Хелпикс

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Drittes Buch 3 страница



 

130.

 

Zwecke? Willen? – Wir haben uns gewö hnt an zwei Reiche zu glauben, an das Reich der Zwecke und des Willens und an das Reich der Zufä lle; in letzterem geht es sinnlos zu, es geht, steht und fä llt darin, ohne dass Jemand sagen kö nnte wesshalb? wozu? – Wir fü rchten uns vor diesem mä chtigen Reiche der grossen kosmischen Dummheit, denn wir lernen es meistens so kennen, dass es in die andere Welt, in die der Zwecke und Absichten, hineinfä llt wie ein Ziegelstein vom Dache, und uns irgend einen schö nen Zweck todtschlä gt. Dieser Glaube an die zwei Reiche ist eine uralte Romantik und Fabel: wir klugen Zwerge, mit unserem Willen und unseren Zwecken, werden durch die dummen, erzdummen Riesen, die Zufä lle, belä stigt, ü ber den Haufen gerannt, oft todt getreten, – aber trotz alledem mö chten wir nicht ohne die schauerliche Poesie dieser Nachbarschaft sein, denn jene Unthiere kommen oft, wenn uns das Leben im Spinnennetze der Zwecke zu langweilig oder zu ä ngstlich geworden ist und geben eine erhabene Diversion, dadurch dass ihre Hand einmal das ganze Netz zerreisst, – nicht dass sie es gewollt hä tten, diese Unvernü nftigen! Nicht dass sie es nur merkten! Aber ihre groben Knochenhä nde greifen durch unser Netz hindurch, wie als ob es Luft wä re. – Die Griechen nannten diess Reich des Unberechenbaren und der erhabenen ewigen Bornirtheit Moira und stellten es als den Horizont um ihre Gö tter, ü ber den sie weder hinauswirken, noch – sehen kö nnen: mit jenem heimlichen Trotz gegen die Gö tter, welcher bei mehreren Vö lkern sich vorfindet, in der Gestalt, dass man sie zwar anbetet, aber einen letzten Trumpf gegen sie in der Hand behä lt, zum Beispiel wenn man als Inder oder Perser sie sich abhä ngig vom Opfer der Sterblichen denkt, sodass die Sterblichen schlimmsten Falls die Gö tter hungern und verhungern lassen kö nnen; oder wenn man wie der harte melancholische Skandinavier mit der Vorstellung einer einstmaligen Gö tter‑ Dä mmerung sich den Genuss der stillen Rache schafft, zum Entgelt fü r die bestä ndige Furcht, welche seine bö sen Gö tter ihm machen. Anders das Christenthum mit seinem weder indischen, noch persischen, noch griechischen, noch skandinavischen Grundgefü hle, welches den Geist der Macht im Staube anbeten und den Staub noch kü ssen hiess: diess gab zu verstehen, dass jenes allmä chtige» Reich der Dummheit «nicht so dumm sei wie es aussehe, dass wir vielmehr die Dummen seien, die nicht merkten, dass hinter ihm – der liebe Gott stehe, er, der zwar die dunklen, krummen und wunderbaren Wege liebe, aber zuletzt doch Alles» herrlich hinausfü hre«. Diese neue Fabel vom lieben Gott, der bisher als Riesengeschlecht oder Moira verkannt worden sei und der Zwecke und Netze selber spinne, feiner noch als die unseres Verstandes – sodass sie demselben unverstä ndlich, ja unverstä ndig erscheinen mü ssten – diese Fabel war eine so kü hne Umkehrung und ein so gewagtes Paradoxum, dass die zu fein gewordene alte Welt nicht zu widerstehen vermochte, so toll und widerspruchsvoll die Sache auch klang; – denn, im Vertrauen gesagt, es war ein Widerspruch darin: wenn unser Verstand den Verstand und die Zwecke Gottes nicht errathen kann, woher errieth er diese Beschaffenheit seines Verstandes? und diese Beschaffenheit von Gottes Verstande? – In der neueren Zeit ist in der That das Misstrauen gross geworden, ob der Ziegelstein, der vom Dache fä llt, wirklich von der «, gö ttlichen Liebe «herabgeworfen werde – und die Menschen fangen wieder an, in die alte Spur der Riesen‑ und Zwergen‑ Romantik zurü ckzugerathen. Lernen wir also, weil es hohe Zeit dazu ist: in unserm vermeintlichen Sonderreiche der Zwecke und der Vernunft regieren ebenfalls die Riesen! Und unsere Zwecke und unsere Vernunft sind keine Zwerge, sondern Riesen! Und unsere eigenen Netze werden durch uns selber ebenso oft und ebenso plump zerrissen wie von dem Ziegelsteine! Und es ist nicht Alles Zweck, was so genannt wird, und noch weniger Alles Wille, was Wille heisst! Und, wenn ihr schliessen wolltet: »es giebt also nur Ein Reich, das der Zufä lle und der Dummheit? «– so ist hinzuzufü gen: ja, vielleicht giebt es nur Ein Reich, vielleicht giebt es weder Willen noch Zwecke, und wir haben sie uns eingebildet. Jene eisernen Hä nde der Nothwendigkeit, welche den Wü rfelbecher des Zufalls schü tteln, spielen ihr Spiel unendliche Zeit: da mü ssen Wü rfe vorkommen, die der Zweckmä ssigkeit und Vernü nftigkeit jedes Grades vollkommen ä hnlich sehen. Vielleicht sind unsere Willensacte, unsere Zwecke nichts Anderes, als eben solche Wü rfe – und wir sind nur zu beschrä nkt und zu eitel dazu, unsere ä usserste Beschrä nktheit zu begreifen: die nä mlich, dass wir selber mit eisernen Hä nden den Wü rfelbecher schü tteln, dass wir selber in unseren absichtlichsten Handlungen Nichts mehr thun, als das Spiel der Nothwendigkeit zu spielen. Vielleicht! – Um ü ber diess Vielleicht hinauszukommen, mü sste man schon in der Unterwelt und jenseits aller Oberflä chen zu Gaste gewesen sein und am Tische der Persephone mit ihr selber gewü rfelt und gewettet haben.

