Хелпикс

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Zweites Buch. Drittes Buch. Viertes Buch



149.

 

Kleine abweichende Handlungen thun noth! – In den Angelegenheiten der Sitte auch einmal wider seine bessere Einsicht handeln; hier in der Praxis nachgeben und sich die geistige Freiheit vorbehalten; es so machen wie Alle und damit Allen eine Artigkeit und Wohlthat erweisen, zur Entschä digung gleichsam fü r das Abweichende unserer Meinungen: – das gilt bei vielen leidlich freigesinnten Menschen nicht nur als unbedenklich, sondern als» honett«, »human«, »tolerant«, »nicht pedantisch«, und wie die schö nen Worte lauten mö gen, mit denen das intellectuelle Gewissen in Schlaf gesungen wird: und so bringt Dieser sein Kind zur christlichen Taufe herzu und ist dabei Atheist, und Jener thut Kriegsdienste wie alle Welt, so sehr er auch den Vö lkerhass verdammt, und ein Dritter lä uft mit einem Weibchen in die Kirche, weil es eine fromme Verwandtschaft hat, und macht Gelü bde vor einem Priester, ohne sich zu schä men. »Es ist nicht wesentlich, wenn Unsereiner auch thut, was Alle immerdar thun und gethan haben«– so klingt das grobe Vorurtheil! Der grobe Irrthum! Denn es giebt nichts Wesentlicheres, als wenn das bereits Mä chtige, Altherkö mmliche und vernunftlos Anerkannte durch die Handlung eines anerkannt Vernü nftigen noch einmal bestä tigt wird: damit erhä lt es in den Augen Aller, die davon hö ren, die Sanction der Vernunft selber! Alle Achtung vor eueren Meinungen! Aber kleine abweichende Handlungen sind mehr werth!

 

150.

 

Der Zufall der Ehen. – Wä re ich ein Gott, und ein wohlwollender Gott, so wü rden mich die Ehen der Menschen mehr als alles Andere ungeduldig machen. Weit, weit kann ein Einzelner vorwä rts kommen, in seinen siebenzig, ja in seinen dreissig Jahren, – es ist zum Erstaunen, selbst fü r Gö tter! Aber sieht man dann, wie er das Erbe und Vermä chtniss dieses Ringens und Siegens, den Lorber seiner Menschlichkeit, an den ersten besten Ort aufhä ngt, wo ihn ein Weiblein zerpflü ckt; sieht man, wie gut er zu erringen, wie schlecht zu bewahren versteht, ja wie er gar nicht daran denkt, dass er vermittelst der Zeugung ein noch siegreicheres Leben vorbereiten kö nne: so wird man, wie gesagt, ungeduldig und sagt sich» es kann aus der Menschheit auf die Dauer Nichts werden, die Einzelnen werden verschwendet, der Zufall der Ehen macht alle Vernunft eines grossen Ganges der Menschheit unmö glich; – hö ren wir auf, die eifrigen Zuschauer und Narren dieses Schauspiels ohne Ziel zu sein! «– In dieser Stimmung zogen sich einstmals die Gö tter Epikur's in ihre gö ttliche Stille und Seligkeit zurü ck: sie waren der Menschen und ihrer Liebeshä ndel mü de.

 

151.

 

Hier sind neue Ideale zu erfinden. – Es sollte nicht erlaubt sein, im Zustande der Verliebtheit einen Entschluss ü ber sein Leben zu fassen und einer heftigen Grille wegen den Charakter seiner Gesellschaft ein fü r allemal festzusetzen: man sollte die Schwü re der Liebenden ö ffentlich fü r ungü ltig erklä ren und ihnen die Ehe verweigern: – und zwar, weil man die Ehe unsä glich wichtiger nehmen sollte! so dass sie in solchen Fä llen, wo sie bisher zu Stande kam, fü r gewö hnlich gerade nicht zu Stande kä me! Sind nicht die meisten Ehen der Art, dass man keinen Dritten als Zeugen wü nscht? Und gerade dieser Dritte fehlt fast nie – das Kind – und ist mehr als ein Zeuge, nä mlich der Sü ndenbock!

 

152.

 

Eidformel. – »Wenn ich jetzt lü ge, so bin ich kein anstä ndiger Mensch mehr, und Jeder soll es mir in's Gesicht sagen dü rfen. «– Diese Formel empfehle ich an Stelle des gerichtlichen Eides und der ü blichen Anrufung Gottes dabei: sie ist stä rker. Auch der Fromme hat keinen Grund, sich ihr zu widersetzen: sobald nä mlich der bisherige Eid nicht mehr hinreichend nü tzt, muss der Fromme auf seinen Katechismus hö ren, welcher vorschreibt» du sollst den Namen Gottes deines Herrn nicht unnü tzlich fü hren! »

 

153.

