gewohnheit ü ber sich geschaffen hat, welches ihn nunmehr nö thigt, zehnmal jedes Tages seine Umgebung zu verstimmen. Aber er kann sich auch daran gewö hnen, ihr zehnmal wohlzuthun! –

 

463.

 

Am siebenten Tage. – »Ihr preist Jenes als mein Schaffen? Ich habe nur von mir hinweggethan, was mir lä stig war! Meine Seele ist ü ber der Eitelkeit der Schaffenden erhaben. – Ihr preist Diess als meine Resignation? Ich habe nur von mir hinweggethan, was mir lä stig war! Meine Seele ist ü ber der Eitelkeit der Resignirten erhaben. »

 

464.

 

Scham des Schenkenden. – Es ist so ungrossmü thig, immer den Gebenden und Schenkenden zu machen und dabei sein Gesicht zu zeigen! Aber geben und schenken und seinen Namen und seine Gunst verhehlen! Oder keinen Namen haben, wie die Natur, in der uns eben Diess mehr als Alles erquickt, hier endlich einmal nicht mehr einem Schenkenden und Gebenden, nicht mehr einem» gnä digen Gesichte «zu begegnen! – Freilich, ihr verscherzt euch auch diese Erquickung, denn ihr habt einen Gott in diese Natur gesteckt – und nun ist wieder Alles unfrei und beklommen! Wie? Niemals mit sich allein sein dü rfen? Nie mehr unbewacht, unbehü tet, ungegä ngelt, unbeschenkt? Wenn immer ein Anderer um uns ist, so ist das Beste von Muth und Gü te in der Welt unmö glich gemacht. Mö chte man nicht gegen diese Zudringlichkeit des Himmels, gegen diesen unvermeidlichen ü bernatü rlichen Nachbar ganz des Teufels werden! – Aber es ist nicht nö thig, es war ja nur ein Traum! Wachen wir auf!

 

465.

 

Bei einer Begegnung. – A: Wohin blickst du? Du stehst so lange schon still hier. – B: Immer das Alte und das Neue! Die Hü lfsbedü rftigkeit einer Sache reisst mich so weit und so tief in sie hinein, dass ich endlich ihr dabei auf den Grund komme und einsehe, dass sie nicht gar so viel werth ist. Am Ende aller solcher Erfahrungen steht eine Art Trauer und Starrheit. Diess erlebe ich alle Tage im Kleinen zu dreien Malen.

 

466.

 

Verlust im Ruhme. – Welcher Vorzug, als ein Unbekannter zu den Menschen reden zu dü rfen! » Die Hä lfte unserer Tugend «nehmen uns die Gö tter, wenn sie uns das Incognito nehmen und uns berü hmt machen.

 

467.

 

Zweimal Geduld! – »Damit machst du vielen Menschen Schmerz. «– Ich weiss es; und weiss auch diess, dass ich doppelt dafü r leiden muss, einmal durch Mitleid an ihrem Leide und dann durch die Rache, die sie an mir nehmen werden. Aber trotzdem ist es nicht weniger nö thig, so zu thun, wie ich thue.

 

468.

 

Das Reich der Schö nheit ist grö sser. – Wie wir in der Natur herumgehen, listig und froh, um die Allem eigene Schö nheit zu entdecken und gleichsam auf der That zu ertappen, wie wir bald bei Sonnenschein, bald bei gewitterhaftem Himmel, bald in der bleichsten Dä mmerung einen Versuch machen, jenes Stü ck Kü ste mit Felsen, Meerbuchten, Ö lbä umen und Pinien so zu sehen, wie es zu seiner Vollkommenheit und Meisterschaft kommt: so sollten wir auch unter den Menschen umhergehen, als ihre Entdecker und Ausspä her, Gutes und Bö ses ihnen erweisend, damit die ihnen eigene Schö nheit sich offenbare, welche bei Diesem sonnenhaft, bei Jenem gewitterhaft und bei einem Dritten erst in der halben Nacht und bei Regenhimmel sich entfaltet. Ist es denn verboten, den bö sen Menschen als eine wilde Landschaft zu geniessen, die ihre eigenen kü hnen Linien und Lichtwirkungen hat, wenn der selbe Mensch, solange er sich gut und gesetzlich stellt, unserm Auge wie eine Verzeichnung und Carricatur erscheint und als ein Flecken in der Natur uns Pein macht? – Ja, es ist verboten: bisher war es nur erlaubt, im Moralisch‑ Guten nach Schö nheit zu suchen, – Grund genug, dass man so Wenig gefunden und sich so viel nach imaginä ren Schö nheiten ohne Knochen hat umthun mü ssen! – So gewiss es hundert Arten von Glü ck bei den Bö sen giebt, von denen die Tugendhaften Nichts ahnen, so giebt es an ihnen auch hundert Arten von Schö nheit: und viele sind noch nicht entdeckt.

 

469.

 

Die Unmenschlichkeit des Weisen. – Bei dem schweren, Alles zermalmenden Gange des Weisen, welcher, nach dem buddhistischen Liede, »einsam wandelt wie das Rhinozeros«, – bedarf es von Zeit zu Zeit der Zeichen einer versö hnlichen und gemilderten Menschlichkeit: und zwar nicht nur jener schnelleren Schritte, jener artigen und geselligen Wendungen des Geistes, nicht nur des Witzes und einer gewissen Selbstverspottung, sondern selbst er Widersprü che, der gelegentlichen Rü ckfä lle in die herrschende Ungereimtheit. Damit er nicht der Walze gleiche, welche wie das Verhä ngniss daherrollt, muss der Weise, der lehren will, seine Fehler zu seiner Beschö nigung gebrauchen, und indem er sagt» verachtet mich! «, bittet er um die Gunst, der Fü rsprecher einer anmaasslichen Wahrheit zu sein. Er will euch in's Gebirge fü hren, er wird euer Leben vielleicht in Gefahr bringen: dafü r ü berlä sst er es euch willig, vorher und nachher, an einem solchen Fü hrer Rache zu nehmen, – es ist der Preis, um den er sich selber den Genuss macht, voranzugehen. – Gedenkt ihr dessen, was euch durch den Sinn gieng, als er euch einmal durch eine finstere Hö hle auf schlü pfrigen Wegen geleitete? Wie euer Herz, klopfend und missmuthig, sich sagte: »dieser Fü hrer da kö nnte Besseres thun, als hier herumzukriegen! Er gehö rt zu einer neugierigen Art von Mü ssiggä ngern: – ist es nicht schon zu viel Ehre fü r ihn, dass wir ihm ü berhaupt einen Werth zuzuerkennen scheinen, indem wir ihm folgen? »

 

470.

 

Am Gastmahle Vieler. – Wie glü cklich ist man, wenn man so genä hrt wird, wie die Vö gel, aus der Hand Eines, der den Vö geln ausstreut, ohne sie genauer anzusehen und auf ihre Wü rdigkeit zu prü fen! Zu leben als ein Vogel, der kommt und fortfliegt und keinen Namen im Schnabel trä gt! So am Gastmahle Vieler mich zu sä ttigen, ist meine Freude.

 

471.

 

Eine andere Nä chstenliebe. – Das aufgeregte, lä rmende, ungleiche, nervö se Wesen macht den Gegensatz zur grossen Leidenschaft: diese, wie eine stille dü stere Gluth im Innern wohnend und dort alles Heisse und Hitzige sammelnd, lä sst den Menschen nach Aussen hin kalt und gleichgü ltig blicken und drü ckt den Zü gen eine gewisse Impassibilitä t auf. Solche Menschen sind gelegentlich wohl der Nä chstenliebe fä hig, – aber sie ist anderer Art, als die der Geselligen und Gefallsü chtigen: es ist eine milde, betrachtsame, gelassene Freundlichkeit; sie blicken gleichsam aus den Fenstern ihrer Burg hinaus, die ihre Festung und eben dadurch ihr Gefä ngniss ist: – der Blick in's Fremde, Freie, in das Andere thut ihnen so wohl!

 

472.

 

Sich nicht rechtfertigen. – A: Aber warum willst du dich nicht rechtfertigen? – B: Ich kö nnte es, hierin und in hundert Dingen, aber ich verachte das Vergnü gen, das in der Rechtfertigung liegt: denn diese Dinge sind fü r mich nicht gross genug, und lieber will ich Flecken an mir tragen, als jenen Kleinlichen zu ihrer hä mischen Freude verhelfen, dass sie sagen kö nnten: »er nimmt diese Dinge doch sehr wichtig! «Diess ist eben nicht wahr! Vielleicht mü sste mir noch mehr an mir selber gelegen sein, um eine Pflicht zu haben, fehlerhafte Vorstellungen ü ber mich zu berichtigen; – ich bin zu gleichgü ltig und trä ge gegen mich und so auch gegen Das, was durch mich gewirkt wird.

 

473.

 

Wo man sein Haus bauen soll. – Wenn du in der Einsamkeit dich gross und fruchtbar fü hlst, so wird dich die Geselligkeit verkleinern und verö den: und umgekehrt. Machtvolle Milde, wie die eines Vaters: – wo diese Stimmung dich ergreift, da grü nde dein Haus, sei es nun im Gewü hl oder in der Stille. Ubi pater sum, ibi patria.

 

474.

 

Die einzigen Wege. – »Dialektik ist der einzige Weg, um zu den gö ttlichen Wesen und hinter den Schleier der Erscheinung zu gelangen«– diess behauptet Plato ebenso feierlich und leidenschaftlich, als es Schopenhauer von dem Gegensatze der Dialektik behauptet, – und Beide haben Unrecht. Denn es giebt Das gar nicht, zu dem hin sie einen Weg uns zeigen wollen. – Und waren nicht alle grossen Leidenschaften der Menschheit bisher solche Leidenschaften fü r ein Nichts? Und alle ihre Feierlichkeiten – Feierlichkeiten um ein Nichts?

 

475.

 

Schwerwerden. – Ihr kennt ihn nicht: er kann viel Gewichte an sich hä ngen, er nimmt sie doch alle mit in die Hö he. Und ihr schliesst, nach eurem kleinen Flü gelschlage, er wolle unten bleiben, weil er diese Gewichte an sich hä nge!

 

476.

 

Am Erntefeste des Geistes. – Das hä uft sich von Tag zu Tage und quillt auf, Erfahrungen, Erlebnisse, Gedanken ü ber sie und Trä ume ü ber diese Gedanken, – ein unermesslicher, entzü ckender Reichthum! Sein Anblick macht Schwindeln; ich begreife nicht mehr, wie man die Geistig‑ Armen selig preisen kann! – Aber ich beneide sie mitunter, dann, wenn ich mü de bin: denn die Verwaltung eines solchen Reichthumes ist eine schwere Sache, und ihre Schwere erdrü ckt nicht selten alles Glü ck. – Ja, wenn es genü gte, ihn nur anzublicken! Wenn man nur der Geizhals seiner Erkenntnisse wä re!

 

477.

 

Von der Skepsis erlö st. – A: »Andre kommen misslaunig und Schwach, zernagt, wurmstichig, ja halb zerfressen aus einer allgemeinen moralischen Skepsis heraus, – ich aber muthiger und gesü nder als je, mit wiedererworbenen Instincten. Wo scharfer Wind weht, die See hoch geht und keine kleine Gefahr zu bestehen ist, da wird mir wohl. Zum Wurm bin ich nicht geworden, ob ich gleich oftmals wie ein Wurm habe arbeiten und graben mü ssen. «– B: Du hast eben auf gehö rt, Skeptiker zu sein! Denn du verneinst! – A: »Und damit habe ich wieder Ja – sagen gelernt. »

 

478.

 

Gehen wir vorü ber! – Schont ihn! Lasst ihn in seiner Einsamkeit! Wollt ihr ihn ganz zerbrechen? Er hat einen Sprung bekommen, wie ein Glas, in das sich plö tzlich etwas zu Heisses ergoss, – und er war ein so kostbares Glas!

 

479.

 

Liebe und Wahrhaftigkeit. – Wir sind aus Liebe arge Verbrecher an der Wahrheit und gewohnte Hehler und Stehler, welche mehr wahr sein lassen, als uns wahr scheint, – desshalb muss der Denker immer wieder von Zeit zu Zeit die Personen, welche er liebt (es werden nicht gerade die sein, welche ihn lieben), in die Flucht jagen, damit sie ihren Stachel und ihre Bosheit zeigen und aufhö ren, ihn zu verfü hren. Demnach wird die Gü te des Denkers ihren ab‑ und zunehmenden Mond haben.

 

480.

 

Unvermeidlich. – Erlebt, was ihr wollt: wer euch nicht wohl will, sieht in eurem Erlebniss einen Anlass, euch zu verkleinern! Erfahrt die tiefsten Umwä lzungen des Gemü ths und der Erkenntniss und gelangt endlich wie ein Genesender mit schmerzlichem Lä cheln hinaus in Freiheit und lichte Stille: – es wird doch Einer sagen» Der da hä lt seine Krankheit fü r ein Argument, seine Ohnmacht fü r den Beweis der Ohnmacht Aller; er ist eitel genug, um krank zu werden, damit er das Ü bergewicht des Leidenden fü hle. «– Und gesetzt, dass jemand seine eignen Fesseln sprengt und sich dabei tief verwundet: so wird ein Andrer mit Spott darauf hinzeigen. »Wie gross ist doch seine Ungeschicklichkeit! «wird er sagen; »So muss es einem Menschen ergehen, der an seine Fesseln gewö hnt ist und Narr genug ist, sie zu zerreissen! »

 

481.