 

131.

 

Die moralischen Moden. – Wie sich die moralischen Gesammt‑ Urtheile verschoben haben! Diese grö ssten Wunder der antiken Sittlichkeit, zum Beispiel Epiktet, wussten Nichts von der jetzt ü blichen Verherrlichung des Denkens an Andere, des Lebens fü r Andere; man wü rde sie nach unserer moralischen Mode geradezu unmoralisch nennen mü ssen, denn sie haben sich mit allen Krä ften fü r ihr ego und gegen die Mitempfindung mit den Anderen (namentlich mit deren Leiden und sittlichen Gebrechen) gewehrt. Vielleicht dass sie uns antworten wü rden: »habt ihr an euch selber einen so langweiligen oder hä sslichen Gegenstand, so denkt doch ja an Andere mehr, als an euch! Ihr thut gut daran! »

 

132.

 

Die ausklingende Christlichkeit in der Moral. – »On n'est bon que par la pitié: il faut donc qu'il y ait quelque pitié dans tous nos sentiments«– so klingt jetzt die Moral! Und woher kommt das? – Dass der Mensch der sympathischen, uninteressirten, gemeinnü tzigen, gesellschaftlichen Handlungen jetzt als der moralische empfunden wird, – das ist vielleicht die allgemeinste Wirkung und Umstimmung, welche das Christenthum in Europa hervorgebracht hat: obwohl sie weder seine Absicht, noch seine Lehre gewesen ist. Aber es war das residuum christlicher Stimmungen, als der sehr entgegengesetzte, streng egoistische Grundglaube an das» Eins ist noth«, an die absolute Wichtigkeit des ewigen persö nlichen Heils, mit den Dogmen, auf denen er ruhte, allmä hlich zurü cktrat, und der Nebenglaube an die» Liebe«, an die» Nä chstenliebe«, zusammenstimmend mit der ungeheuren Praxis der kirchlichen Barmherzigkeit, dadurch in den Vordergrund gedrä ngt wurde. Je mehr man sich von den Dogmen loslö ste, um so mehr suchte man gleichsam die Rechtfertigung dieser Loslö sung in einem Cultus der Menschenliebe: hierin hinter dem christlichen Ideale nicht zurü ckzubleiben, sondern es womö glich zu ü berbieten, war ein geheimer Sporn bei allen franzö sischen Freidenkern, von Voltaire bis auf Auguste Comte: und Letzterer hat mit seiner berü hmten Moralformel vivre pour autrui in der That das Christenthum ü berchristlicht. Auf deutschem Boden hat Schopenhauer, auf englischem John Stuart Mill der Lehre von den sympathischen Affectionen und vom Mitleiden oder vom Nutzen Anderer als dem Princip des Handelns die meiste Berü hmtheit gegeben: aber sie selber waren nur ein Echo, – jene Lehren sind mit einer gewaltigen Triebkraft ü berall und in den grö bsten und feinsten Gestalten zugleich aufgeschossen, ungefä hr von der Zeit der franzö sischen Revolution an, und alle socialistischen Systeme haben sich wie unwillkü rlich auf den gemeinsamen Boden dieser Lehren gestellt. Es giebt vielleicht jetzt kein besser geglaubtes Vorurtheil, als diess: dass man wisse, was eigentlich das Moralische ausmache. Es scheint jetzt Jedermann wohlzuthun, wenn er hö rt, dass die Gesellschaft auf dem Wege sei, den Einzelnen den allgemeinen Bedü rfnissen anzupassen und dass das Glü ck und zugleich das Opfer des Einzelnen darin liege, sich als ein nü tzliches Glied und Werkzeug des Ganzen zu fü hlen: nur dass man gegenwä rtig noch sehr schwankt, worin dieses Ganze zu suchen sei, ob in einem bestehenden oder zu begrü ndenden Staate, oder in der Nation oder in einer Vö lker‑ Verbrü derung oder in kleinen neuen wirthschaftlichen Gemeinsamkeiten. Hierü ber giebt es jetzt viel Nachdenken, Zweifeln, Kä mpfen, viel Aufregung und Leidenschaft; aber wundersam und wohltö nend ist die Eintracht in der Forderung, dass das ego sich zu verleugnen habe, bis es, in der Form der Anpassung an das Ganze, auch wieder seinen festen Kreis von Rechten und Pflichten bekomme, – bis es etwas ganz Neues und Anderes geworden sei. Man will nichts Geringeres – ob man es sich nun eingesteht oder nicht –, als eine grü ndliche Umbildung, ja Schwä chung und Aufhebung des Individuums: man wird nicht mü de, alles das Bö se und Feindselige, das Verschwenderische, das Kostspielige, das Luxushafte in der bisherigen Form des individuellen Daseins aufzuzä hlen und anzuklagen, man hofft wohlfeiler, ungefä hrlicher, gleichmä ssiger, einheitlicher zu wirthschaften, wenn es nur noch groß e Kö rper und deren Glieder giebt. Als gut wird Alles empfunden, was irgendwie diesem kö rper‑ und gliederbildenden Triebe und seinen Hü lfstrieben entspricht, diess ist der moralische Grundstrom in unserem Zeitalter; Mitempfindung und sociale Empfindung spielen dabei in einander ü ber. (Kant steht noch ausserhalb dieser Bewegung: er lehrt ausdrü cklich, dass wir gegen fremde Leiden unempfindlich sein mü ssen, wenn unser Wohlthun moralischen Werth haben soll, – was Schopenhauer, sehr ergrimmt, wie man begreifen wird, die Kantische Abgeschmacktheit nennt. )

 

133.

 