 

Ein Unzufriedener. – Das ist einer jener alten Tapferen: er ä rgert sich ü ber die Civilisation, weil er meint, dieselbe ziele darauf, alle guten Dinge, Ehren, Schä tze, schö ne Weiber, – auch den Feigen zugä nglich zu machen.

 

154.

 

Trost der Gefä hrdeten. – Die Griechen, in einem Leben, welches grossen Gefahren und Umstü rzen sehr nahe stand, suchten im Nachdenken und Erkennen eine Art Sicherheit des Gefü hls und letztes refugium. Wir, in einem unvergleichlich sichreren Zustande, haben die Gefä hrlichkeit in's Nachdenken und Erkennen getragen, und erholen und beruhigen uns von ihr am Leben.

 

155.

 

Erloschene Skepsis. – Kü hne Wagnisse sind in der neuen Zeit seltener, als in der alten und mittelalterlichen, – wahrscheinlich desshalb, weil die neue Zeit nicht mehr den Glauben an Vorzeichen, Orakel, Gestirne und Wahrsager hat. Das heisst: wir sind dazu unfä hig geworden, an eine uns bestimmte Zukunft zu glauben, so wie die Alten glaubten, welche – anders, als wir – in Beziehung auf Das, was kommt, viel weniger Skeptiker waren, als in Beziehung auf das, was da ist.

 

156.

 

Aus Ü bermuth bö se. – »Dass wir uns nur nicht zu wohl fü hlen! «– das war die heimliche Herzensangst der Griechen in der guten Zeit. Desshalb predigten sie sich das Maass. Und wir!

 

157.

 

Cultus der» Naturlaute«. – Wohin weist es, dass unsere Cultur gegen die Aeusserungen des Schmerzes, gegen Thrä nen, Klagen, Vorwü rfe, Gebä rden der Wuth oder der Demü thigung, nicht nur geduldig ist, dass sie dieselben gut heisst und unter die edleren Unvermeidlichkeiten rechnet? – wä hrend der Geist der antiken Philosophie mit Verachtung auf sie sah und ihnen durchaus keine Nothwendigkeit zuerkannte. Man erinnere sich doch, wie Plato – das heisst: keiner von den unmenschlichsten Philosophen – von dem Philoktet der tragischen Bü hne redet. Sollte unsrer modernen Cultur vielleicht» die Philosophie «fehlen? Sollten wir, nach der Abschä tzung jener alten Philosophen, vielleicht sammt und sonders zum» Pö bel «gehö ren?

 

158.

 

Clima des Schmeichlers. – Die hü ndischen Schmeichler muss man jetzt nicht mehr in der Nä he der Fü rsten suchen, – diese haben alle den militä rischen Geschmack, und der Schmeichler geht wider diesen. Aber in der Nä he der Banquiers und Kü nstler wä chst jene Blume auch jetzt noch.

 

159.

 

Die Todtenerwecker. – Eitle Menschen schä tzen ein Stü ck Vergangenheit von dem Augenblick an hö her, von dem an sie es nachzuempfinden vermö gen (zumal wenn diess schwierig ist), ja sie wollen es womö glich jetzt wieder von den Todten erwecken. Da der Eiteln aber immer eine Unzahl da ist, so ist die Gefahr der historischen Studien, sobald eine ganze Zeit ihnen obliegt, in der That nicht gering: es wird zu viel Kraft an alle mö glichen Todten‑ Erweckungen weggeworfen. Vielleicht versteht man die ganze Bewegung der Romantik am besten aus diesem Gesichtspuncte.

 

160.

 

Eitel, begehrlich und wenig weise. – Eure Begierden sind grö sser, als euer Verstand, und eure Eitelkeit ist noch grö sser, als eure Begierden, – solchen Menschen, wie ihr seid, ist von Grund aus recht viel christliche Praxis und dazu ein Wenig Schopenhauerische Theorie anzurathen!

 

161.

 

Schö nheit gemä ss dem Zeitalter. – Wenn unsere Bildhauer, Maler und Musiker den Sinn der Zeit treffen wollen, so mü ssen sie die Schö nheit gedunsen, riesenhaft und nervö s bilden: so wie die Griechen, im Banne ihrer Moral des Maasses, die Schö nheit als Apollo vom Belvedere sahen und bildeten. Wir sollten ihn eigentlich hä sslich nennen! Aber die albernen» Classicisten «haben uns um alle Ehrlichkeit gebracht!

 

162.

 

Die Ironie der Gegenwä rtigen. – Augenblicklich ist es Europä er‑ Art, alle grossen Interessen mit Ironie zu behandeln, weil man vor Geschä ftigkeit in ihrem Dienste keine Zeit hat, sie ernst zu nehmen.

 

163.