 

Zwei Deutsche. – Vergleicht man Kant und Schopenhauer mit Plato, Spinoza, Pascal, Rousseau, Goethe in Absehung auf ihre Seele und nicht auf ihren Geist: so sind die erstgenannten Denker im Nachtheil: ihre Gedanken machen nicht eine leidenschaftliche Seelen‑ Geschichte aus, es giebt da keinen Roman, keine Krisen, Katastrophen und Todesstunden zu errathen, ihr Denken ist nicht zugleich eine unwillkü rliche Biographie einer Seele, sondern, im Falle Kant's, eines Kopfes, im Falle Schopenhauer's, die Beschreibung und Spiegelung eines Charakters (»des unverä nderlichen«) und die Freude am» Spiegel «selber, das heisst an einem vorzü glichen Intellecte. Kant erscheint, wenn er durch seine Gedanken hindurchschimmert, als wacker und ehrenwerth im besten Sinne, aber als unbedeutend: es fehlt ihm an Breite und Macht; er hat nicht zu viel erlebt, und seine Art, zu arbeiten, nimmt ihm die Zeit, Etwas zu erleben, – ich denke, wie billig, nicht an grobe» Ereignisse «von Aussen, sondern an die Schicksale und Zuckungen, denen das einsamste und stillste Leben verfä llt, welches Musse hat und in der Leidenschaft des Denkens verbrennt. Schopenhauer hat einen Vorsprung vor ihm: er besitzt wenigstens eine gewisse heftige Hä sslichkeit der Natur, in Hass, Begierde, Eitelkeit, Misstrauen, er ist etwas wilder angelegt und hatte Zeit und Musse fü r diese Wildheit. Aber ihm fehlte die» Entwickelung«: wie sie in seinem Gedankenumkreise fehlte; er hatte keine» Geschichte«.

 

482.

 

Seinen Umgang suchen. – Suchen wir denn zu viel, wenn wir den Umgang von Mä nnern suchen, welche mild, wohlschmeckend und nahrhaft geworden sind wie Kastanien, die man zur rechten Zeit in's Feuer gelegt und aus dem Feuer genommen hat? Welche Weniges vom Leben erwarten, und dieses lieber als geschenkt, und nicht als verdient, annehmen, wie als ob die Vö gel und die Bienen es ihnen gebracht hä tten? Welche zu stolz sind, um sich je belohnt fü hlen zu kö nnen? Und zu ernst in ihrer Leidenschaft der Erkenntniss und der Redlichkeit, als dass sie noch Zeit und Gefä lligkeit fü r den Ruhm hä tten? – Solche Mä nner wü rden wir Philosophen nennen; und sie selber werden immer noch einen bescheideneren Namen finden.

 

483.

 

Ü berdruss am Menschen. – A: Erkenne! Ja! Aber immer als Mensch! Wie? Immer vor der gleichen Komö die sitzen, in der gleichen Komö die spielen? Niemals aus anderen, als aus diesen Augen in die Dinge sehen kö nnen? Und welche unzä hlbaren Arten von Wesen mag es geben, deren Organe besser zur Erkenntniss taugen! Was wird am Ende aller ihrer Erkenntniss die Menschheit erkannt haben? – ihre Organe! Und das heisst vielleicht: die Unmö glichkeit der Erkenntniss! Jammer und Ekel! – B: Das ist ein bö ser Anfall, – die Vernunft fä llt dich an! Aber morgen wirst du wieder mitten im Erkennen sein und damit auch mitten in der Unvernunft, will sagen: in der Lust am Menschlichen. Gehen wir an's Meer! –

 

484.

 

Der eigene Weg. – Wenn wir den entscheidenden Schritt thun und den Weg antreten, welchen man den» eigenen Weg «nennt: so enthü llt sich uns plö tzlich ein Geheimniss: wer auch alles mit uns freund und vertraut war, – Alle haben sich bisher eine Ü berlegenheit ü ber uns eingebildet und sind beleidigt. Die Besten von ihnen sind nachsichtig und warten geduldig, dass wir den» rechten Weg«– sie wissen ihn ja! – schon wieder finden werden. Die Anderen spotten und thun, als sei man vorü bergehend nä rrisch geworden oder bezeichnen hä misch einen Verfü hrer. Die Bö seren erklä ren uns fü r eitle Narren und suchen unsere Motive zu schwä rzen, und der Schlimmste sieht in uns seinen schlimmsten Feind, einen, den nach Rache fü r eine lange Abhä ngigkeit dü rstet, – und fü rchtet sich vor uns. – Was also thun? Ich rathe: seine Souverä nitä t damit anfangen, dass man fü r ein Jahr voraus allen uns Bekannten fü r Sü nden jeder Art Amnestie zusichert.

 

485.

 

Ferne Perspectiven. – A: Aber warum diese Einsamkeit? – B: Ich zü rne Niemandem. Aber allein scheine ich meine Freunde deutlicher und schö ner zu sehen, als zusammen mit ihnen; und als ich die Musik am meisten liebte und empfand, lebte ich ferne von ihr. Es scheint, ich brauche die fernen Perspectiven, um gut von den Dingen zu denken.

 

486.

 

Gold und Hunger. – Hier und da giebt es einen Menschen, der Alles, was er berü hrt, in Gold verwandelt. Eines guten bö sen Tages wird er entdecken, dass er selber dabei verhungern muss. Er hat Alles glä nzend, herrlich, idealisch‑ unnahbar um sich, und nun sehnt er sich nach Dingen, welche in Gold zu verwandeln ihm durchaus unmö glich ist – und wie sehnt er sich! Wie ein Verhungernder nach Speise! – Wonach wird er greifen?

 

487.

 

Scham. – Da steht das schö ne Ross und scharrt den Boden, es schnaubt, es verlangt nach einem Ritte und liebt Den, der es sonst reitet, – aber oh Scham! dieser kann sich heute nicht hinaufschwingen, er ist mü de. – Diess ist die Scham des ermü deten Denkers vor seiner eigenen Philosophie.

 

488.

 

Gegen die Verschwendung der Liebe. – Errö then wir nicht, wenn wir uns auf einer heftigen Abneigung ertappen? Aber wir sollten es auch bei heftigen Zuneigungen thun, der Ungerechtigkeit wegen, die auch in ihnen liegt! Ja, noch mehr: es giebt Menschen, die sich wie eingeengt und geschnü rten Herzens fü hlen, wenn Jemand ihnen seine Zuneigung nur so zu Gute kommen lä sst, dass er damit Anderen Etwas von Zuneigung entzieht. Wenn wir es der Stimme anhö ren, dass wir ausgewä hlt, vorgezogen werden! Ach, ich bin nicht dankbar fü r dieses Auswä hlen, ich merke, dass ich es Dem nachtrage, der mich so auszeichnen will: er soll mich nicht auf Unkosten der Anderen lieben! Will ich doch schon zusehen, mit mir mich selber zu ertragen! Und oft habe ich noch das Herz voll und Grund zu Ü bermuth, – einem Solchen, der Solches hat, soll man Nichts bringen, was Andere nö thig, bitter nö thig haben!

 

489.

 

Freunde in der Noth. – Mitunter merken wir, dass einer unserer Freunde mehr zu einem Andern, als zu uns gehö rt, dass sein Zartsinn sich bei dieser Entscheidung quä lt und seine Selbstsucht dieser Entscheidung nicht gewachsen ist: da mü ssen wir es ihm erleichtern und ihn von uns fortbeleidigen. – Diess ist ebenfalls da nö thig, wo wir in eine Art zu denken ü bergehen, welche ihm verderblich sein wü rde: unsere Liebe zu ihm muss uns treiben, durch ein Unrecht, das wir auf uns nehmen, ihm ein gutes Gewissen zu seiner Lossagung von uns zu schaffen.

 

490.

 

Diese kleinen Wahrheiten! – »Ihr kennt diess Alles, aber ihr habt es nie erlebt, – ich nehme euer Zeugniss nicht an. Diese kleinen Wahrheiten'! – sie dü nken euch klein, weil ihr sie nicht mit eurem Blute bezahlt habt! «– Aber sind sie denn gross, desshalb, weil man Zuviel dafü r bezahlt hat? Und Blut ist immer ein Zuviel! – »Glaubt ihr? Was ihr geizig mit Blute seid! »

 

491.

 

Auch desshalb Einsamkeit! – A: So willst du wieder in deine Wü ste zurü ck?. ‑ B: Ich bin nicht schnell, ich muss auf mich warten, – es wird spä t, bis jedesmal das Wasser aus dem Brunnen meines Selbst an's Licht kommt, und oft muss ich lä nger Durst leiden, als ich Geduld habe. Desshalb gehe ich in die Einsamkeit, – um nicht aus den Cisternen fü r Jedermann zu trinken. Unter Vielen lebe ich wie Viele und denke nicht wie ich; nach einiger Zeit ist es mir dann immer, als wolle man mich aus mir verbannen und mir die Seele rauben – und ich werde bö se auf Jedermann und fü rchte Jedermann. Die Wü ste thut mir dann noth, um wieder gut zu werden.

 

492.

 

Unter den Sü dwinden. – A: Ich verstehe mich nicht mehr! Gestern noch war es in mir so stü rmisch und dabei so warm, so sonnig – und hell bis zum Ä ussersten. Und heute! Alles ist nun ruhig, weit, Schwermü thig, dunkel, wie die Lagune von Venedig: – ich will Nichts und athme tief auf dabei und doch bin ich mir < bei> insgeheim unwillig ü ber diess Nichts‑ Wollen: – so plä tschern die Wellen hin und her, im See meiner Melancholie. – B: Du beschreibst da eine kleine angenehme Krankheit. Der nä chste Nordostwind wird sie von dir nehmen! – A: Warum doch!

 

493.

 

Auf dem eigenen Baume. – A: »Ich habe bei den Gedanken keines Denkers so viel Vergnü gen, wie bei den eigenen: das sagt freilich Nichts ü ber ihren Werth, aber ich mü sste ein Narr sein, um die fü r mich schmackhaftesten Frü chte zurü ckzusetzen, weil sie zufä llig auf in einem Baume wachsen! – Und ich war einmal dieser Narr. «– B: »Andern geht es umgekehrt: und auch diess sagt Nichts ü ber den Werth ihrer Gedanken, namentlich noch Nichts gegen ihren Werth. »

 

494.

 

Letztes Argument des Tapferen. – »In diesem Gebü sche sind Schlangen. «– Gut, ich werde in das Gebü sch gehen und sie tö dten. – »Aber vielleicht wirst du dabei das Opfer, und sie werden nicht einmal das deine! «– Was liegt an mir!

 

495.

 

Unsere Lehrer. – In der Jugend nimmt man seine Lehrer und Wegweiser aus der Gegenwart und aus den Kreisen, auf welche wir gerade stossen: wir haben die gedankenlose Zuversicht, dass die Gegenwart Lehrer haben mü sse, die fü r uns mehr, als fü r jeden Anderen taugen und dass wir sie finden mü ssen, ohne viel zu suchen. Fü r diese Kinderei muss man spä ter hartes Lö segeld zahlen: man muss seine Lehrer an sich abbü ssen. Dann geht man wohl nach den rechten Wegweisern suchen in der ganzen Welt herum, die Vorwelt eingerechnet, – aber es ist vielleicht zu spä t. Und schlimmsten Falles entdecken wir, dass sie lebten, als wir jung waren – und dass wir uns damals vergriffen haben.

 

496.

 

Das bö se Princip. – Plato hat es prachtvoll beschrieben, wie der philosophische Denker inmitten jeder bestehenden Gesellschaft als der Ausbund aller Ruchlosigkeit gelten muss: denn als Kritiker aller Sitten ist er der Gegensatz des sittlichen Menschen, und wenn er es nicht so weit bringt, der Gesetzgeber neuer Sitten zu werden, so bleibt er in der Erinnerung der Menschen zurü ck als» das bö se Princip«. Wir dü rfen hieraus errathen, wie die ziemlich freisinnige und neuerungssü chtige Stadt Athen dem Rufe Plato's bei seinen Lebzeiten mitgespielt hat: was Wunders, dass er – der, wie er selber sagt, den» politischen Trieb «im Leibe hatte, – dreimal einen Versuch in Sicilien gemacht hat, wo sich damals gerade ein gesammtgriechischer Mittelmeer‑ Staat vorzubereiten schien? In ihm und mit seiner Hü lfe gedachte Plato fü r alle Griechen Das zu thun, was Muhammed spä ter fü r seine Araber that: die grossen und kleinen Brä uche und namentlich die tä gliche Lebensweise von Jedermann festzusetzen. Mö glich waren seine Gedanken, so gewiss die des Muhammed mö glich waren: sind doch viel unglaublichere, die des Christenthums, als mö glich bewiesen worden! Ein paar Zufä lle weniger und ein paar andere Zufä lle mehr – und die Welt hä tte die Platonisirung des europä ischen Sü dens erlebt; und gesetzt, dieser Zustand dauerte jetzt noch fort, so wü rde muthmaasslich in Plato das» gute Princip «von uns verehrt werden. Aber der Erfolg fehlte ihm: und so blieb ihm der Ruf eines Phantasten und Utopisten, – die hä rteren Namen sind mit dem alten Athen zu Grunde gegangen.