«Nicht mehr an sich denken. « – Man ü berlege es sich doch recht grü ndlich: warum springt man Einem, der vor uns in's Wasser fä llt, nach, obschon man ihm gar nicht geneigt ist? Aus Mitleid: man denkt da nur noch an den Anderen, – sagt die Gedankenlosigkeit. Warum empfindet man Schmerz und Unbehagen mit Einem, der Blut speit, wä hrend man ihm sogar bö se und feindlich gesinnt ist? Aus Mitleid: man denkt dabei eben nicht mehr an sich, – sagt die selbe Gedankenlosigkeit. Die Wahrheit ist: im Mitleid – ich meine in dem, was irrefü hrender Weise gewö hnlich Mitleid genannt zu werden pflegt, – denken wir zwar nicht mehr bewusst an uns, aber sehr stark unbewusst, wie wenn wir beim Ausgleiten eines Fusses, fü r uns jetzt unbewusst, die zweckmä ssigsten Gegenbewegungen machen und dabei ersichtlich allen unseren Verstand gebrauchen. Der Unfall des Andern beleidigt uns, er wü rde uns unserer Ohnmacht, vielleicht unserer Feigheit ü berfü hren, wenn wir ihm nicht Abhü lfe brä chten. Oder er bringt schon an sich eine Verringerung unsrer Ehre vor Anderen oder vor uns selber mit sich. Oder es liegt im Unfalle und Leiden eines Anderen ein Fingerzeig der Gefahr fü r uns; und schon als Merkmale der menschlichen Gefä hrdetheit und Gebrechlichkeit ü berhaupt kö nnen sie auf uns peinlich wirken. Diese Art Pein und Beleidigung weisen wir zurü ck und vergelten sie durch eine Handlung des Mitleidens, in ihr kann eine feine Nothwehr oder auch Rache sein. Dass wir im Grunde stark an uns denken, lä sst sich aus der Entscheidung errathen, welche wir in allen den Fä llen treffen, wo wir dem Anblicke des Leidenden, Darbenden, Jammernden aus dem Wege gehen kö nnen: wir entschliessen uns, es nicht zu thun, wenn wir als die Mä chtigeren, Helfenden hinzukommen kö nnen, des Beifalls sicher sind, unsern Glü cks‑ Gegensatz empfinden wollen oder auch uns durch den Anblick aus der Langenweile herauszureissen hoffen. Es ist irrefü hrend, das Leid, welches uns bei einem solchen Anblick angethan wird und das sehr verschiedener Art sein kann, Mit‑ Leid zu benennen, denn unter allen Umstä nden ist es ein Leid, von dem der vor uns Leidende frei ist: es ist uns zu eigen, wie ihm sein Leiden zu eigen ist. Nur dieses eigne Leid aber ist es, welches wir von uns abthun, wenn wir Handlungen des Mitleidens verü ben. Doch thun wir Etwas der Art nie aus Einem Motive; so gewiss wir uns dabei von einem Leiden befreien wollen, so gewiss geben wir bei der gleichen Handlung einem Antriebe der Lust nach, – Lust entsteht beim Anblick eines Gegensatzes unsrer Lage, bei der Vorstellung, helfen zu kö nnen, wenn wir nur wollten, bei dem Gedanken an Lob und Erkenntlichkeit, im Falle wir hä lfen, bei der Thä tigkeit der Hü lfe selber, insofern der Act gelingt und als etwas schrittweise Gelingendes dem Ausfü hrenden an sich Ergö tzen macht, namentlich aber in der Empfindung, dass unsere Handlung einer empö renden Ungerechtigkeit ein Ziel setzt (schon das Auslassen seiner Empö rung erquickt). Diess Alles, Alles, und noch viel Feineres hinzugerechnet, ist Mitleid«: – wie plump fä llt die Sprache mit ihrem Einen Worte ü ber so ein polyphones Wesen her! – Dass dagegen das Mitleiden einartig mit dem Leiden sei, bei dessen Anblick es entsteht, oder dass es ein besonders feines durchdringendes Verstehen fü r dasselbe habe, diess Beides widerspricht der Erfahrung, und wer es gerade in diesen beiden Hinsichten verherrlicht hat, dem fehlte eben auf diesem Bereiche des Moralischen die ausreichende Erfahrung. Das ist mein Zweifel bei all den unglaublichen Dingen, welche Schopenhauer vom Mitleide zu berichten weiss: er, der uns damit zum Glauben an seine grosse Neuigkeit bringen mö chte, das Mitleiden – eben das von ihm so mangelhaft beobachtete, so schlecht beschriebene Mitleiden – sei die Quelle aller und jeder ehemaligen und zukü nftigen moralischen Handlung – und gerade um der Fä higkeiten willen, die er ihm erst angedichtet hat. – Was unterscheidet schliesslich die Menschen ohne Mitleid von den mitleidigen? Vor Allem – um auch hier nur im Groben zu zeichnen – haben sie nicht die reizbare Phantasie der Furcht, das feine Vermö gen der Witterung fü r Gefahr; auch ist ihre Eitelkeit nicht so schnell beleidigt, wenn Etwas geschieht, das sie verhindern kö nnten (ihre Vorsicht des Stolzes gebietet ihnen, sich nicht unnü tz in fremde Dinge zu mischen, ja sie lieben es von sich selbst aus, dass jeder sich selber helfe und seine eigenen Karten spiele). Zudem sind sie an das Ertragen von Schmerzen meistens gewö hnter, als die Mitleidigen; auch will es ihnen nicht so unbillig dü nken, dass Andere leiden, da sie selber gelitten haben. Zuletzt ist ihnen der Zustand der Weichherzigkeit peinlich, wie den Mitleidigen der Zustand des stoischen Gleichmuthes; sie belegen ihn mit herabsetzenden Worten und meinen, dass ihre Mä nnlichkeit und kalte Tapferkeit dabei in Gefahr sei, – sie verheimlichen die Thrä ne vor Anderen und wischen sie ab, unwillig ü ber sich selber. Es ist eine andere Art von Egoisten, als die Mitleidigen; – sie aber im ausgezeichneten Sinne bö se, und die Mitleidigen gut zu nennen, ist Nichts, als eine moralische Mode, welche ihre Zeit hat: wie auch die umgekehrte Mode ihre Zeit gehabt hat, und eine lange Zeit!

 

134.