 

Gegen Rousseau. – Wenn es wahr ist, dass unsere Civilisation etwas Erbä rmliches an sich hat: so habt ihr die Wahl, mit Rousseau weiterzuschliessen» diese erbä rmliche Civilisation ist Schuld an unserer schlechten Moralitä t «oder gegen Rousseau zurü ckzuschliessen» unsere gute Moralitä t ist Schuld an dieser Erbä rmlichkeit der Civilisation. Unsere schwachen, unmä nnlichen gesellschaftlichen Begriffe von gut und bö se und die ungeheuere Ü berherrschaft derselben ü ber Leib und Seele haben alle Leiber und alle Seelen endlich schwach gemacht und die selbstä ndigen, unabhä ngigen, unbefangenen Menschen, die Pfeiler einer starken Civilisation, zerbrochen: wo man der schlechten Moralitä t jetzt noch begegnet, da sieht man die letzten Trü mmer dieser Pfeiler. «So stehe denn Paradoxon gegen Paradoxon! Unmö glich kann hier die Wahrheit auf beiden Seiten sein: und ist sie ü berhaupt auf einer von beiden? Man prü fe.

 

164.

 

Vielleicht verfrü ht. – Gegenwä rtig scheint es so, dass unter allerhand falschen irrefü hrenden Namen und zumeist in grosser Unklarheit von Seiten Derer, welche sich nicht an die bestehenden Sitten und Gesetze gebunden halten, die ersten Versuche gemacht werden, sich zu organisiren und damit sich ein Recht zu schaffen: wä hrend sie bisher, als Verbrecher, Freidenker, Unsittliche, Bö sewichte verschrieen, unter dem Banne der Vogelfreiheit und des schlechten Gewissens, verderbt und verderbend, lebten. Diess sollte man im Ganzen und Grossen billig und gut finden, wenn es auch das kommende Jahrhundert zu einem gefä hrlichen macht und Jedem das Gewehr um die Schulter hä ngt: schon damit eine Gegenmacht da ist, die immer daran erinnert, dass es keine allein‑ moralisch‑ machende Moral giebt und dass jede ausschliesslich sich selber bejahende Sittlichkeit zu viel gute Kraft tö dtet und der Menschheit zu theuer zu stehen kommt. Die Abweichenden, welche so hä ufig die Erfinderischen und Fruchtbaren sind, sollen nicht mehr geopfert werden; es soll nicht einmal mehr fü r schä ndlich gelten, von der Moral abzuweichen, in Thaten und Gedanken; es sollen zahlreiche neue Versuche des Lebens und der Gemeinschaft gemacht werden; es soll eine ungeheuere Last von schlechtem Gewissen aus der Welt geschafft werden, – diese allgemeinsten Ziele sollten von allen Redlichen und Wahrheitsuchenden anerkannt und gefö rdert werden!

 

165.

 

Welche Moral nicht langweilt. – Die sittlichen Hauptgebote, die ein Volk sich immer wieder lehren und vorpredigen lä sst, stehen in Beziehung zu seinen Hauptfehlern, und desshalb werden sie ihm nicht langweilig. Die Griechen, denen die Mä ssigung, der kalte Muth, der gerechte Sinn und ü berhaupt die Verstä ndigkeit allzuoft abhanden kamen, hatten ein Ohr fü r die vier sokratischen Tugenden, – denn man hatte sie so nö thig und doch gerade fü r sie so wenig Talent!

 

166.

 

Am Scheidewege. – Pfui! ihr wollt in ein System hinein, wo man entweder Rad sein muss, voll und ganz, oder unter die Rä der gerä th! wo es sich von selber versteht, dass Jeder Das ist, wozu er von Oben her gemacht wird! Wo das Suchen nach» Connexion «zu den natü rlichen Pflichten gehö rt! wo Keiner sich beleidigt fü hlt, wenn er auf einen Mann mit dem Winke aufmerksam gemacht wird» er kann Ihnen einmal nü tzen«; wo man sich nicht schä mt, Besuche zu machen, um die Fü rsprache einer Person zu erbitten! wo man nicht einmal ahnt, wie man sich durch eine geflissentliche Einordnung in solche Sitten ein fü r allemal als geringe Tö pferwaare der Natur bezeichnet hat, welche Andere verbrauchen und zerbrechen dü rfen, ohne sich sehr dafü r verantwortlich zu fü hlen; gleich als ob man sagte: »an solcher Art, wie ich bin, wird es nie Mangel geben: nehmt mich hin! Ohne Umstä nde! «–

 

167.