 

497.

 

Das reinmachende Auge. – Von» Genius «wä re am ehesten bei solchen Menschen zu reden, wo der Geist, wie bei Plato, Spinoza und Goethe, an den Charakter und das Temperament nur lose angeknü pft erscheint, als ein beflü geltes Wesen, das sich von jenen leicht trennen und sich dann weit ü ber sie erheben kann. Dagegen haben gerade Solche am lebhaftesten von ihrem» Genius «gesprochen, welche von ihrem Temperamente nie loskamen und ihm den geistigsten, grö ssten, allgemeinsten, ja unter Umstä nden kosmischen Ausdruck zu geben wussten (wie zum Beispiel Schopenhauer). Diese Genie's konnten nicht ü ber sich hinausfliegen, aber sie glaubten sich vorzufinden, wiederzufinden, wohin sie auch nur flogen, – das ist ihre» Grö sse«, und kann Grö sse sein! – Die Anderen, welchen der Name eigentlicher zukommt, haben das reine, reinmachende Auge, das nicht aus ihrem Temperament und Charakter gewachsen scheint, sondern frei von ihnen und meist in einem milden Widerspruch gegen sie auf die Welt wie auf einen Gott blickt und diesen Gott liebt. Auch ihnen ist aber dieses Auge nicht mit Einem Male geschenkt: es giebt eine Ü bung und Vorschule des Sehens, und wer rechtes Glü ck hat, findet zur rechten Zeit auch einen Lehrer des reinen Sehens.

 

498.

 

Nicht fordern! – Ihr kennt ihn nicht! Ja, er unter wirft sich leicht und frei den Menschen und den Dingen, und ist gü tig gegen Beide; seine einzige Bitte ist, in Ruhe gelassen zu werden, – aber nur solange Menschen und Dinge nicht Unterwerfung fordern. Alles Fordern macht ihn stolz, scheu und kriegerisch.

 

499.

 

Der Bö se. – »Nur der Einsame ist bö se, «rief Diderot: und sogleich fü hlte sich Rousseau tö dtlich verletzt. Folglich gestand er sich zu, dass Diderot Recht habe. In der That hat jeder bö se Hang inmitten der Gesellschaft und Geselligkeit so viel Zwang sich anzuthun, so viel Larven vorzunehmen, so oft sich selbst in das Prokrustes‑ Bett der Tugend zu legen, dass man recht wohl von einem Mä rtyrerthum des Bö sen reden kö nnte. In der Einsamkeit fä llt diess Alles dahin. Wer bö se ist, ist es am meisten in der Einsamkeit: auch am besten – und folglich fü r das Auge Dessen, der ü berall nur ein Schauspiel sieht, auch am schö nsten.

 

500.

 

Wider den Strich. – Ein Denker kann sich Jahre lang zwingen, wider den Strich zu denken: ich meine, nicht den Gedanken zu folgen, die sich ihm von Innen her anbieten, sondern denen, zu welchen ein Amt, eine vorgeschriebene Zeiteintheilung, eine willkü rliche Art von Fleiss ihn zu verpflichten scheinen. Endlich aber wird er krank: denn diese anscheinend moralische Ü berwindung verdirbt seine Nervenkraft ebenso grü ndlich, wie es nur eine zur Regel gemachte Ausschweifung thun kö nnte.

 

501.

 

Sterbliche Seelen! – In Betreff der Erkenntniss ist vielleicht die nü tzlichste Errungenschaft: dass der Glaube an die unsterbliche Seele aufgegeben ist. Jetzt darf die Menschheit warten, jetzt hat sie nicht mehr nö thig, sich zu ü berstü rzen und halbgeprü fte Gedanken hinunterzuwü rgen, wie sie ehedem musste. Denn damals hieng das Heil der armen» ewigen Seele «von ihren Erkenntnissen wä hrend des kurzen Lebens ab, sie musste sich von heut zu morgen entscheiden, – die» Erkenntniss «hatte eine entsetzliche Wichtigkeit! Wir haben den guten Muth zum Irren, Versuchen, Vorlä ufig‑ nehmen wieder erobert – es ist Alles nicht so wichtig! – und gerade desshalb kö nnen Individuen und Geschlechter jetzt Aufgaben von einer Grossartigkeit in's Auge fassen, welche frü heren Zeiten als Wahnsinn und Spiel mit Himmel und Hö lle erschienen sein wü rden. Wir dü rfen mit uns selber experimentiren! Ja die Menschheit darf es mit sich! Die grö ssten Opfer sind der Erkenntniss noch nicht gebracht worden, – ja, es wä re frü her Gotteslä sterung und Preisgeben des ewigen Heils gewesen, solche Gedanken auch nur zu ahnen, wie sie unserem Thun jetzt voranlaufen.

 

502.

 

Ein Wort fü r drei verschiedene Zustä nde. – In der Leidenschaft bricht bei Diesem das wilde, scheussliche, unausstehliche Thier hervor; Jener erhebt sich durch sie in eine Hö he und Grö sse und Pracht der Gebä rde, gegen die sein sonstiges Sein dü rftig erscheint. Ein Dritter, durch und durch veredelt, hat auch den edelsten Sturm und Drang, er ist in diesem Zustande die wildschö ne Natur und nur um einen Grad tiefer, als die grosse ruhig‑ schö ne Natur, welche er fü r gewö hnlich darstellt: aber von den Menschen wird er in der Leidenschaft mehr begriffen und gerade dieser Momente wegen mehr verehrt, – er ist ihnen da einen Schritt nä her und verwandter. Sie empfinden Entzü cken und Entsetzen bei einem solchen Anblick und nennen ihn gerade da: gö ttlich.

 

503.

 

Freundschaft. – Jener Einwand gegen das philosophische Leben, dass man mit ihm seinen Freunden unnü tzlich werde, wä re nie einem Modernen gekommen: er ist antik. Das Alterthum hat die Freundschaft tief und stark ausgelebt, ausgedacht und fast mit sich in's Grab gelegt. Diess ist sein Vorsprung vor uns: dagegen haben wir die idealisirte Geschlechtsliebe aufzuweisen. Alle grossen Tü chtigkeiten der antiken Menschen hatten darin ihren Halt, dass Mann neben Mann stand, und dass nicht ein Weib den Anspruch erheben durfte, das Nä chste, Hö chste, ja Einzige seiner Liebe zu sein, – wie die Passion zu empfinden lehrt. Vielleicht wachsen unsere Bä ume nicht so hoch, wegen des Epheu's und der Weinreben daran.

 

504.

 

Versö hnen! – Sollte es denn die Aufgabe der Philosophie sein, zwischen dem, was das Kind gelernt und der Mann erkannt hat, zu versö hnen? Sollte die Philosophie gerade die Aufgabe der Jü nglinge sein, weil diese in der Mitte zwischen Kind und Mann stehen und das mittlere Bedü rfniss haben? Fast will es so scheinen, wenn man erwä gt, in welchen Lebensaltern die Philosophen jetzt ihre Conception zu machen pflegen: dann, wenn es zum Glauben zu spä t und zum Wissen noch zu frü h ist.

 

505.

 

Die Praktischen. – Wir Denker haben den Wohlgeschmack aller Dinge erst festzustellen und nö thigenfalls ihn zu decretiren. Die praktischen Leute nehmen ihn endlich von uns an, ihre Abhä ngigkeit von uns ist unglaublich gross und das lä cherlichste Schauspiel der Welt, so wenig sie um dieselbe wissen und so stolz sie ü ber uns Unpraktische hinwegzureden lieben: ja sie wü rden ihr praktisches Leben geringschä tzen, wenn wir es geringschä tzen wollten: – wozu uns hier und da ein kleines Rachegelü st reizen kö nnte.

 

506.

 

Die nö thige Austrocknung alles Guten. – Wie! Man mü sse ein Werk gerade so auffassen, wie die Zeit, die es hervorbrachte? Aber man hat mehr Freude, mehr Erstaunen und auch mehr zu lernen daran, wenn man es gerade nicht so auffasst! Habt ihr nicht gemerkt, dass jedes neue gute Werk, so lange es in der feuchten Luft seiner Zeit liegt, seinen mindesten Werth besitzt, – gerade weil es so sehr noch den Geruch des Marktes und der Gegnerschaft und der neuesten Meinungen und alles Vergä nglichen zwischen heut und morgen an sich trä gt? Spä ter trocknet es aus, seine» Zeitlichkeit «stirbt ab – und dann erst bekommt es seinen tiefen Glanz und Wohlgeruch, ja, wenn es darnach ist, sein stilles Auge der Ewigkeit.

 

507.

 

Gegen die Tyrannei des Wahren. – Selbst wenn wir so toll wä ren, alle unsere Meinungen fü r wahr zu halten, so wü rden wir doch nicht wollen, dass sie allein existirten –: ich wü sste nicht, warum die Alleinherrschaft und Allmacht der Wahrheit zu wü nschen wä re; mir genü gte schon, dass sie eine grosse Macht habe. Aber sie muss kä mpfen kö nnen und eine Gegnerschaft haben, und man muss sich von ihr im Unwahren ab und zu erholen kö nnen, – sonst wird sie uns langweilig, kraft‑ und geschmacklos werden und uns eben dazu auch machen.

 

508.

 

Nicht pathetisch nehmen. – Das, was wir thun, um uns zu nü tzen, soll uns keinen moralischen Lobspruch eintragen, weder von Anderen, noch von uns selber; ebenso wenig Das, was wir thun, um uns an uns zu freuen. In solchen Fä llen das Pathetisch‑ nehmen abweisen und sich selber alles Pathetischen enthalten, ist der gute Ton bei allen hö heren Menschen: und wer sich an ihn gewö hnt hat, dem ist die Naivitä t wiedergeschenkt.

 

509.

 

Das dritte Auge. – Wie! du bedarfst noch des Theaters! Bist du noch so jung? Werde klug und suche die Tragö die und Komö die dort, wo sie besser gespielt wird! Wo es interessanter und interessirter zugeht! Ja, es ist nicht ganz leicht, dabei eben nur Zuschauer zu bleiben, – aber lerne es! Und fast in allen Lagen, die dir schwer und peinlich fallen, hast du dann ein Pfö rtchen zur Freude und eine Zuflucht, selbst noch, wenn deine eigenen Leidenschaften ü ber dich herfallen. Mache dein Theater‑ Auge auf, das grosse dritte Auge, welches durch die zwei anderen in die Welt schaut!

 

510.

 

Seinen Tugenden entlaufen. – Was liegt an einem Denker, wenn er nicht gelegentlich seinen eigenen Tugenden zu entlaufen weiss! Er soll ja» nicht nur ein moralisches Wesen «sein!

 

511.

 

Die Versucherin. – Die Ehrlichkeit ist die grosse Versucherin aller Fanatiker. Was sich Luthern in Gestalt des Teufels oder eines schö nen Weibes zu nahen schien und was er auf jene ungeschlachte Manier von sich abwehrte, war wohl die Ehrlichkeit und vielleicht, in seltneren Fä llen, sogar die Wahrheit.

 

512.

 

Gegen die Sachen muthig. – Wer seiner Natur nach gegen Personen rü cksichtsvoll oder ä ngstlich ist, aber seinen Muth gegen die Sachen hat, scheut sich vor neuen und nä heren Bekanntschaften und beschrä nkt seine alten: damit sein Incognito und seine Rü cksichtslosigkeit in der Wahrheit zusammenwachsen.

 

513.

 

Schranke und Schö nheit. – Suchst du Menschen mit schö ner Cultur? Aber dann musst du dir, wie wenn du schö ne Gegenden suchst, auch beschrä nkte Aussichten und Ansichten gefallen lassen. – Gewiss giebt es auch panoramatische Menschen, gewiss sind sie, wie die panoramatischen Gegenden, lehrreich und erstaunlich: aber nicht schö n.

 

514.

 

An die Stä rkeren. – Ihr stä rkeren und hochmü thigen Geister, nur um Eins seid gebeten: legt uns Anderen keine neue Last auf, sondern nehmt Etwas von unserer Last auf euch, da ihr ja die Stä rkeren seid! Aber ihr macht es so gerne umgekehrt: denn ihr wollt fliegen, und desshalb sollen wir auch noch eure Last zur unsren tragen: das heisst, wir sollen kriechen!

 

515.

 

Zunahme der Schö nheit. – Warum nimmt die Schö nheit mit der Civilisation zu? Weil bei dem civilisirten Menschen die drei Gelegenheiten zur Hä sslichkeit selten und immer seltener kommen: erstens die Affecte in ihren wildesten Ausbrü chen, zweitens die leiblichen Anstrengungen des ä ussersten Grades, drittens die Nö thigung, durch den Anblick Furcht einzuflö ssen, welche auf niederen und gefä hrdeten Culturstufen so gross und hä ufig ist, dass sie selbst Gebä rden und Ceremoniell festsetzt und die Hä sslichkeit zur Pflicht macht.