 

In wie fern man sich vor dem Mitleiden zu hü ten hat. – Das Mitleiden, sofern es wirklich Leiden schafft – und diess sei hier unser einziger Gesichtspunct –, ist eine Schwä che, wie jedes Sich‑ verlieren an einen schä digenden Affect. Es vermehrt das Leiden in der Welt: mag mittelbar auch hie und da in Folge des Mitleidens ein Leiden verringert oder gehoben werden, so darf man diese gelegentlichen und im Ganzen unbedeutenden Folgen nicht benutzen, um sein Wesen zu rechtfertigen, welches, wie gesagt, schä digend ist. Gesetzt, es herrschte auch nur Einen Tag: so gienge die Menschheit an ihm sofort zu Grunde. An sich hat es so wenig einen guten Charakter, wie irgend ein Trieb: erst dort, wo es gefordert und gelobt wird – und diess geschieht dort, wo man das Schä digende in ihm nicht begreift, aber eine Quelle der Lust darin entdeckt –, hä ngt sich ihm das gute Gewissen an, erst dann giebt man sich ihm gern hin und scheut nicht seine Kundgebung. Unter anderen Verhä ltnissen, wo begriffen wird, dass es schä digend ist, gilt es als Schwä che: oder, wie bei den Griechen, als ein krankhafter periodischer Affect, dem man durch zeitweilige willkü rliche Entladungen seine Gefä hrlichkeit nehmen kö nne. – Wer einmal, versuchsweise, den Anlä ssen zum Mitleiden im praktischen Leben eine Zeitlang absichtlich nachgeht und sich alles Elend, dessen er in seiner Umgebung habhaft werden kann, immer vor die Seele stellt, wird unvermeidlich krank und melancholisch. Wer aber gar als Arzt in irgend einem Sinne der Menschheit dienen will, wird gegen jene Empfindung sehr vorsichtig werden mü ssen, – sie lä hmt ihn in allen entscheidenden Augenblicken und unterbindet sein Wissen und seine hü lfreiche feine Hand.

 

135.

 

Das Bemitleidetwerden. – Unter Wilden denkt man mit moralischem Schauder an's Bemitleidetwerden: da ist man aller Tugend bar. Mitleid‑ gewä hren heisst so viel wie Verachten: ein verä chtliches Wesen will man nicht leiden sehen, es gewä hrt diess keinen Genuss. Dagegen einen Feind leiden zu sehen, den man als ebenbü rtig‑ stolz anerkennt und der unter Martern seinen Stolz nicht preisgiebt, und ü berhaupt jedes Wesen, welches sich nicht zum Mitleid‑ Anrufen, das heisst zur schmä hlichsten und tiefsten Demü thigung verstehen will, – das ist ein Genuss der Genü sse, dabei erhebt sich die Seele des Wilden zur Bewunderung: er tö dtet zuletzt einen solchen Tapferen, wenn er es in der Hand hat, und giebt ihm, dem Ungebrochenen, seine letzte Ehre: hä tte er gejammert, den Ausdruck des kalten Hohnes aus dem Gesichte verloren, hä tte er sich verä chtlich gezeigt, – nun, so hä tte er leben bleiben dü rfen, wie ein Hund, – er hä tte den Stolz des Zuschauenden nicht mehr gereizt und an Stelle der Bewunderung wä re Mitleiden getreten.

 

136.

 

Das Glü ck im Mitleiden. – Wenn man, wie die Inder, als Ziel der ganzen intellectuellen Thä tigkeit die Erkenntniss des menschlichen Elendes aufstellt und durch viele Geschlechter des Geistes hindurch einem solchen entsetzlichen Vorsatze treu bleibt: so bekommt endlich, im Auge solcher Menschen des erblichen Pessimismus', das Mitleiden einen neuen Werth, als lebenerhaltende Macht, um das Dasein doch auszuhalten, ob es gleich werth erscheint, vor Ekel und Grausen weggeworfen zu werden. Mitleiden wird das Gegenmittel gegen den Selbstmord, als eine Empfindung, welche Lust enthä lt und Ü berlegenheit in kleinen Dosen zu kosten giebt: es zieht von uns ab, macht das Herz voll, verscheucht die Furcht und die Erstarrung, regt zu Worten, Klagen und Handlungen an, – es ist verhä ltnissmä ssig ein Glü ck, gemessen am Elende der Erkenntniss, welche das Individuum von allen Seiten in die Enge und Dunkelheit treibt und ihm den Athem nimmt. Glü ck aber, welches es auch sei, giebt Luft, Licht und freie Bewegung.

 

137.