 

Die unbedingten Huldigungen. – Wenn ich an den gelesensten deutschen Philosophen, an den gehö rtesten deutschen Musiker und an den angesehensten deutschen Staatsmann denke, so muss ich mir eingestehen: es wird den Deutschen, diesem Volke der unbedingten Gefü hle, jetzt recht sauer gemacht, und zwar von ihren eigenen grossen Mä nnern. Es giebt da dreimal ein prachtvolles Schauspiel zu sehen: jedesmal einen Strom, in seinem eigenen, selbstgegrabenen Strombette, und so mä chtig bewegt, dass es ö fter scheinen kö nnte, als wollte er den Berg hinaufströ men. Und dennoch, wie weit man seine Verehrung auch treiben mö ge: wer mö chte nicht gern anderer Meinung sein, als Schopenhauer, im Ganzen und Grossen! – Und wer kö nnte jetzt Einer Meinung mit Richard Wagner sein, im Ganzen und im Kleinen? so wahr es auch sein mag, was Jemand gesagt hat, dass. ü berall, wo er Anstoss nimmt und wo er Anstoss giebt, ein Problem vergraben liegt, – genug, er selber bringt es nicht an das Licht. – Und endlich, wie Viele mö chten von ganzem Herzen mit Bismarck Einer Meinung sein, wenn er selber nur mit sich Einer Meinung wä re oder auch nur Miene machte, es fü rderhin zu sein! Zwar: ohne Grundsä tze, aber mit Grundtrieben, ein beweglicher Geist im Dienste starker Grundtriebe, und eben desshalb ohne Grundsä tze, – das sollte an einem Staatsmanne nichts Auffä lliges haben, vielmehr als das Rechte und Naturgemä sse gelten; aber leider war es bisher so durchaus nicht deutsch! ebenso wenig, als Lä rm um Musik, und Missklang und Missmuth um den Musiker, ebenso wenig, als die neue und ausserordentliche Stellung, welche Schopenhauer wä hlte: nä mlich weder ü ber den Dingen, noch auf den Knieen vor den Dingen – beides hä tte noch deutsch heissen kö nnen –, sondern gegen die Dinge! Unglaublich! Und unangenehm! Sich in Eine Reihe mit den Dingen stellen und doch als ihr Gegner, zu guterletzt gar als der Gegner seiner selber! – was kann der unbedingte Verehrer mit einem solchen Vorbilde anfangen! Und was ü berhaupt mit drei solchen Vorbildern, die unter einander selber nicht Frieden halten wollen! Da ist Schopenhauer ein Gegner der Musik Wagner's, und Wagner ein Gegner der Politik Bismarck's, und Bismarck ein Gegner aller Wagnerei und Schopenhauerei! Was bleibt da zu thun! Wohin sich mit seinem Durste nach der» Huldigung in Bausch und Bogen «flü chten! Kö nnte man sich vielleicht aus der Musik des Musikers einige hundert Tacte guter Musik auslesen, die sich Einem an's Herz legen und denen man sich gern an's Herz legt, weil sie ein Herz haben, – kö nnte man mit diesem kleinen Raub bei Seite gehen und den ganzen Rest vergessen? Und ein eben solches Abkommen in Hinsicht des Philosophen und des Staatsmannes ausfindig machen, – auslesen, sich an's Herz legen und namentlich den Rest vergessen? Ja, wenn nur das Vergessen nicht so schwer wä re! Da gab es einen sehr stolzen Menschen, der durchaus nur von sich selber Etwas annehmen wollte, Gutes und Schlimmes: als er aber das Vergessen nö thig hatte, konnte er es sich selber nicht geben, sondern musste dreimal die Geister beschwö ren; sie kamen, sie hö rten sein Verlangen, und zuletzt sagten sie: »nur diess gerade steht nicht in unserer Macht! «Sollten die Deutschen sich die Erfahrung Manfred's nicht zu Nutze machen? Warum erst noch die Geister beschwö ren! Es ist unnü tz, man vergisst nicht, wenn man vergessen will. Und wie gross wä re» der Rest«, den man hier, von diesen drei Grö ssen der Zeit, vergessen mü sste, um fü rderhin ihr Verehrer in Bausch und Bogen sein zu kö nnen! Da ist es doch rä thlicher, die gute Gelegenheit zu benutzen und etwas Neues zu versuchen: nä mlich in der Redlichkeit gegen sich selber zuzunehmen und aus einem Volke des glä ubigen Nachsprechens und der bitterbö sen blinden Feindseligkeit ein Volk der bedingten Zustimmung und der wohlwollenden Gegnerschaft zu werden; zunä chst aber zu lernen, dass unbedingte Huldigungen vor Personen etwas Lä cherliches sind, dass hierin Umlernen auch fü r Deutsche nicht unrü hmlich ist, und dass es einen tiefen, beherzigenswerthen Spruch giebt: »Ce qui importe, ce ne sont point les personnes: mais les choses. «Dieser Spruch ist wie Der, welcher ihn sprach, gross, brav, einfach und schweigsam, – ganz wie Carnot, der Soldat und der Republicaner. – Aber darf man jetzt so von einem Franzosen zu Deutschen sprechen, noch dazu von einem Republicaner? Vielleicht nicht; ja, vielleicht darf man nicht einmal daran erinnern, was Niebuhr seiner Zeit den Deutschen sagen durfte: Niemand habe ihm so sehr den Eindruck der wahren Grö sse gegeben, als Carnot.