 

516.

 

Seinen Dä mon nicht in die Nä chsten fahren lassen! – Bleiben wir immerhin fü r unsere Zeit dabei, dass Wohlwollen und Wohlthun den guten Menschen ausmache; nur lasst uns hinzufü gen: »vorausgesetzt, dass er zuerst gegen sich selber wohlwollend und wohlthuend gesinnt sei! «Denn ohne Dieses – wenn er vor sich flieht, sich hasst, sich Schaden zufü gt – ist er gewiss kein guter Mensch. Dann rettet er sich nur in die Anderen, vor sich selber: mö gen diese Anderen zusehen, dass sie nicht schlimm dabei fahren, so wohl er ihnen anscheinend auch will! – Aber gerade Diess: das ego fliehen und hassen und im Anderen, fü r den Anderen leben – hat man bisher, ebenso gedankenlos als zuversichtlich, »unegoistisch «und folglich» gut «geheissen!

 

517.

 

Zur Liebe verfü hren. – Wer sich selber hasst, den haben wir zu fü rchten, denn wir werden die Opfer seines Grolls und seiner Rache sein. Sehen wir also zu, wie wir ihn zur Liebe zu sich selber verfü hren!

 

518.

 

Resignation. – Was ist Ergebung? Es ist die bequemste Lage eines Kranken, der sich lange unter Martern herumgeworfen hat, um sie zu finden, der dadurch mü de ward – und sie nun auch fand!

 

519.

 

Betrogen werden. – Sobald ihr handeln wollt, mü sst ihr die Thü r zum Zweifel verschliessen, – sagte ein Handelnder. – Und du fü rchtest dich nicht, auf diese Weise der Betrogene zu werden? – antwortete ein Beschaulicher.

 

520.

 

Die ewige Todtenfeier. – Es kö nnte Jemand ü ber die Geschichte weg eine fortgesetzte Grabrede zu hö ren glauben: man begrub und begrä bt immer sein Liebstes, Gedanken und Hoffnungen, und erhielt und erhä lt Stolz dafü r, gloria mundi, das heisst, den Pomp der Leichenrede. Damit soll Alles gut gemacht werden! Und der Leichenredner ist immer noch der grö sste ö ffentliche Wohlthä ter!

 

521.

 

AusnahmeEitelkeit. – Jener hat Eine hohe Eigenschaft, zu seinem Troste: ü ber den Rest seines Wesens – es ist fast Alles Rest! – gleitet sein Blick verä chtlich hin. Aber er erholt sich von sich selber, wenn er wie zu seinem Heiligthume geht; schon der Weg dahin dü nkt ihm wie ein Aufsteigen auf breiten sanften Stufen: – und ihr Grausamen nennt ihn desshalb eitel!

 

522.

 

Die Weisheit ohne Ohren. – Tä glich zu hö ren, was ü ber uns gesprochen wird, oder gar zu ergrü beln, was ü ber uns gedacht wird, – das vernichtet den stä rksten Mann. Darum lassen uns ja die Anderen leben, um tä glich ü ber uns Recht zu behalten! Sie wü rden uns ja nicht aushalten, wenn wir gegen sie Recht hä tten oder gar haben wollten! Kurz, bringen wir der allgemeinen Verträ glichkeit das Opfer, horchen wir nicht hin, wenn ü ber uns geredet, gelobt, getadelt, gewü nscht, gehofft wird, denken wir auch nicht einmal daran!

 

523.

 

Hinterfragen. – Bei Allem, was ein Mensch sichtbar werden lä sst, kann man fragen: was soll es verbergen? Wovon soll es den Blick ablenken? Welches Vorurtheil soll es erregen? Und dann noch: bis wie weit geht die Feinheit dieser Verstellung? Und worin vergreift er sich dabei?

 

524.

 

Eifersucht der Einsamen. – Zwischen geselligen und einsamen Naturen ist dieser Unterschied (vorausgesetzt, dass beide Geist haben! ): die ersteren werden zufrieden oder beinahe zufrieden mit einer Sache, welche sie auch sei, von dem Augenblicke an, da sie eine mittheilbare glü ckliche Wendung ü ber dieselbe in ihrem Geiste gefunden haben, – das versö hnt sie mit dem Teufel selber! Die Einsamen aber haben ihr stilles Entzü cken, ihre stille Qual an einer Sache, sie hassen die geistreiche glä nzende Ausstellung ihrer innersten Probleme, wie sie die allzugewä hlte Tracht an ihrer Geliebten hassen: sie sehen dann melancholisch auf sie hin, wie als ob der Verdacht ihnen aufstiege, dass sie Anderen gefallen wolle! Diess ist die Eifersucht aller einsamen Denker und leidenschaftlichen Trä umer auf den esprit.

 

525.

 

Wirkung des Lobes. – Die Einen werden durch grosses Lob schamhaft, die Anderen frech.

 

526.

 

Nicht Symbol sein wollen. – Ich beklage die Fü rsten: es ist ihnen nicht erlaubt, sich zeitweilig im Verkehre zu annulliren und so lernen sie die Menschen nur aus einer unbequemen Lage und Verstellung kennen; der fortwä hrende Zwang, Etwas zu bedeuten, macht sie zuletzt thatsä chlich zu feierlichen Nullen. – Und so geht es Allen, welche ihre Pflicht darin sehen, Symbole zu sein.

 

527.

 

Die Versteckten. – Habt ihr jene Menschen noch nicht gefunden, welche auch ihr entzü cktes Herz festhalten und pressen und welche lieber stumm werden, als dass sie die Scham des Maasses verlö ren? – Und jene Unbequemen und oft so Gutartigen fandet ihr auch noch nicht, welche nicht erkannt werden wollen, und die ihre Fusstapfen im Sande immer wieder verwischen, ja die Betrü ger sind, vor Anderen und vor sich, um verborgen zu bleiben?

 

528.

 

Seltnere Enthaltsamkeit. – Es ist oft kein geringes Zeichen von Humanitä t, einen Andern nicht beurtheilen zu wollen und sich zu weigern, ü ber ihn zu denken.

 

529.

 

Wodurch Menschen und Vö lker Glanz bekommen. – Wie viele ä chte individuelle Handlungen werden desshalb unterlassen, weil man, bevor man sie thut, einsieht oder argwö hnt, dass sie missverstanden werden! – also gerade jene Handlungen, welche ü berhaupt Werth haben, im Guten und Schlimmen. Je hö her also eine Zeit, ein Volk die Individuen achtet und je mehr man ihnen das Recht und Ü bergewicht zugesteht, um so mehr Handlungen jener Art werden sich an's Licht wagen – und so breitet sich zuletzt ein Schimmer von Ehrlichkeit, von Ä chtheit im Guten und Schlimmen ü ber ganzen Zeiten und Vö lkern aus, dass sie, wie zum Beispiel die Griechen, nach ihrem Untergange noch Jahrtausende lang gleich manchen Sternen fortleuchten.

 

530.

 

Umschweife des Denkers. – Bei Manchen ist der Gang ihres gesammten Denkens streng und unerbittlich kü hn, ja, mitunter grausam gegen sich, aber im Einzelnen sind sie milde und beugsam; sie drehen sich zehnmal um eine Sache, mit wohlwollendem Zö gern, aber endlich gehen sie ihren strengen Weg weiter. Es sind Strö me mit vielen Krü mmungen und abgeschiedenen Einsiedeleien; es giebt Stellen in ihrem Laufe, wo der Strom mit sich selber Versteckens spielt und sich eine kurze Idylle macht, mit Inseln, Bä umen, Grotten und Wasserfä llen: und dann zieht er wieder weiter, an Felsen vorü ber und sich durch das hä rteste Gestein zwingend.

 

531.

 

Die Kunst anders empfinden. – Von der Zeit an, wo man einsiedlerisch‑ gesellig, verzehrend und verzehrt, mit tiefen fruchtbaren Gedanken, und nur noch mit ihnen, lebt, will man von der Kunst entweder ü berhaupt Nichts mehr oder man will etwas ganz Anderes, als frü her, – das heisst, man ä ndert seinen Geschmack. Denn frü her wollte man durch die Thü r der Kunst gerade in das Element auf einen Augenblick hineintauchen, in welchem man nun dauernd lebt; damals trä umte man sich damit in das Entzü cken eines Besitzes, und nun besitzt man. Ja, vorü bergehend wegwerfen, was man jetzt hat, und sich arm, als Kind, Bettler und Narr trä umen – kann uns nunmehr gelegentlich entzü cken.

 

532.

 

«Die Liebe macht gleich. « – Die Liebe will dem Andern, dem sie sich weiht, jedes Gefü hl von Fremdsein ersparen, sie ist folglich voller Verstellung und Anä hnlichung, sie betrü gt fortwä hrend und schauspielert eine Gleichheit, die es in Wahrheit nicht giebt. Und diess geschieht so instinctiv, dass liebende Frauen diese Verstellung und bestä ndige zarteste Betrü gerei ableugnen und kü hn behaupten, die Liebe mache gleich (das heisst sie thue ein Wunder! ). – Dieser Vorgang ist einfach, wenn die eine Person sich lieben lä sst und es nicht nö thig findet, sich zu verstellen, vielmehr diess der anderen, liebenden ü berlä sst: aber nichts Verwickelteres und Undurchdringbareres von Schauspielerei giebt es, als wenn beide in der vollen Leidenschaft fü r einander sind und folglich Jeder sich aufgiebt und sich dem Anderen gleichstellen und ihm allein gleichmachen will: und keiner zuletzt mehr weiss, was er nachahmen, wozu er sich verstellen, als was er sich geben soll. Die schö ne Tollheit dieses Schauspiels ist zu gut fü r diese Welt und zu fein fü r menschliche Augen.

 

533.

 

Wir Anfä nger! – Was errä th und sieht ein Schauspieler Alles, wenn er einen anderen spielen sieht! Er weiss es, wenn ein Muskel an einer Gebä rde den Dienst versagt, er sondert jene kleinen, gemachten Dinge ab, welche einzeln und kaltblü tig vor dem Spiegel eingeü bt sind und nicht in's Ganze hineinwachsen wollen, er fü hlt es, wenn der Spieler von seiner eigenen Erfindung auf der Scene ü berrascht wird und wenn er sie in der Ü berraschung verdirbt. – Wie anders wieder sieht ein Maler auf einen vor ihm sich bewegenden Menschen! Er sieht namentlich sofort Vieles hinzu, um das Gegenwä rtige zu vervollstä ndigen und zur ganzen Wirkung zu bringen; er probirt im Geiste mehrere Beleuchtungen des selben Gegenstandes, er dividirt das Ganze der Wirkung durch einen Gegensatz, den er hinzustellt. – Hä tten wir doch erst das Auge dieses Schauspielers und dieses Malers fü r das Reich der menschlichen Seelen!

 

534.

 

Die kleinen Dosen. – Soll eine Verä nderung mö glichst in die Tiefe gehen, so gebe man das Mittel in den kleinsten Dosen, aber unablä ssig auf weite Zeitstrecken hin! Was ist Grosses auf Einmal zu schaffen! So wollen wir uns hü ten, den Zustand der Moral, an den wir gewö hnt sind, mit einer neuen Werthschä tzung der Dinge Hals ü ber Kopf und unter Gewaltsamkeiten zu vertauschen, – nein, wir wollen in ihm noch lange, lange fortleben – bis wir, sehr spä t vermuthlich, inne werden, dass die neue Werthschä tzung in uns zur ü berwiegenden Gewalt geworden ist und dass die kleinen Dosen derselben, an die wir uns von jetzt ab gewö hnen mü ssen, eine neue Natur in uns gelegt haben. – Man fä ngt ja an, auch diess einzusehen, dass der letzte Versuch einer grossen Verä nderung der Werthschä tzungen, und zwar in Bezug auf die politischen Dinge, – die» grosse Revolution«– nicht mehr war, als eine pathetische und blutige Quacksalberei, welche durch plö tzliche Krisen dem glä ubigen Europa die Hoffnung auf plö tzliche Genesung beizubringen wusste – und damit alle politischen Kranken bis auf diesen Augenblick ungeduldig und gefä hrlich gemacht hat. –

 

535.

 

Die Wahrheit hat die Macht nö thig. – An sich ist die Wahrheit durchaus keine Macht, – was auch immer des Gegentheils der schö nthuerische Aufklä rer zu sagen gewohnt sein mag! – Sie muss vielmehr die Macht auf ihre Seite ziehen oder sich auf die Seite der Macht schlagen, sonst wird sie immer wieder zu Grunde gehen! Diess ist nun genug und ü bergenug bewiesen!

 

536.

 

Die Daumenschraube. – Es empö rt endlich, immer und immer wieder zu sehen, wie grausam Jeder seine paar Privat‑ Tugenden den Anderen, die sie zufä llig nicht haben, aufrechnet, wie er sie damit zwickt und plagt. Und so wollen wir es auch mit dem» Sinn fü r Redlichkeit «menschlich treiben, so gewiss man an ihm eine Daumenschraube besitzt, um allen diesen grossartigen Selbstlingen, die auch jetzt noch ihren Glauben der ganzen Welt aufdringen wollen, bis auf's Blut wehe zu thun: – wir haben sie an uns selber erprobt!