 

Warum das» Ich «verdoppeln! – Unsere eigenen Erlebnisse mit dem Auge ansehen, mit dem wir sie anzusehen pflegen, wenn es die Erlebnisse Anderer sind, – diess beruhigt sehr und ist eine rathsame Medicin. Dagegen die Erlebnisse Anderer so ansehen und aufnehmen, wie als ob sie die unseren wä ren – die Forderung einer Philosophie des Mitleidens –, diess wü rde uns zu Grunde richten, und in sehr kurzer Zeit: man mache doch nur den Versuch damit und phantasire nicht lä nger! Gewiss ist ausserdem jene erste Maxime der Vernunft und dem guten Willen zur Vernü nftigkeit gemä sser, denn wir urtheilen ü ber den Werth und Sinn eines Ereignisses objectiver, wenn es an Anderen hervortritt und nicht an uns: zum Beispiel ü ber den Werth eines Sterbefalles, eines Geldverlustes, einer Verleumdung. Mitleiden als Princip des Handelns, mit der Forderung: »leide so an dem ü bel des Andern, wie er selber leidet«, brä chte dagegen mit sich, dass der Ich‑ Gesichtspunct, mit seiner Ü bertreibung und Ausschweifung, auch noch der Gesichtspunct des Anderen, des Mitleidenden, werden mü sste: sodass wir an unserem Ich und am Ich des Anderen zugleich zu leiden hä tten und uns derart freiwillig mit einer doppelten Unvernunft beschwerten, anstatt die Last der eigenen so gering wie mö glich zu machen.

 

138.

 

Das Zä rtlicherwerden. – Wenn wir Jemanden lieben, ehren, bewundern und nun, hinterher, finden, dass er leidet, – immer mit grossem Erstaunen, weil wir nicht anders denken, als dass unser von ihm herströ mendes Glü ck aus einem ü berreichen Borne eigenen Glü ckes komme, – so ä ndert sich unser Gefü hl der Liebe, Verehrung und Bewunderung in etwas Wesentlichem: es wird zä rtlicher, das heisst: die Kluft zwischen ihm und uns scheint sich zu ü berbrü cken, eine Annä herung an Gleichheit scheint Statt zu finden. Jetzt erst gilt es uns als mö glich, ihm zurü ckgeben zu kö nnen, wä hrend er frü her ü ber unsere Dankbarkeit erhaben in unserer Vorstellung lebte. Es macht uns dieses Zurü ckgebenkö nnen eine grosse Freude und Erhebung. Wir suchen zu errathen, was seinen Schmerz lindert, und geben ihm diess; will er trö stliche Worte, Blicke, Aufmerksamkeiten, Dienste, Geschenke, – wir geben es; vor Allem aber: will er uns leidend ü ber sein Leid, so geben wir uns als leidend, haben aber bei alledem den Genuss der thä tigen Dankbarkeit: als welche, kurz gesagt, die gute Rache ist. Will und nimmt er gar Nichts von uns an, so gehen wir erkä ltet und traurig, fast gekrä nkt fort: es ist, als ob unsere Dankbarkeit zurü ckgewiesen wü rde, – und in diesem Ehrenpuncte ist der Gü tigste noch kitzlich. – Aus dem Allen folgt, dass, selbst fü r den gü nstigsten Fall, im Leiden etwas Erniedrigendes und im Mitleiden etwas Erhö hendes und Ü berlegenheit‑ Gebendes liegt; was beide Empfindungen auf ewig von einander trennt.

 

139.

 

Angeblich hö her! – Ihr sagt, die Moral des Mitleidens sei eine hö here Moral, als die des Stoicismus'? Beweist es! aber bemerkt, dass ü ber hö her «und» niedriger «in der Moral nicht wiederum nach moralischen Ellen abzumessen ist: denn es giebt keine absolute Moral. Nehmt also die Maassstä be anders woher und – nun seht euch vor!

 

140.

 