 

168.

 

Ein Vorbild. – Was liebe ich an Thukydides, was macht, dass ich ihn hö her ehre, als Plato? Er hat die umfä nglichste und unbefangenste Freude an allem Typischen des Menschen und der Ereignisse und findet, dass zu jedem Typus ein Quantum guter Vernunft gehö rt: diese sucht er zu entdecken. Er hat eine grö ssere praktische Gerechtigkeit, als Plato; er ist kein Verlä sterer und Verkleinerer der Menschen, die ihm nicht gefallen oder die ihm im Leben wehe gethan haben. Im Gegentheil: er sieht etwas Grosses in alle Dinge und Personen hinein und zu ihnen hinzu, indem er nur Typen sieht; was hä tte auch die ganze Nachwelt, der er sein Werk weiht, mit dem zu schaffen, was nicht typisch wä re! So kommt in ihm, dem Menschen‑ Denker, jene Cultur der unbefangensten Weltkenntniss zu einem letzten herrlichen Ausblü hen, welche in Sophokles ihren Dichter, in Perikles ihren Staatsmann, in Hippokrates ihren Arzt, in Demokrit ihren Naturforscher hatte: jene Cultur, welche auf den Namen ihrer Lehrer, der Sophisten, getauft zu werden verdient und leider von diesem Augenblicke der Taufe an uns auf einmal blass und unfassbar zu werden beginnt, – denn nun argwö hnen wir, es mü sse eine sehr unsittliche Cultur gewesen sein, gegen welche ein Plato mit allen sokratischen Schulen kä mpfte! Die Wahrheit ist hier so verzwickt und verhä kelt, dass es Widerwillen macht, sie aufzudrö seln: so laufe der alte Irrthum (error veritate simplicior) seinen alten Weg!

 

169.

 

Das Griechische uns sehr fremd. – Orientalisch oder Modern, Asiatisch oder Europä isch: im Verhä ltniss zum Griechischen ist diesem Allem die Massenhaftigkeit und der Genuss an der grossen Quantitä t als der Sprache des Erhabenen zu eigen, wä hrend man in Pä stum, Pompeji und Athen und vor der ganzen griechischen Architektur so erstaunt darü ber wird, mit wie kleinen Massen die Griechen etwas Erhabenes auszusprechen wissen und auszusprechen lieben. – Ebenfalls: wie einfach waren in Griechenland die Menschen sich selber in ihrer Vorstellung! Wie weit ü bertreffen wir sie in der Menschenkenntniss! Wie labyrinthisch aber auch nehmen sich unsere Seelen und unsere Vorstellungen von den Seelen gegen die ihrigen aus! Wollten und wagten wir eine Architektur nach unserer Seelen‑ Art (wir sind zu feige dazu! ) – so mü sste das Labyrinth unser Vorbild sein! Die uns eigene und uns wirklich aussprechende Musik lä sst es schon errathen! (In der Musik nä mlich lassen sich die Menschen gehen, weil sie wä hnen, es sei Niemand da, der sie selber unter ihrer Musik zu sehen vermö ge. )

 

170.

 

Andere Perspective des Gefü hles. – Was ist unser Geschwä tz von den Griechen! Was verstehen wir denn von ihrer Kunst, deren Seele – die Leidenschaft fü r die mä nnliche nackte Schö nheit ist! – Erst von da aus empfanden sie die weibliche Schö nheit. So hatten sie also fü r sie eine vö llig andere Perspective, als wir. Und ä hnlich stand es mit ihrer Liebe zum Weibe: sie verehrten anders, sie verachteten anders.

 

171.

 

Die Ernä hrung des modernen Menschen. – Er versteht Vieles, ja fast Alles zu verdauen, – es ist seine Art Ehrgeiz: aber er wü rde hö herer Ordnung sein, wenn er diess gerade nicht verstü nde; homo pamphagus ist nicht die feinste Species. Wir leben zwischen einer Vergangenheit, die einen verrü ckteren und eigensinnigeren Geschmack hatte, als wir, und einer Zukunft, die vielleicht einen gewä hlteren haben wird, – wir leben zu sehr in der Mitte.

 

172.