 

537.

 

Meisterschaft. – Die Meisterschaft ist dann erreicht, wenn man sich in der Ausfü hrung weder vergreift, noch zö gert.

 

538.

 

Moralischer Irrsinn des Genie's. – Bei einer gewissen Gattung grosser Geister giebt es ein peinliches, zum Theil fü rchterliches Schauspiel zu beobachten: ihre fruchtbarsten Augenblicke, ihre Flü ge aufwä rts und in die Ferne scheinen ihrer gesammten Constitution nicht gemä ss zu sein und irgendwie ü ber deren Kraft hinauszugehen, sodass jedes Mal ein Fehler und auf die Dauer die Fehlerhaftigkeit der Maschine zurü ckbleibt, als welche sich aber wiederum, bei so hochgeistigen Naturen wie den hier gemeinten, in allerlei moralischen und intellectuellen Symptomen viel regelmä ssiger als in kö rperlichen Nothzustä nden zu erkennen giebt. So kö nnte das unbegreiflich Ä ngstliche, Eitle, Gehä ssige, Neidische, Eingeschnü rte und Einschnü rende, welches plö tzlich aus ihnen hervorspringt, jenes ganze Allzupersö nliche und Unfreie in Naturen, wie denen Rousseau's und Schopenhauer's, recht wohl die Folge eines periodischen Herzleidens sein: diess aber die Folge eines Nervenleidens und dieses endlich die Folge –. So lange der Genius in uns wohnt, sind wir beherzt, ja wie toll, und achten nicht des Lebens, der Gesundheit und der Ehre; wir durchfliegen den Tag freier, als ein Adler, und sind sicherer im Dunkel, als die Eule. Aber auf einmal verlä sst er uns, und ebenso plö tzlich fä llt tiefe Furchtsamkeit auf uns: wir verstehen uns selber nicht mehr, wir leiden an allem Erlebten, an allem Nichterlebten, wir sind wie unter nackten Felsen, vor einem Sturme, und zugleich wie erbä rmliche Kindsseelen, die sich vor einem Geraschel und einem Schatten fü rchten. – Drei Viertel alles Bö sen, das in der Welt gethan wird, geschieht aus Furchtsamkeit: und diese ist vor Allem ein physiologischer Vorgang! –

 

539.

 

Wisst ihr auch, was ihr wollt? – Hat euch nie die Angst geplagt, ihr mö chtet gar nicht dazu taugen, Das, was wahr ist, zu erkennen? Die Angst, dass euer Sinn zu stumpf, und selbst euer Feingefü hl des Sehens noch viel zu grob sei? Wenn ihr einmal merktet, was fü r ein Wille hinter eurem Sehen waltete? Zum Beispiel, wie ihr gestern mehr sehen wolltet, als ein Anderer, heute es anders sehen wollt, als der Andere, oder wie ihr von vornherein euch sehnt, eine Ü bereinstimmung, oder das Gegentheil von dem zu finden, was man bisher zu finden vermeinte! Oh der schä menswerthen Gelü ste! Wie ihr oft nach dem Starkwirkenden, oft nach dem Beruhigenden ausspä ht, – weil ihr gerade mü de seid! Immer voller geheimer Vorbestimmungen, wie die Wahrheit beschaffen sein mü sse, dass ihr, gerade ihr sie annehmen kö nntet! Oder meint ihr, heute, da ihr gefroren und trocken wie ein heller Morgen im Winter seid und euch Nichts am Herzen liegt, ihr hä ttet bessere Augen? Gehö rt nicht Wä rme und Schwä rmerei dazu, einem Gedankendinge Gerechtigkeit zu schaffen? – und das eben heisst Sehen! Als ob ihr ü berhaupt mit Gedankendingen anders verkehren kö nntet, als mit Menschen! Es ist in diesem Verkehre die gleiche Moralitä t, die gleiche Ehrenhaftigkeit, der gleiche Hintergedanke, die gleiche Schlaffheit, die gleiche Furchtsamkeit, – euer ganzes liebens‑ und hassenswü rdiges Ich! Eure kö rperlichen Ermattungen werden den Dingen matte Farben geben, eure Fieber werden Ungeheuer aus ihnen machen! Leuchtet euer Morgen nicht anders auf die Dinge, als euer Abend? Fü rchtet ihr nicht in der Hö hle jeder Erkenntniss euer eigenes Gespenst wieder zu finden, als das Gespinnst, in welches die Wahrheit sich vor euch verkleidet hat? Ist es nicht eine schauerliche Komö die, in welcher ihr so unbedachtsam mitspielen wollt? –

 

540.

 

Lernen. – Michelangelo sah in Raffael das Studium, in sich die Natur: dort das Lernen, hier die Begabung. Indessen ist diess eine Pedanterie, mit aller Ehrfurcht vor dem grossen Pedanten gesagt. Was ist denn Begabung Anderes, als ein Name fü r ein ä lteres Stü ck Lernens, Erfahrens, Einü bens, Aneignens, Einverleibens, sei es auf der Stufe unserer Vä ter oder noch frü her! Und wiederum: Der, welcher lernt, begabt sich selber, – nur ist es nicht so leicht, zu lernen, und nicht nur die Sache des guten Willens; man muss lernen kö nnen. Bei einem Kü nstler stellt sich dem oft der Neid entgegen, oder jener Stolz, welcher beim Gefü hl des Fremdartigen sofort seine Stacheln hervorkehrt und sich unwillkü rlich in einen Vertheidigungszustand, statt in den des Lernenden, versetzt. An beidem fehlte es Raffael, gleich Goethe, und desshalb waren sie groß e Lerner und nicht nur die Ausbeuter jener Erzgä nge, welche sich aus dem Geschiebe und der Geschichte ihrer Vorfahren ausgelaugt hatten. Raffael verschwindet vor uns als Lernender, mitten in der Aneignung dessen, was sein grosser Nebenbuhler als seine» Natur «bezeichnete: er trug tä glich ein Stü ck davon hinweg, dieser edelste Dieb; aber ehe er den ganzen Michelangelo in sich hinü bergetragen hatte, starb er – und die letzte Reihe seiner Werke, als der Anfang eines neuen Studienplanes, ist weniger vollkommen und schlechthin gut, eben weil der grosser Lerner vom Tode in seinem schwierigsten Pensum gestö rt worden ist und das rechtfertigende letzte Ziel, nach welchem er ausschaute, mit sich genommen hat.

 

541.

 

Wie man versteinern soll. – Langsam, langsam hart werden wie ein Edelstein – und zuletzt still und zur Freude der Ewigkeit liegen bleiben.

 

542.

 

Der Philosoph und das Alter. – Man thut nicht klug, den Abend ü ber den Tag urtheilen zu lassen: denn allzu oft wird da die Ermü dung zur Richterin ü ber Kraft, Erfolg und guten Willen. Und ebenso sollte die hö chste Vorsicht in Absehung auf das Alter und seine Beurtheilung des Lebens geboten sein, zumal das Alter, wie der Abend, sich in eine neue und reizende Moralitä t zu verkleiden liebt und durch Abendrö the, Dä mmerung, friedliche oder sehnsü chtige Stille den Tag zu beschä men weiss. Die Pietä t, welche wir dem alten Manne entgegenbringen, zumal wenn es ein alter Denker und Weiser ist, macht uns leicht blind gegen die Alterung seines Geistes, und es thut immer noth, die Merkmale solcher Alterung und Ermü dung aus ihrem Versteck, das heisst: das physiologische Phä nomen hinter dem moralischen Fü r‑ und Vorurtheile hervorzuziehen, um nicht die Narren der Pietä t und die Schä diger der Erkenntniss zu werden. Nicht selten nä mlich tritt der alte Mann in den Wahn einer grossen moralischen Erneuerung und Wiedergeburt und giebt von dieser Empfindung aus Urtheile ü ber das Werk und den Gang seines Lebens ab, wie als ob er jetzt erst hellsichtig geworden sei: und doch steht hinter diesem Wohlgefü hle und diesem zuversichtlichen Urtheilen als Einblä serin nicht die Weisheit, sondern die Mü digkeit. Als deren gefä hrlichstes Kennzeichen mag wohl der Genieglaube bezeichnet werden, welcher erst um diese Lebensgrä nze grosse und halbgrosse Mä nner des Geistes zu ü berfallen pflegt: der Glaube an eine Ausnahmestellung und an Ausnahmerechte. Der von ihm heimgesuchte Denker hä lt es nunmehr fü r erlaubt, sich es leichter zu machen und als Genie mehr zu decretiren, als zu beweisen: wahrscheinlich ist aber eben der Trieb, welchen die Mü digkeit des Geistes nach Erleichterung empfindet, die stä rkste Quelle jenes Glaubens, er geht ihm der Zeit nach zuvor, wie es auch anders erscheinen mö ge. Sodann: um diese Zeit will man gemä ss der Genusssucht aller Mü den und Alten die Resultate seines Denkens geniessen, anstatt sie wieder zu prü fen und auszusä en, und hat dazu nö thig, sie sich mundgerecht und geniessbar zu machen und ihre Trockenheit, Kä lte und Wü rzlosigkeit zu beseitigen; und so geschieht es, dass der alte Denker sich scheinbar ü ber das Werk seines Lebens erhebt, in Wahrheit aber dasselbe durch eingemischte Schwä rmereien, Sü ssigkeiten, Wü rzen, dichterische Nebel und mystische Lichter verdirbt. So ergieng es zuletzt Plato, so ergieng es zuletzt jenem grossen rechtschaffenen Franzosen, dem die Deutschen und die Englä nder dieses Jahrhunderts, als einem Umschlinger und Bä ndiger der strengen Wissenschaften, Keinen an die Seite zu stellen vermö gen, Auguste Comte. Ein drittes Merkmal der Ermü dung: jener Ehrgeiz, welcher in der Brust des grossen Denkers stü rmte, als er jung war, und der damals in Nichts sein Genü gen fand, ist nun auch alt geworden, er greift, wie Einer, der keine Zeit mehr zu verlieren hat, nach den grö beren und bereiteren Mitteln der Befriedigung, das heisst, nach denen der thä tigen, herrschenden, gewaltsamen, erobernden Naturen: von jetzt ab will er Institutionen grü nden, die seinen Namen tragen, und nicht mehr Gedanken‑ Bauten; was sind ihm jetzt noch die ä therhaften Siege und Ehren im Reiche der Beweise und Widerlegungen! was ist ihm eine Verewigung in Bü chern, ein zitterndes Frohlocken in der Seele eines Lesers! Die Institution dagegen ist ein Tempel, – das weiss er wohl, und ein Tempel von Stein und Dauer erhä lt seinen Gott sicherer am Leben, als die Opfergaben zarter und seltener Seelen. Vielleicht findet er um diese Zeit auch zum ersten Mal jene Liebe, welche mehr einem Gotte gilt, als einem Menschen, und sein ganzes Wesen mildert und versü sst sich unter den Strahlen einer solchen Sonne gleich einer Frucht im Herbste. Ja, er wird gö ttlicher und Schö ner, der grosse Alte – und trotzdem ist es das Alter und die Mü digkeit, welche ihm erlauben, derartig auszureifen, stille zu werden und in der leuchtenden Abgö tterei einer Frau auszuruhen. Nun ist es vorbei mit seinem frü heren trotzigen, dem eignen Selbst ü berlegenen Verlangen nach ä chten Schü lern, nä mlich ä chten Fortdenkern, das heisst, ä chten Gegnern: jenes Verlangen kam aus der ungeschwä chten Kraft, aus dem bewussten Stolze, jederzeit noch selber der Gegner und Todfeind seiner eigenen Lehre werden zu kö nnen, – jetzt will er entschlossene Parteigä nger, unbedenkliche Kameraden, Hü lfstruppen, Herolde, ein pomphaftes Gefolge. Jetzt hä lt er ü berhaupt die furchtbare Isolation nicht mehr aus, in der jeder vorwä rts‑ und vorausfliegende Geist lebt, er umstellt sich nunmehr mit Gegenstä nden der Verehrung, der Gemeinschaft, der Rü hrung und Liebe, er will es endlich auch einmal so gut haben, wie alle Religiö sen, und in der Gemeinde feiern, was er hochschä tzt, ja, er wird dazu eine Religion erfinden, um nur die Gemeinde zu haben. So lebt der weise Alte und gerä th dabei unvermerkt in eine solche klä gliche Nä he zu priesterhaften, dichterischen Ausschweifungen, dass man sich kaum dabei seiner weisen und strengen Jugend, seiner damaligen straffen Moralitä t des Kopfes, seiner wahrhaft mä nnlichen Scheu vor Einfä llen und Schwä rmereien erinnern darf. Wenn er sich frü her mit anderen, ä lteren Denkern verglich, so geschah es, um seine Schwä che ernst mit ihrer Kraft zu messen und gegen sich selber kä lter und freier zu werden: jetzt thut er es nur, um sich bei der Vergleichung am eigenen Wahne zu berauschen. Frü her dachte er mit Zuversicht an die kommenden Denker, ja, mit Wonne sah er sich einstmals in ihrem volleren Lichte untergehen: jetzt quä lt es ihn, nicht der Letzte sein zu kö nnen, er sinnt ü ber Mittel nach, mit seiner Erbschaft, die er den Menschen schenkt, auch eine Beschrä nkung des souverä nen Denkens ihnen aufzuerlegen, er fü rchtet und verunglimpft den Stolz und den Freiheitsdurst der individuellen Geister – nach ihm soll keiner mehr seinen Intellect vö llig frei walten lassen, er selber will als das Bollwerk fü r immer stehen bleiben, an welches die Brandung des Denkens ü berhaupt schlagen dü rfe, – das sind seine geheimen, vielleicht nicht einmal immer geheimen Wü nsche! Die harte Thatsache hinter solchen Wü nschen ist aber, dass er selber vor seiner Lehre Halt gemacht hat und in ihr seinen Grä nzstein, sein» Bis hierher und nicht weiter «aufgerichtet hat. Indem er sich selber kanonisirt, hat er auch das Zeugniss des Todes ü ber sich ausgestellt: von jetzt ab darf sein Geist sich nicht weiter entwickeln, die Zeit fü r ihn ist um, der Zeiger fä llt. Wenn ein grosser Denker aus sich eine bindende Institution fü r die zukü nftige Menschheit machen will, darf man sicherlich annehmen, dass er ü ber den Gipfel seiner Kraft gegangen und sehr mü de, sehr nahe seinem Sonnenuntergange ist.