Loben und Tadeln. – Lä uft ein Krieg unglü cklich aus, so frä gt man nach Dem, der» Schuld «am Kriege sei; geht er siegreich zu Ende, so preist man seinen Urheber. Die Schuld wird ü berall gesucht, wo ein Misserfolg ist; denn dieser bringt eine Verstimmung mit sich, gegen welche das einzige Heilmittel unwillkü rlich angewendet wird: eine neue Erregung des Machtgefü hls – und diese findet sich in der Verurtheilung des» Schuldigen«. Dieser Schuldige ist nicht etwa der Sü ndenbock der Schuld Anderer: er ist das Opfer der Schwachen, Gedemü thigten, Herabgestimmten, welche irgend woran sich beweisen wollen, dass sie noch Stä rke haben. Auch sich selber verurtheilen kann ein Mittel sein, nach einer Niederlage sich zum Gefü hl der Stä rke zu verhelfen. – Dagegen ist die Verherrlichung des Urhebers oftmals das ebenso blinde Ergebniss eines anderen Triebes, der sein Opfer haben will, – und diessmal riecht das Opfer dem Opferthiere selber sü ss und einladend –. wenn nä mlich das Gefü hl der Macht in einem Volke, in einer Gesellschaft durch einen grossen und bezaubernden Erfolg ü berfü llt ist und eine Ermü dung am Siege eintritt, so giebt man von seinem Stolze ab; es erhebt sich das Gefü hl der Hingebung und sucht sich sein Object. – Ob wir getadelt oder gelobt werden, wir sind gewö hnlich dabei die Gelegenheiten, und allzuoft die willkü rlich am Schopf gefassten und herbeigeschleppten Gelegenheiten fü r unsere Nä chsten, den in ihnen angeschwollenen Trieb des Tadelns oder Lobens ausströ men zu lassen: wir erzeigen ihnen in beiden Fä llen eine Wohlthat, an der wir kein Verdienst und fü r die sie keinen Dank haben.

 

141.

 

Schö ner, aber weniger werth. – Malerische Moralitä t: das ist die Moralitä t der steil aufschiessenden Affecte, der schroffen Ü bergä nge, der pathetischen, eindringlichen, furchtbaren, feierlichen Gebä rden und Tö ne. Es ist die halbwilde Stufe der Moralitä t: man lasse sich durch ihren ä sthetischen Reiz nicht verlocken, ihr einen hö heren Rang anzuweisen.

 

142.

 