 

Tragö die und Musik. – Mä nner in einer kriegerischen Grundverfassung des Gemü ths, wie zum Beispiel die Griechen in der Zeit des Aschylus, sind schwer zu rü hren, und wenn das Mitleiden einmal ü ber ihre Hä rte siegt, so ergreift es sie wie ein Taumel und gleich einer» dä monischen Gewalt«, – sie fü hlen sich dann unfrei und von einem religiö sen Schauder erregt. Hinterher haben sie ihre Bedenken gegen diesen Zustand; so lange sie in ihm sind, geniessen sie das Entzü cken des Ausser‑ sichseins und des Wunderbaren, gemischt mit dem bittersten Wermuth des Leidens: es ist das so recht ein Geträ nk fü r Krieger, etwas Seltenes, Gefä hrliches und Bittersü sses, das Einem nicht leicht zu Theil wird. – An Seelen, die so das Mitleiden empfinden, wendet sich die Tragö die, an harte und kriegerische Seelen, welche man schwer besiegt, sei es durch Furcht, sei es durch Mitleid, welchen es aber nü tze ist, von Zeit zu Zeit erweicht zu werden: aber was soll die Tragö die Denen, welche den» sympathischen Affectionen «offen stehen wie die Segel den Winden! Als die Athener weicher und empfindsamer geworden waren, zur Zeit Plato's, – ach, wie ferne waren sie noch von der Rü hrseligkeit unserer Gross‑ und Kleinstä dter! – aber doch klagten schon die Philosophen ü ber die Schä dlichkeit der Tragö die. Ein Zeitalter voller Gefahren, wie das eben beginnende, in welchem die Tapferkeit und Mä nnlichkeit im Preise steigen, wird vielleicht allmä hlich die Seelen wieder so hart machen, dass tragische Dichter ihnen noth thun: einstweilen aber waren diese ein Wenig ü berflü ssig, – um das mildeste Wort zu gebrauchen. – So kommt vielleicht auch fü r die Musik noch einmal das bessere Zeitalter (gewiss wird es das bö sere sein! ), dann, wenn die Kü nstler sich mit ihr an streng persö nliche, in sich harte, vom dunklen Ernste eigener Leidenschaft beherrschte Menschen zu wenden haben: aber was soll die Musik diesen heutigen allzubeweglichen, unausgewachsenen, halbpersö nlichen, neugierigen und nach Allem lü sternen Seelchen des verschwindenden Zeitalters?

 

173.

 

Die Lobredner der Arbeit. – Bei der Verherrlichung der» Arbeit«, bei dem unermü dlichen Reden vom» Segen der Arbeit «sehe ich den selben Hintergedanken, wie bei dem Lobe der gemeinnü tzigen unpersö nlichen Handlungen: den der Furcht vor allem Individuellen. Im Grunde fü hlt man jetzt, beim Anblick der Arbeit – man meint immer dabei jene harte Arbeitsamkeit von frü h bis spä t –, dass eine solche Arbeit die beste Polizei ist, dass sie jeden im Zaume hä lt und die Entwickelung der Vernunft, der Begehrlichkeit, des Unabhä ngigkeitsgelü stes krä ftig zu hindern versteht. Denn sie verbraucht ausserordentlich viel Nervenkraft und entzieht dieselbe dem Nachdenken, Grü beln, Trä umen, Sorgen, Lieben, Hassen, sie stellt ein kleines Ziel immer in's Auge und gewä hrt leichte und regelmä ssige Befriedigungen. So wird eine Gesellschaft, in welcher fortwä hrend hart gearbeitet wird, mehr Sicherheit haben: und die Sicherheit betet man jetzt als die oberste Gottheit an. – Und nun! Entsetzen! Gerade der» Arbeiter «ist gefä hrlich geworden! Es wimmelt von» gefä hrlichen Individuen«! Und hinter ihnen die Gefahr der Gefahren – das individuum!

 

174.

 

Moralische Mode einer handeltreibenden Gesellschaft. – Hinter dem Grundsatze der jetzigen moralischen Mode: »moralische Handlungen sind die Handlungen der Sympathie fü r Andere «sehe ich einen socialen Trieb der Furchtsamkeit walten, welcher sich in dieser Weise intellectuell vermummt: dieser Trieb will, als Oberstes, Wichtigstes, Nä chstes, dass dem Leben alle Gefä hrlichkeit genommen werde, welche es frü her hatte und dass daran Jeder und mit allen Krä ften helfen solle: desshalb dü rfen nur Handlungen, welche auf die gemeinsame Sicherheit und das Sicherheitsgefü hl der Gesellschaft abzielen, das Prä dicat» gut «bekommen! – Wie wenig Freude mü ssen doch jetzt die Menschen an sich haben, wenn eine solche Tyrannei der Furchtsamkeit ihnen das oberste Sittengesetz vorschreibt, wenn sie es sich so widerspruchslos anbefehlen lassen, ü ber sich, neben sich wegzusehen, aber fü r jeden Nothstand, fü r jedes Leiden anderwä rts Luchs‑ Augen zu haben! Sind wir denn bei einer solchen ungeheuren Absichtlichkeit, dem Leben alle Schä rfen und Kanten abzureiben, nicht auf dem besten Wege, die Menschheit zu Sand zu machen? Sand! Kleiner, weicher, runder, unendlicher Sand! Ist das euer Ideal, ihr Herolde der sympathischen Affectionen? – Inzwischen bleibt selbst die Frage unbeantwortet, ob man dem Anderen mehr nü tzt, indem man ihm unmittelbar fortwä hrend beispringt und hilft – was doch nur sehr oberflä chlich geschehen kann, wo es nicht zu einem tyrannischen ü bergreifen und Umbilden wird – oder indem man aus sich selber Etwas formt, was der Andere mit Genuss sieht, etwa einen schö nen, ruhigen, in sich abgeschlossenen Garten, welcher hohe Mauern gegen die Stü rme und den Staub der Landstrassen, aber auch eine gastfreundliche Pforte hat.