 

543.

 

Nicht die Leidenschaft zum Argument der Wahrheit machen! – Oh, ihr gutartigen und sogar edlen Schwä rmer, ich kenne euch! Ihr wollt Recht behalten, vor uns, aber auch vor euch, und vor Allem vor euch! – und ein reizbares und feines bö ses Gewissen stachelt und treibt euch so oft gerade gegen euere Schwä rmerei! Wie geistreich werdet ihr dann, in der Ü berlistung und Betä ubung dieses Gewissens! Wie hasst ihr die Ehrlichen, Einfachen, Reinlichen, wie meidet ihr ihre unschuldigen Augen! Jenes bessere Wissen, dessen Vertreter sie sind und dessen Stimme ihr in euch selber zu laut hö rt, wie es an eurem Glauben zweifelt, – wie sucht ihr es zu verdä chtigen, als schlechte Gewohnheit, als Krankheit der Zeit, als Vernachlä ssigung und Ansteckung eurer eigenen geistigen Gesundheit! Bis zum Hass gegen die Kritik, die Wissenschaft, die Vernunft treibt ihr es! Ihr mü sst die Geschichte fä lschen, damit sie fü r euch zeuge, ihr mü sst Tugenden leugnen, damit sie die eurer Abgö tter und Ideale nicht in Schatten stellen! Farbige Bilder, wo Vernunftgrü nde noth thä ten! Gluth und Macht der Ausdrü cke! Silberne Nebel! Ambrosische Nä chte! Ihr versteht euch darauf, zu beleuchten und zu verdunkeln, und mit Licht zu verdunkeln! Und wirklich, wenn eure Leidenschaft in's Toben gerä th, so kommt ein Augenblick, da ihr euch sagt: jetzt habe ich mir das gute Gewissen erobert, jetzt bin ich hochherzig, muthig, selbstverleugnend, grossartig, jetzt bin ich ehrlich! Wie dü rstet ihr nach diesen Augenblicken, wo eure Leidenschaft euch vor euch selber volles, unbedingtes Recht und gleichsam die Unschuld giebt, wo ihr in Kampf, Rausch, Wuth, Hoffnung ausser euch und ü ber alle Zweifel hinweg seid, wo ihr decretirt» wer nicht ausser sich ist, wie wir, der kann gar nicht wissen, was und wo die Wahrheit ist! «Wie dü rstet ihr darnach, Menschen eures Glaubens in diesem Zustande – es ist der der Lasterhaftigkeit des Intellectes – zu finden und an ihrem Brande eure Flammen zu entzü nden! Oh ü ber euer Martyrium! Ü ber euren Sieg der heilig gesprochenen Lü ge! Mü sst ihr euch so viel Leides selber anthun? – Mü sst ihr? –

 

544.

 

Wie man jetzt Philosophie treibt. – Ich merke wohl: unsere philosophirenden Jü nglinge, Frauen und Kü nstler verlangen jetzt gerade das Gegentheil dessen von der Philosophie, was die Griechen von ihr empfiengen! Wer das fortwä hrende Jauchzen nicht hö rt, welches durch jede Rede und Gegenrede eines platonischen Dialogs geht, das Jauchzen ü ber die neue Erfindung des vernü nftigen Denkens, was versteht der von Plato, was von der alten Philosophie? Damals fü llten sich die Seelen mit Trunkenheit, wenn das strenge und nü chterne Spiel der Begriffe, der Verallgemeinerung, Widerlegung, Entfü hrung getrieben wurde, – mit jener Trunkenheit, welche vielleicht auch die alten grossen strengen und nü chternen Contrapunctiker der Musik gekannt haben. Damals hatte man in Griechenland den anderen ä lteren und ehedem allmä chtigen Geschmack noch auf der Zunge: und gegen ihn hob sich das Neue so zauberhaft ab, dass man von der Dialektik, der» gö ttlichen Kunst«, wie im Liebeswahnsinn sang und stammelte. Jenes Alte aber war das Denken im Banne der Sittlichkeit, fü r das es lauter festgestellte Urtheile, festgestellte Ursachen, keine anderen Grü nde als die der Autoritä t gab: sodass Denken ein Nachreden war und aller Genuss der Rede und des Gesprä chs in der Form liegen musste. (Ü berall, wo der Gehalt als ewig und allgü ltig gedacht wird, giebt es nur Einen grossen Zauber: den der wechselnden Form, das heisst der Mode. Der Grieche genoss auch an den Dichtern, von den Zeiten Homer's her, und spä ter an den Plastikern, nicht die Originalitä t, sondern deren Widerspiel. ) Sokrates war es, der den entgegengesetzten Zauber, den der Ursache und Wirkung, des Grundes und der Folge entdeckte: und wir modernen Menschen sind so sehr an die Nothdurft der Logik gewö hnt und zu ihr erzogen, dass sie uns als der normale Geschmack auf der Zunge liegt und als solche den Lü sternen und Dü nkelhaften zuwider sein muss. Was sich gegen ihn abhebt, entzü ckt diese: ihr feinerer Ehrgeiz mö chte gar zu gerne sich glauben machen, dass ihre Seelen Ausnahmen seien, nicht dialektische und vernü nftige Wesen, sondern – nun zum Beispiel» intuitive Wesen«, begabt mit dem» inneren Sinn «oder mit der» intellectualen Anschauung«. Vor Allem aber wollen sie» kü nstlerische Naturen «sein, mit einem Genius im Kopfe und einem Dä mon im Leibe und folglich auch mit Sonderrechten fü r diese und jene Welt, namentlich mit dem Gö tter‑ Vorrecht, unbegreiflich zu sein. – Das treibt nun auch Philosophie! Ich fü rchte, sie merken eines Tages, dass sie sich vergriffen haben, – das, was sie wollen, ist Religion!

 

545.

 

Aber wir glauben euch nicht! – Ihr mö chtet euch gerne als Menschenkenner geben, aber wir werden euch nicht durchschlü pfen lassen! Sollen wir es nicht merken, dass ihr euch erfahrener, tiefer, erregter, vollstä ndiger darstellt, als ihr seid? So gut wir an jenem Maler es fü hlen, wie schon in der Fü hrung seines Pinsels eine Anmaassung liegt: so gut wir es jenem Musiker anhö ren, dass er durch die Art, wie er sein Thema einfü hrt, es als hö her ausgeben mö chte, als es ist. Habt ihr Geschichte in euch erlebt, Erschü tterungen, Erdbeben, weite lange Traurigkeiten, blitzartige Beglü ckungen? Seid ihr nä rrisch gewesen mit grossen und kleinen Narren? Habt ihr den Wahn und das Wehe der guten Menschen wirklich getragen? Und das Wehe und die Art Glü ck der schlechtesten hinzu? Dann redet mir von Moral, sonst nicht!

 

546.

 

Sclave und Idealist. – Der Epiktetische Mensch wä re wahrlich nicht nach dem Geschmacke Derer, welche jetzt nach dem Ideale streben. Die stete Spannung seines Wesens, der nach Innen gewendete unermü dliche Blick, das Verschlossene, Vorsichtige, Unmittheilsame seines Auges, falls er sich einmal der Aussenwelt zukehrt; und gar das Schweigen oder Kurzreden: Alles Merkmale der strengsten Tapferkeit, – was wä re das fü r unsere Idealisten, die vor Allem nach der Expansion lü stern sind! Zu alledem ist er nicht fanatisch, er hasst die Schaustellung und die Ruhmredigkeit unserer Idealisten: sein Hochmuth, so gross er ist, will doch nicht die Anderen stö ren, er gesteht eine gewisse milde Annä herung zu und mö chte Niemandem die gute Laune verderben, – ja er kann lä cheln! Es ist sehr viel antike Humanitä t in diesem Ideale! Das Schö nste aber ist, dass ihm die Angst vor Gott vö llig abgeht, dass er streng an die Vernunft glaubt, dass er kein Bussredner ist. Epiktet war ein Sclave: sein idealer Mensch ist ohne Stand und in allen Stä nden mö glich, vor Allem aber wird er in der tiefen, niedrigen Masse zu suchen sein, als der Stille, Sich‑ Selbst‑ Genü gende innerhalb einer allgemeinen Verknechtung, der sich nach Aussen hin fü r sich selber wehrt und fortwä hrend im Zustande der hö chsten Tapferkeit lebt. Von dem Christen unterscheidet er sich vor Allem hierin, dass der Christ in Hoffnung lebt, in der Vertrö stung auf» unaussprechbare Herrlichkeiten«, dass er sich beschenken lä sst und das Beste von der gö ttlichen Liebe und Gnade, und nicht von sich, erwartet und annimmt: wä hrend Epiktet nicht hofft und sein Bestes sich nicht schenken lä sst, – er besitzt es, er hä lt es tapfer in seiner Hand, er macht es der ganzen Welt streitig, wenn diese es ihm rauben will. Das Christenthum war fü r eine andere Gattung antiker Sclaven gemacht, fü r die willens‑ und vernunftschwachen, also fü r die grosse Masse der Sclaven.

 

547.

 

Die Tyrannen des Geistes. – Der Gang der Wissenschaft wird jetzt nicht mehr durch die zufä llige Thatsache, dass der Mensch ungefä hr siebenzig Jahre alt wird, gekreuzt, wie es allzulange der Fall war. Ehemals wollte Einer wä hrend dieses Zeitraumes an's Ende der Erkenntnis kommen und nach diesem allgemeinen Gelü ste schä tzte man die Methoden der Erkenntniss ab. Die kleinen einzelnen Fragen und Versuche galten als verä chtlich, man wollte den kü rzesten Weg, man glaubte, weil Alles in der Welt auf den Menschen hin eingerichtet schien, dass auch die Erkennbarkeit der Dinge auf ein menschliches Zeitmaass eingerichtet sei. Alles mit Einem Schlage, mit Einem Worte zu lö sen, – das war der geheime Wunsch: unter dem Bilde des gordischen Knotens oder unter dem des Eies des Columbus dachte man sich die Aufgabe; man zweifelte nicht, dass es mö glich sei, auch in der Erkenntniss nach Art des Alexander oder des Columbus zum Ziele zu kommen und alle Fragen mit Einer Antwort zu erledigen. »Ein Rä thsel ist zu lö sen«: so trat das Lebensziel vor das Auge des Philosophen; zunä chst war das Rä thsel zu finden und das Problem der Welt in die einfachste Rä thselform zusammen zudrä ngen. Der grä nzenlose Ehrgeiz und Jubel, der» Enträ thsler der Welt «zu sein, machte die Trä ume des Denkers aus: Nichts schien ihm der Mü he werth, wenn es nicht das Mittel war, Alles fü r ihn zu Ende zu bringen! So war Philosophie eine Art hö chsten Ringens um die Tyrannenherrschaft des Geistes, – dass eine solche irgend einem Sehr‑ Glü cklichen, Feinen, Erfindsamen, Kü hnen, Gewaltigen vorbehalten und aufgespart sei, – einem Einzigen! – daran zweifelte Keiner, und Mehrere haben gewä hnt, zuletzt noch Schopenhauer, dieser Einzige zu sein. – Daraus ergiebt sich, dass im Grossen und Ganzen die Wissenschaft bisher durch die moralische Beschrä nktheit ihrer Jü nger zurü ckgeblieben ist und dass sie mit einer hö heren und grossmü thigeren Grundempfindung fü rderhin getrieben werden muss. »Was liegt an mir! «– steht ü ber der Thü r des kü nftigen Denkers.

 

548.