Mitempfindung. – Um den Anderen zu verstehen, das heisst, um sein Gefü hl in uns nachzubilden, gehen wir zwar hä ufig auf den Grund seines so und so bestimmten Gefü hls zurü ck und fragen zum Beispiel: warum ist er betrü bt? – um dann aus dem selben Grunde selber betrü bt zu werden; aber viel gewö hnlicher ist es, diess zu unterlassen und das Gefü hl nach den Wirkungen, die es am Anderen ü bt und zeigt, in uns zu erzeugen, indem wir den Ausdruck seiner Augen, seiner Stimme, seines Ganges, seiner Haltung (oder gar deren Abbild in Wort, Gemä lde, Musik) an unserem Leibe nachbilden (mindestens bis zu einer leisen Ä hnlichkeit des Muskelspiels und der Innervation). Dann entsteht in uns ein ä hnliches Gefü hl, in Folge einer alten Association von Bewegung und Empfindung, welche darauf eingedrillt ist, rü ckwä rts und vorwä rts zu laufen. In dieser Geschicklichkeit, die Gefü hle des Andern zu verstehen, haben wir es sehr weit gebracht, und fast unwillkü rlich sind wir in Gegenwart eines Menschen immer in der Ü bung dieser Geschicklichkeit: man sehe sich namentlich das Linienspiel in den weiblichen Gesichtern an, wie es ganz vom unaufhö rlichen Nachbilden und Wiederspiegeln dessen, was um sie herum empfunden wird, erzittert und glä nzt. Am deutlichsten aber zeigt uns die Musik, welche Meister wir im schnellen und feinen Errathen von Gefü hlen und in der Mitempfindung sind: wenn nä mlich Musik ein Nachbild vom Nachbild von Gefü hlen ist und doch, trotz dieser Entfernung und Unbestimmtheit, uns noch oft genug derselben theilhaftig macht, sodass wir traurig werden, ohne den geringsten Anlass zur Trauer, wie vollkommene Narren, blos weil wir Tö ne und Rhythmen hö ren, welche irgendwie an den Stimmklang und die Bewegung von Trauernden, oder gar von deren Gebrä uchen, erinnern. Man erzä hlt von einem dä nischen Kö nig, dass er von der Musik eines Sä ngers so in kriegerische Begeisterung hineingerissen wurde, dass er aufsprang und fü nf Personen seines versammelten Hofstaates tö dtete: es gab keinen Krieg, keinen Feind, vielmehr von Allem das Gegentheil, aber die vom Gefü hle zur Ursache zurü ckschliessende Kraft war stark genug, um den Augenschein und die Vernunft zu ü berwä ltigen. Allein, diess ist eben fast immer die Wirkung der Musik (gesetzt, dass sie eben wirkt – ) und man braucht so paradoxer Fä lle nicht, um diess einzusehen: der Zustand des Gefü hls, in den uns die Musik bringt, ist fast jedesmal im Widerspruch mit dem Augenschein unserer wirklichen Lage und der Vernunft, welche diese wirkliche Lage und ihre Ursachen erkennt. – Fragen wir, wodurch die Nachbildung der Gefü hle Anderer uns so gelä ufig geworden ist, so bleibt kein Zweifel ü ber die Antwort: der Mensch, als das furchtsamste aller Geschö pfe, vermö ge seiner feinen und zerbrechlichen Natur, hat in seiner Furchtsamkeit die Lehrmeisterin jener Mitempfindung, jenes schnellen Verstä ndnisses fü r das Gefü hl des Andern (auch des Thieres) gehabt. In langen Jahrtausenden sah er in allem Fremden und Belebten eine Gefahr: er bildete sofort bei einem solchen Anblick den Ausdruck der Zü ge und der Haltung nach