 

175.

 

Grundgedanke einer Cultur der Handeltreibenden. – Man sieht jetzt mehrfach die Cultur einer Gesellschaft im Entstehen, fü r welche das Handeltreiben ebenso sehr die Seele ist, als der persö nliche Wettkampf es fü r die ä lteren Griechen und als Krieg, Sieg und Recht es fü r die Rö mer waren. Der Handeltreibende versteht Alles zu taxiren, ohne es zu machen, und zwar zu taxiren nach dem Bedü rfnisse der Consumenten, nicht nach seinem eigenen persö nlichsten Bedü rfnisse; »wer und wie Viele consumiren diess? «ist seine Frage der Fragen. Diesen Typus der Taxation wendet er nun instinctiv und immerwä hrend an: auf Alles, und so auch auf die Hervorbringungen der Kü nste und Wissenschaften, der Denker, Gelehrten, Kü nstler, Staatsmä nner, der Vö lker und Parteien, der ganzen Zeitalter: er fragt bei Allem, was geschaffen wird, nach Angebot und Nachfrage, um fü r sich den Werth einer Sache festzusetzen. Diess zum Charakter einer ganzen Cultur gemacht, bis in's Unbegrä nzte und Feinste durchgedacht und allem Wollen und Kö nnen aufgeformt: das ist es, worauf ihr Menschen des nä chsten Jahrhunderts stolz sein werdet: wenn die Propheten der handeltreibenden Classe Recht haben, dieses in euren Besitz zu geben! Aber ich habe wenig Glauben an diese Propheten. Credat Judaeus Apella – mit Horaz zu reden.

 

176.

 

Die Kritik ü ber die Vä ter. – Warum verträ gt man jetzt die Wahrheit schon ü ber die jü ngste Vergangenheit? Weil immer schon eine neue Generation da ist, die sich im Gegensatz zu dieser Vergangenheit fü hlt und die Erstlinge des Gefü hles der Macht in dieser Kritik geniesst. Ehemals wollte umgekehrt die neue Generation sich auf die ä ltere grü nden, und sie begann sich zu fü hlen, indem sie die Ansichten der Vä ter nicht nur annahm, sondern womö glich strenger nahm. Die Kritik ü ber die Vä ter war damals lasterhaft: jetzt beginnen die jü ngeren Idealisten damit.

 

177.

 

Einsamkeit lernen. – Oh, ihr armen Schelme in den grossen Stä dten der Weltpolitik, ihr jungen, begabten, vom Ehrgeiz gemarterten Mä nner, welche es fü r ihre Pflicht halten, zu allen Begebenheiten – es begiebt sich immer Etwas – ihr Wort zu sagen! Welche, wenn sie auf diese Art Staub und Lä rm machen, glauben, der Wagen der Geschichte zu sein! Welche, weil sie immer horchen, immer auf den Augenblick passen, wo sie ihr Wort hineinwerfen kö nnen, jede ä chte Productivitä t verlieren! Mö gen sie auch noch so begehrlich nach grossen Werken sein: die tiefe Schweigsamkeit der Schwangerschaft kommt nie zu ihnen! Das Ereigniss des Tages jagt sie wie Spreu vor sich her, wä hrend sie meinen, das Ereigniss zu jagen, – die armen Schelme! – Wenn man einen Helden auf der Bü hne abgeben will, darf man nicht daran denken, Chorus zu machen, ja, man darf nicht einmal wissen, wie man Chorus macht.

 

178.