 

Der Sieg ü ber die Kraft. – Erwä gt man, was bisher Alles als»ü bermenschlicher Geist«, als» Genie «verehrt worden ist, so kommt man zu dem traurigen Schlusse, dass im Ganzen die Intellectualitä t der Menschheit doch etwas sehr Niedriges und Armseliges gewesen sein muss: so wenig Geist gehö rte bisher dazu, um sich gleich erheblich ü ber sie hinaus zu fü hlen! Ach, um den wohlfeilen Ruhm des» Genie's«! Wie schnell ist sein Thron errichtet, seine Anbetung zum Brauch geworden! Immer noch liegt man vor der Kraft auf den Knieen – nach alter Sclaven‑ Gewohnheit – und doch ist, wenn der Grad von Verehrungswü rdigkeit festgestellt werden soll, nur der Grad der Vernunft in der Kraft entscheidend: man muss messen, inwieweit gerade die Kraft durch etwas Hö heres ü berwunden worden ist und als ihr Werkzeug und Mittel nunmehr in Diensten steht! Aber fü r ein solches Messen giebt es noch gar zu wenig Augen, ja zumeist wird noch das Messen des Genie's fü r einen Frevel gehalten. Und so geht vielleicht das Schö nste immer noch im Dunkel vor sich und versinkt, kaum geboren, in ewige Nacht, – nä mlich das Schauspiel jener Kraft, welche ein Genie nicht auf Werke, sondern auf sich als Werk, verwendet, das heisst auf seine eigene Bä ndigung, auf Reinigung seiner Phantasie, auf Ordnung und Auswahl im Zuströ men von Aufgaben und Einfä llen. Noch immer ist der grosse Mensch gerade in dem Grö ssten, was Verehrung erheischt, unsichtbar wie ein zu fernes Gestirn: sein Sieg ü ber die Kraft bleibt ohne Augen und folglich auch ohne Lied und Sä nger. Noch immer ist die Rangordnung der Grö sse fü r alle vergangene Menschheit noch nicht festgesetzt.

 

549.

 

«Selbstflucht«. – Jene Menschen der intellectuellen Krä mpfe, welche gegen sich selber ungeduldig und verfinstert sind, wie Byron oder Alfred de Musset, und in Allem, was sie thun, durchgehenden Pferden gleichen, ja, die aus ihrem eigenen Schaffen nur eine kurze, die Adern fast sprengende Lust und Gluth und dann eine um so winterlichere Ö de und Vergrä mtheit davontragen, wie sollen sie es in sich aushalten! Sie dü rsten nach einem Aufgehen in einem» Aussersich «; ist man mit einem solchen Durste ein Christ, so zielt man nach dem Aufgehen in Gott, nach dem» Ganz‑ eins‑ mit‑ ihm‑ werden«; ist man Shakespeare, so genü gt einem erst das Aufgehen in Bildern des leidenschaftlichsten Lebens; ist man Byron, so dü rstet man nach Thaten, weil diese noch mehr uns von uns abziehen, als Gedanken, Gefü hle und Werke. Und so wä re vielleicht doch der Thatendrang im Grunde Selbstflucht? – wü rde Pascal uns fragen. Und in der That! Bei den hö chsten Exemplaren des Thatendranges mö chte der Satz sich beweisen lassen: man erwä ge doch, mit dem Wissen und den Erfahrungen eines Irrenarztes, wie billig, – dass Vier von den Thatendurstigsten aller Zeiten Epileptiker gewesen sind (nä mlich Alexander, Cä sar, Muhammed und Napoleon)‑ so wie auch Byron diesem Leiden unterworfen war.

 

550.

 

Erkenntniss und Schö nheit. – Wenn die Menschen, so wie sie immer noch thun, ihre Verehrung und ihr Glü cksgefü hl fü r die Werke der Einbildung und der Verstellung gleichsam aufsparen, so darf es nicht Wunder nehmen, wenn sie sich beim Gegensatz der Einbildung und Verstellung kalt und unlustig finden. Das Entzü cken, welches schon beim kleinsten sicheren endgü ltigen Schritt und Fortschritt der Einsicht entsteht und welches aus der jetzigen Art der Wissenschaft so reichlich und schon fü r so Viele herausströ mt, – dieses Entzü cken wird einstweilen von allen Denen nicht geglaubt, welche sich daran gewö hnt haben, immer nur beim Verlassen der Wirklichkeit, beim Sprung in die Tiefen des Scheins entzü ckt zu werden. Diese meinen, die Wirklichkeit sei hä sslich: aber daran denken sie nicht, dass die Erkenntniss auch der hä sslichsten Wirklichkeit schö n ist, ebenso dass wer oft und viel erkennt, zuletzt sehr ferne davon ist, das grosse Ganze der Wirklichkeit, deren Entdeckung ihm immer Glü ck gab, hä sslich zu finden. Giebt es denn etwas» an sich Schö nes«? Das Glü ck der Erkennenden mehrt die Schö nheit der Welt und macht Alles, was da ist, sonniger; die Erkenntniss legt ihre Schö nheit nicht nur um die Dinge, sondern, auf die Dauer, in die Dinge; – mö ge die zukü nftige Menschheit fü r diesen Satz ihr Zeugniss abgeben! Inzwischen gedenken wir einer alten Erfahrung: zwei so grundverschiedene Menschen, wie Plato und Aristoteles, kamen in dem ü berein, was das hö chste Glü ck ausmache, nicht nur fü r sie oder fü r Menschen, sondern an sich, selbst fü r Gö tter der letzten Seligkeiten: sie fanden es im Erkennen, in der Thä tigkeit eines wohlgeü bten findenden und erfindenden Verstandes (nicht etwa in der» Intuition«, wie die deutschen Halb‑ und Ganztheologen, nicht in der Vision, wie die Mystiker, und ebenfalls nicht im Schaffen, wie alle Praktiker). Ä hnlich urtheilten Descartes und Spinoza: wie mü ssen sie Alle die Erkenntniss genossen haben! Und welche Gefahr fü r ihre Redlichkeit, dadurch zu Lobrednern der Dinge zu werden! –

 

551.

 

Von zukü nftigen Tugenden. – Wie kommt es, dass, je begreiflicher die Welt geworden ist, um so mehr die Feierlichkeit jeder Art abgenommen hat? Ist es, dass die Furcht so sehr das Grundelement jener Ehrfurcht war, welche uns bei allem Unbekannten, Geheimnissvollen ü berfiel und uns vor dem Unbegreiflichen niedersinken und um Gnade bitten lehrte? Und sollte die Welt dadurch, dass wir weniger furchtsam geworden sind, nicht auch an Reiz fü r uns verloren haben? Sollte mit unserer Furchtsamkeit nicht auch unsre eigene Wü rde und Feierlichkeit, unsre eigene Furchtbarkeit, geringer geworden sein? Vielleicht, dass wir die Welt und uns selber geringer achten, seit wir muthiger ü ber sie und uns denken? Vielleicht, dass es eine Zukunft giebt, wo dieser Muth des Denkens so angewachsen sein wird, dass er als der ä usserste Hochmuth sich ü ber den Menschen und Dingen fü hlt, – wo der Weise als der am meisten Muthige sich selber und das Dasein am meisten unter sich sieht? – Diese Gattung des Muthes, welche nicht ferne einer ausschweifenden Grossmuth ist, fehlte bisher der Menschheit. – Oh, wollten doch die Dichter wieder werden, was sie einstmals gewesen sein sollen: – Seher, die uns Etwas von dem Mö glichen erzä hlen! Jetzt, da ihnen das Wirkliche und das Vergangene immer mehr aus den Hä nden genommen wird und werden muss, – denn die Zeit der harmlosen Falschmü nzerei ist zu Ende! Wollten sie uns von den zukü nftigen Tugenden Etwas vorausempfinden lassen! Oder von Tugenden, die nie auf Erden sein werden, obschon sie irgendwo in der Welt sein kö nnten, – von purpurnglü henden Sternbildern und ganzen Milchstrassen des Schö nen! Wo seid ihr, ihr Astronomen des Ideals?

 

552.

 

Die idealische Selbstsucht. – Giebt es einen weihevolleren Zustand, als den der Schwangerschaft? Alles, was man thut, in dem stillen Glauben thun, es mü sse irgendwie dem Werdenden in uns zu Gute kommen! Es mü sse seinen geheimnissvollen Werth, an den wir mit Entzü cken denken, erhö hen! Da geht man Vielem aus dem Wege, ohne hart sich zwingen zu mü ssen! Da unterdrü ckt man ein heftiges Wort, man giebt versö hnlich die Hand: aus dem Mildesten und Besten soll das Kind hervorwachsen. Es schaudert uns vor unsrer Schä rfe und Plö tzlichkeit: wie wenn sie dem geliebtesten Unbekannten einen Tropfen Unheil in den Becher seines Lebens gö sse! Alles ist verschleiert, ahnungsvoll, man weiss von Nichts, wie es zugeht, man wartet ab und sucht bereit zu sein. Dabei waltet ein reines und reinigendes Gefü hl tiefer Unverantwortlichkeit in uns, fast wie es ein Zuschauer vor dem geschlossenen Vorhang hat, – es wä chst, es tritt an den Tag: wir haben Nichts in der Hand, zu bestimmen, weder seinen Werth, noch seine Stunde. Einzig auf jeden mittelbaren segnenden und wehrenden Einfluss sind wir angewiesen. »Es ist etwas Grö sseres, das hier wä chst, als wir sind «ist unsere geheimste Hoffnung: ihm legen wir Alles zurecht, dass es gedeihlich zur Welt komme: nicht nur alles Nü tzliche, sondern auch die Herzlichkeiten und Krä nze unserer Seele. – In dieser Weihe soll man leben! Kann man leben! Und sei das Erwartete ein Gedanke, eine That, – wir haben zu allem wesentlichen Vollbringen kein anderes Verhä ltniss, als das der Schwangerschaft und sollten das anmaassliche Reden von» Wollen «und» Schaffen «in den Wind blasen! Diess ist die rechte idealische Selbstsucht: immer zu sorgen und zu wachen und die Seele still zu halten, dass unsere Fruchtbarkeit schö n zu Ende gehe! So, in dieser mittelbaren Art sorgen und wachen wir fü r den Nutzen Aller; und die Stimmung, in der wir leben, diese stolze und milde Stimmung, ist ein Ö l, welches sich weit um uns her auch auf die unruhigen Seelen ausbreitet. – Aber wunderlich sind die Schwangeren! Seien wir also auch wunderlich und verargen wir es den Anderen nicht, wenn sie es sein mü ssen! Und selbst, wo diess in's Schlimme und Gefä hrliche sich verlä uft: bleiben wir in der Ehrfurcht vor dem Werdenden nicht hinter der weltlichen Gerechtigkeit zurü ck, welche dem Richter und dem Henker nicht erlaubt, eine Schwangere zu berü hren!

 

553.

 

Auf Umwegen. – Wohin will diese ganze Philosophie mit allen ihren Umwegen? Thut sie mehr, als einen stä ten und starken Trieb gleichsam in Vernunft zu ü bersetzen, einen Trieb nach milder Sonne, heller und bewegter Luft, sü dlichen Pflanzen, Meeres‑ Athem, flü chtiger Fleisch‑, Eier‑ und Frü chtenahrung, heissem Wasser zum Geträ nke, tagelangen stillen Wanderungen, wenigem Sprechen, seltenem und vorsichtigem Lesen, einsamem Wohnen, reinlichen, schlichten und fast soldatischen Gewohnheiten, kurz nach allen Dingen, die gerade mir am besten schmecken, gerade mir am zuträ glichsten sind? Eine Philosophie, welche im Grunde der Instinct fü r eine persö nliche Diä t ist? Ein Instinct, welcher nach meiner Luft, meiner Hö he, meiner Witterung, meiner Art Gesundheit durch den Umweg meines Kopfes sucht? Es giebt viele andere und gewiss auch viele hö here Erhabenheiten der Philosophie, und nicht nur solche, welche dü sterer und anspruchsvoller sind, als die meinen, – vielleicht sind auch sie insgesammt nichts Anderes, als intellectuelle Umwege derartig persö nlicher Triebe? – Inzwischen sehe ich mit einem neuen Auge auf das heimliche und einsame Schwä rmen eines Schmetterlings, hoch an den Felsenufern des See's, wo viele gute Pflanzen wachsen: er fliegt umher, unbekü mmert darum, dass er nur das Leben Eines Tages noch lebt, und dass die Nacht zu kalt fü r seine geflü gelte Gebrechlichkeit sein wird. Es wü rde sich wohl auch fü r ihn eine Philosophie finden lassen: ob es schon nicht die meine sein mag. –

 

554.

 

Vorschritt. – Wenn man den Fortschritt rü hmt, so rü hmt man damit nur die Bewegung und Die, welche uns nicht auf der Stelle stehen bleiben lassen, – und damit ist gewiss unter Umstä nden viel gethan, insonderheit, wenn man unter Ä gyptern lebt. Im beweglichen Europa aber, wo sich die Bewegung, wie man sagt, »von selber versteht«– ach, wenn wir nur auch Etwas davon verstü nden! – lobe ich mir den Vorschritt und die Vorschreitenden, das heisst Die, welche sich selber immer wieder zurü cklassen und die gar nicht daran denken, ob ihnen Jemand sonst nachkommt. »Wo ich Halt mache, da finde ich mich allein: wozu sollte ich Halt machen! Die Wü ste ist noch gross! «– so empfindet ein solcher Vorschreitender.