und machte seinen Schluss ü ber die Art der bö sen Absicht hinter diesen Zü gen und dieser Haltung. Dieses Ausdeuten aller Bewegungen und Linien auf Absichten hat der Mensch sogar auf die Natur der unbeseelten Dinge angewendet – im Wahne, dass es nichts Unbeseeltes gebe: ich glaube, Alles, was wir Naturgefü hl nennen, beim Anblick von Himmel, Flur, Fels, Wald, Gewitter, Sternen, Meer, Landschaft, Frü hling, hat hier seine Herkunft, – ohne die uralte Ü bung der Furcht, diess Alles auf einen zweiten dahinterliegenden Sinn hin zu sehen, hä tten wir jetzt keine Freude an der Natur, wie wir keine Freude an Mensch und Thier haben wü rden, ohne jene Lehrmeisterin des Verstehens, die Furcht. Die Freude und das angenehme Erstaunen, endlich das Gefü hl des Lä cherlichen, sind nä mlich die spä ter geborenen Kinder der Mitempfindung und die viel jü ngeren Geschwister der Furcht. – Die Fä higkeit des raschen Verstehens – welche somit auf der Fä higkeit beruht, sich rasch zu verstellen – nimmt bei stolzen selbstherrlichen Menschen und Vö lkern ab, weil sie weniger Furcht haben: dagegen sind alle Arten des Verstehens und Sich‑ Verstellens unter den ä ngstlichen Vö lkern zu Hause; hier ist auch die rechte Heimath der nachahmenden Kü nste und der hö heren Intelligenz. – Wenn ich von einer solchen Theorie der Mitempfindung aus, wie ich sie hier vorschlage, an die jetzt gerade beliebte und heilig gesprochene Theorie eines mystischen Processes denke, vermö ge dessen das Mitleid aus zwei Wesen eines macht und dergestalt dem einen das unmittelbare Verstehen des anderen ermö glicht: wenn ich mich erinnere, dass ein so heller Kopf wie der Schopenhauer's an solchem schwä rmerischen und nichtswü rdigen Krimskrams seine Freude hatte und diese Freude wieder auf helle und halbhelle Kö pfe ü bergepflanzt hat: so weiss ich der Verwunderung und des Erbarmens kein Ende. Wie gross muss unsere Lust am unbegreiflichen Unsinn sein! Wie nahe dem Verrü ckten steht immer noch der ganze Mensch, wenn er auf seine geheimen intellectuellen Wü nsche hinhö rt! – (Wofü r eigentlich fü hlte sich Schopenhauer gegen Kant so dankbar gestimmt, so tief verpflichtet? Es verrä th sich einmal ganz unzweideutig: Jemand hatte davon gesprochen, wie dem kategorischen Imperative Kant's die qualitas occulta genommen und er begreiflich gemacht werden kö nne. Darü ber bricht Schopenhauer in diese Worte aus: »Begreiflichkeit des kategorischen Imperativs! Grundverkehrter Gedanke! Ä gyptische Finsterniss! Das verhü te der Himmel, dass der nicht noch begreiflich werde! Eben dass es ein Unbegreifliches giebt, dass dieser Jammer des Verstandes und seine Begriffe begrä nzt, bedingt, endlich, trü glich ist; diese Gewissheit ist Kant's grosses Geschenk. «– Man erwä ge, ob Jemand einen guten Willen zur Erkenntniss der moralischen Dinge hat, der von vornherein durch den Glauben an die Unbegreiflichkeit dieser Dinge sich beseligt fü hlt! Einer, der noch ehrlich an Erleuchtungen von Oben, an Magie und Geistererscheinungen und die metaphysische Hä sslichkeit der Krö te glaubt! )



  

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