 

555.

 

Die geringsten genü gen schon. – Man soll den Ereignissen aus dem Wege gehen, wenn man weiss, dass die geringsten sich schon stark genug auf uns einzeichnen, – und diesen entgeht man doch nicht. – Der Denker muss einen ungefä hren Kanon aller der Dinge in sich haben, welche er ü berhaupt noch erleben will.

 

556.

 

Die guten Vier. – Redlich gegen uns und was sonst uns Freund ist; tapfer gegen den Feind; grossmü thig gegen den Besiegten: hö flich – immer: so wollen uns die vier Cardinaltugenden.

 

557.

 

Auf einen Feind los. – Wie gut klingen schlechte Musik und schlechte Grü nde, wenn man auf einen Feind los marschirt!

 

558.

 

Aber auch nicht seine Tugenden verbergen! – Ich liebe die Menschen, welche durchsichtiges Wasser sind und die, mit Pope zu reden, auch» die Unreinlichkeiten auf dem Grunde ihres Stromes sehen lassen. «Selbst fü r sie giebt es aber noch eine Eitelkeit, freilich von seltener und sublimirter Art: Einige von ihnen wollen, dass man eben nur die Unreinlichkeiten sehe und die Durchsichtigkeit des Wassers, die diess mö glich macht, fü r Nichts achte. Kein Geringerer, als Gotama Buddha, hat die Eitelkeit dieser Wenigen erdacht, in der Formel: »lasset eure Sü nden sehen vor den Leuten und verberget eure Tugenden! «Diess heisst aber der Welt kein gutes Schauspiel geben, – es ist eine Sü nde wider den Geschmack.

 

559.

 

«Nicht zu sehr! « – Wie oft wird dem Einzelnen angerathen, sich ein Ziel zu setzen, das er nicht erreichen kann und das ü ber seine Krä fte geht, um so wenigstens Das zu erreichen, was seine Krä fte bei der allerhö chsten Anspannung leisten kö nnen! Ist diess aber wirklich so wü nschenswerth? Bekommen nicht nothwendig die besten Menschen, die nach dieser Lehre leben, und ihre besten Handlungen etwas ü bertriebenes und Verzerrtes, eben weil zu viel Spannung in ihnen ist? Und verbreitet sich nicht ein grauer Schimmer von Erfolglosigkeit dadurch ü ber die Welt, dass man immer kä mpfende Athleten, ungeheure Gebä rden und nirgends einen bekrä nzten und siegesgemuthen Sieger sieht?

 

560.

 

Was uns frei steht. – Man kann wie ein Gä rtner mit seinen Trieben schalten und, was Wenige wissen, die Keime des Zornes, des Mitleidens, des Nachgrü belns, der Eitelkeit so fruchtbar und nutzbringend ziehen wie ein schö nes Obst an Spalieren; man kann es thun mit dem guten und dem schlechten Geschmack eines Gä rtners und gleichsam in franzö sischer oder englischer oder hollä ndischer oder chinesischer Manier, man kann auch die Natur walten lassen und nur hier und da fü r ein Wenig Schmuck und Reinigung sorgen, man kann endlich auch ohne alles Wissen und Nachdenken die Pflanzen in ihren natü rlichen Begü nstigungen und Hindernissen aufwachsen und unter sich ihren Kampf auskä mpfen lassen, – ja, man kann an einer solchen Wildniss seine Freude haben und gerade diese Freude haben wollen, wenn man auch seine Noth damit hat. Diess Alles steht uns frei: aber wie Viele wissen denn davon, dass uns diess frei steht? Glauben nicht die Meisten an sich wie an vollendete ausgewachsene Thatsachen? Haben nicht grosse Philosophen noch ihr Siegel auf diess Vorurtheil gedrü ckt, mit der Lehre von der Unverä nderlichkeit des Charakters?

 

561.

 

Sein Glü ck auch leuchten lassen. – Wie die Maler, welche den tiefen, leuchtenden Ton des wirklichen Himmels auf keine Weise erreichen kö nnen, genö thigt sind, alle Farben, die sie zu ihrer Landschaft brauchen, um ein paar Tö ne niedriger zu nehmen, als die Natur sie zeigt: wie sie durch diesen Kunstgriff wieder eine Ä hnlichkeit im Glanze und eine Harmonie der Tö ne erreichen, welche der in der Natur entspricht: so mü ssen sich auch Dichter und Philosophen zu helfen wissen, denen der leuchtende Glanz des Glü ckes unerreichbar ist; indem sie alle Dinge um einige Grade dunkler fä rben, als sie sind, wirkt ihr Licht, auf welches sie sich verstehen, beinahe sonnenhaft und dem Lichte des vollen Glü cks ä hnlich. – Der Pessimist, der die schwä rzesten und dü stersten Farben allen Dingen giebt, verbraucht nur Flammen und Blitze, himmlische Glorien und Alles, was grelle Leuchtkraft hat und die Augen unsicher macht; bei ihm ist die Helle nur dazu da, das Entsetzen zu vermehren und mehr Schreckliches in den Dingen ahnen zu lassen, als sie haben.

 

562.

 

Die Sesshaften und die Freien. – Erst in der Unterwelt zeigt man uns Etwas von dem dü steren Hintergrunde aller jener Abenteurer‑ Seligkeit, welche um Odysseus und Seinesgleichen wie ein ewiges Meeresleuchten liegt, – von jenem Hintergrunde, den man dann nicht mehr vergisst: die Mutter des Odysseus starb aus Gram und Verlangen nach ihrem Kinde! Den Einen treibt es von Ort zu Ort, und dem Andern, dem Sesshaften und Zä rtlichen, bricht das Herz darü ber: so ist es immer! Der Kummer bricht Denen das Herz, welche es erleben, dass gerade ihr Geliebtester ihre Meinung, ihren Glauben verlä sst, – es gehö rt diess in die Tragö die, welche die freien Geister machen, – um die sie mitunter auch wissen! Dann mü ssen sie auch wohl einmal, wie Odysseus, zu den Todten steigen, um ihren Gram zu heben und ihre Zä rtlichkeit zu beschwichtigen.

 

563.

 

Der Wahn der sittlichen Weltordnung. – Es giebt gar keine ewige Nothwendigkeit, welche forderte, dass jede Schuld gebü sst und bezahlt werde, – es war ein schrecklicher, zum kleinsten Theile nü tzlicher Wahn, dass es eine solche gebe –; ebenso wie es ein Wahn ist, dass Alles eine Schuld ist, was als solche gefü hlt wird. Nicht die Dinge, sondern die Meinungen ü ber Dinge, die es gar nicht giebt, haben die Menschen so verstö rt!

 

564.

 

Gleich neben der Erfahrung! – Auch groß e Geister haben nur ihre fü nf Finger breite Erfahrung, – gleich daneben hö rt ihr Nachdenken auf: und es beginnt ihr unendlicher leerer Raum und ihre Dummheit.

 

565.

 

Wü rde und Unwissenheit im Bunde. – Wo wir verstehen, da werden wir artig, glü cklich, erfinderisch, und ü berall, wo wir nur genug gelernt und uns Augen und Ohren gemacht haben, zeigt unsere Seele mehr Geschmeidigkeit und Anmuth. Aber wir begreifen so Wenig und sind armselig unterrichtet, und so kommt es selten dazu, dass wir eine Sache umarmen und uns dabei selber liebenswerth machen: vielmehr gehen wir steif und unempfindlich durch die Stadt, die Natur, die Geschichte und bilden uns Etwas auf diese Haltung und Kä lte ein, als ob sie eine Wirkung der Ü berlegenheit sei. Ja, unsere Unwissenheit und unser geringer Durst nach Wissen verstehen sich trefflich darauf, als Wü rde, als Charakter einherzustolzieren.

 

566.

 

Wohlfeil leben. – Die wohlfeilste und harmloseste Art zu leben ist die des Denkers: denn, um gleich das Wichtigste zu sagen, er bedarf gerade der Dinge am meisten, welche die Anderen geringschä tzen und ü briglassen –. Sodann: er freut sich leicht und kennt keine kostspieligen Zugä nge zum Vergnü gen; seine Arbeit ist nicht hart, sondern gleichsam sü dlä ndisch; sein Tag und seine Nacht werden nicht durch Gewissensbisse verdorben; er bewegt sich, isst, trinkt und schlä ft nach dem Maasse, dass sein Geist immer ruhiger, krä ftiger und heller werde; er freut sich seines Leibes und hat keinen Grund, ihn zu fü rchten; er bedarf der Geselligkeit nicht, es sei denn von Zeit zu Zeit, um hinterher seine Einsamkeit um so zä rtlicher zu umarmen; er hat an den Todten Ersatz fü r Lebende, und selbst fü r Freunde einen Ersatz: nä mlich an den Besten, die je gelebt haben. – Man erwä ge, ob nicht die umgekehrten Gelü ste und Gewohnheiten es sind, welche das Leben der Menschen kostspielig, und folglich mü hsam, und oft unausstehlich machen. – In einem anderen Sinne freilich ist das Leben des Denkers das kostspieligste, – es ist Nichts zu gut fü r ihn; und gerade des Besten zu entbehren wä re hier eine unerträ gliche Entbehrung.

 

567.

 

Im Felde. – »Wir mü ssen die Dinge lustiger nehmen, als sie es verdienen; zumal wir sie lange Zeit ernster genommen haben, als sie es verdienen. «– So sprechen brave Soldaten der Erkenntniss.

 

568.

 

Dichter und Vogel. – Der Vogel Phö nix zeigte dem Dichter eine glü hende und verkohlende Rolle. »Erschrick nicht! sagte er, es ist dein Werk! Es hat nicht den Geist der Zeit und noch weniger den Geist Derer, die gegen die Zeit sind: folglich muss es verbrannt werden. Aber diess ist ein gutes Zeichen. Es giebt manche Arten von Morgenrö then. »

 

569.

 

An die Einsamen. – Wenn wir die Ehre anderer Personen nicht in unseren Selbstgesprä chen ebenso schonen, wie in der Ö ffentlichkeit, so sind wir unanstä ndige Menschen.

 

570.

 

Verluste. – Es giebt Verluste, welche der Seele eine Erhabenheit mittheilen, bei der sie sich des Jammerns enthä lt und sich wie unter hohen schwarzen Cypressen schweigend ergeht.

 

571.

 

FeldApotheke der Seele. – Welches ist das stä rkste Heilmittel? – Der Sieg.

 

572.

 

Das Leben soll uns beruhigen. – Wenn man, wie der Denker, fü r gewö hnlich in dem grossen Strome des Gedankens und Gefü hls lebt, und selbst unsere Trä ume in der Nacht diesem Strome folgen: so begehrt man vom Leben Beruhigung und Stille, – wä hrend Andere gerade vom Leben ausruhen wollen, wenn sie sich der Meditation ü bergeben.

 

573.

 

Sich hä uten. – Die Schlange, welche sich nicht hä uten kann, geht zu Grunde. Ebenso die Geister, welche man verhindert, ihre Meinungen zu wechseln; sie hö ren auf, Geist zu sein.

 

574.

 

Nicht zu vergessen! – je hö her wir uns erheben, um so kleiner erscheinen wir Denen, welche nicht fliegen kö nnen.

 

575.

 

Wir LuftSchifffahrer des Geistes! – Alle diese kü hnen Vö gel, die in's Weite, Weiteste hinausfliegen, – gewiss! irgendwo werden sie nicht mehr weiter kö nnen und sich auf einen Mast oder eine kä rgliche Klippe niederhocken – und noch dazu so dankbar fü r diese erbä rmliche Unterkunft! Aber wer dü rfte daraus schliessen, dass es vor ihnen keine ungeheuere freie Bahn mehr gebe, dass sie so weit geflogen sind, als man fliegen kö nne! Alle unsere grossen Lehrmeister und Vorlä ufer sind endlich stehen geblieben, und es ist nicht die edelste und anmuthigste Gebä rde, mit der die Mü digkeit stehen bleibt: auch mir und dir wird es so ergehen! Was geht das aber mich und dich an! Andere Vö gel werden weiter fliegen! Diese unsere Einsicht und Glä ubigkeit fliegt mit ihnen um die Wette hinaus und hinauf, sie steigt geradewegs ü ber unserm Haupte und ü ber seiner Ohnmacht in die Hö he und sieht von dort aus in die Ferne, sieht die Schaaren viel mä chtigerer Vö gel, als wir sind, voraus, die dahin streben werden wohin wir strebten, und wo Alles noch Meer, Meer, Meer ist! – Und wohin wollen wir denn? Wollen wir denn ü ber das Meer? Wohin reisst uns dieses mä chtige Gelü ste, das uns mehr gilt als irgend eine Lust? Warum doch gerade in dieser Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit untergegangen sind? Wird man vielleicht uns einstmals nachsagen, dass auch wir, nach Westen steuernd, ein Indien zu erreichen hofften, – dass aber unser Loos war, an der Unendlichkeit zu scheitern? Oder, meine Brü der? Oder? –

 



  

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