 

Die Tä glichAbgenü tzten. – Diesen jungen Mä nnern fehlt es weder an Charakter, noch an Begabung, noch an Fleiss: aber man hat ihnen nie Zeit gelassen, sich selber eine Richtung zu geben, vielmehr sie von Kindesbeinen an gewö hnt, eine Richtung zu empfangen. Damals, als sie reif genug waren, um» in die Wü ste geschickt zu werden«, that man etwas Anderes, – man benutzte sie, man entwendete sie sich selber, man erzog sie zu dem tä glichen Abgenutztwerden, man machte ihnen eine Pflichtenlehre daraus – und jetzt kö nnen sie es nicht mehr entbehren und wollen es nicht anders. Nur darf man diesen armen Zugthieren ihre» Ferien «nicht versagen – wie man es nennt, diess Musse‑ Ideal eines ü berarbeiteten Jahrhunderts: wo man einmal nach Herzenslust faulenzen und blö dsinnig und kindisch sein darf.

 

179.

 

So wenig als mö glich Staat! – Alle politischen und wirthschaftlichen Verhä ltnisse sind es nicht werth, dass gerade die begabtesten Geister sich mit ihnen befassen dü rften und mü ssten: ein solcher Verbrauch des Geistes ist im Grunde schlimmer, als ein Nothstand. Es sind und bleiben Gebiete der Arbeit fü r die geringeren Kö pfe, und andere als die geringen Kö pfe sollten dieser Werkstä tte nicht zu Diensten stehen: mö ge lieber die Maschine wieder einmal in Stü cke gehen! So wie es aber jetzt steht, wo nicht nur Alle tä glich darum glauben wissen zu mü ssen, sondern auch Jedermann alle Augenblicke dafü r thä tig sein will und seine eigene Arbeit darü ber im Stiche lä sst, ist es ein grosser und lä cherlicher Wahnsinn. Man bezahlt die» allgemeine Sicherheit «viel zu theuer um diesen Preis: und, was das Tollste ist, man bringt ü berdiess das Gegentheil der allgemeinen Sicherheit damit hervor, wie unser liebes Jahrhundert zu beweisen unternimmt: als ob es noch nie bewiesen wä re! Die Gesellschaft diebessicher und feuerfest und unendlich bequem fü r jeden Handel und Wandel zu machen und den Staat zur Vorsehung im guten und schlimmen Sinne umzuwandeln, – diess sind niedere, mä ssige und nicht durchaus unentbehrliche Ziele, welche man nicht mit den hö chsten Mitteln und Werkzeugen erstreben sollte, die es ü berhaupt giebt, – den Mitteln, die man eben fü r die hö chsten und seltensten Zwecke sich aufzusparen hä tte! Unser Zeitalter, so viel es von Ö konomie redet, ist ein Verschwender: es verschwendet das Kostbarste, den Geist.

 

180.

 

Die Kriege. – Die grossen Kriege der Gegenwart sind die Wirkungen des historischen Studiums.

 

181.

 

Regieren. – Die Einen regieren, aus Lust am Regieren; die Andern, um nicht regiert zu werden: – Diesen ist es nur das geringere von zwei Ü beln.

 

182.

 

Die grobe Consequenz. – Man sagt mit groß er Auszeichnung: »das ist ein Charakter! «– ja! wenn er grobe Consequenz zeigt, wenn die Consequenz auch dem stumpfen Auge einleuchtet! Aber sobald ein feinerer und tieferer Geist waltet und auf seine hö here Weise folgerichtig ist, leugnen die Zuschauer das Vorhandensein des Charakters. Desshalb spielen verschlagene Staatsmä nner ihre Komö die gewö hnlich hinter einem Deckmantel der groben Consequenz.

 

183.

 

Die Alten und die jungen. – »Es ist etwas Unmoralisches an den Parlamenten – so denkt Der und Jener immer noch –, denn man darf da auch Ansichten gegen die Regierung haben! «–»Man muss immer die Ansicht von der Sache haben, welche der gnä dige Herr befiehlt«– das ist das elfte Gebot in manchem braven alten Kopfe, namentlich im nö rdlichen Deutschland. Man lacht darü ber wie ü ber eine veraltete Mode: aber ehemals war es die Moral! Vielleicht, dass man auch wieder einmal ü ber Das lacht, was jetzt, unter dem parlamentarisch erzogenen jü ngeren Geschlechte als moralisch gilt: nä mlich die Politik der Partei ü ber die eigne Weisheit zu stellen und jede Frage des ö ffentlichen Wohles so zu beantworten, wie es gerade guten Wind fü r die Segel der Partei macht. »Man muss die Ansicht von der Sache haben, welche die Situation der Partei erheischt«– so wü rde der Kanon lauten. Im Dienste einer solchen Moral giebt es jetzt jede Art von Opfer, Selbstü berwindung und Martyrium.

 

184.

 

Der Staat als Erzeugniss der Anarchisten. – In den Lä ndern der gebä ndigten Menschen giebt es immer noch genug von den rü ckstä ndigen und ungebä ndigten: augenblicklich sammeln sie sich in den socialistischen Lagern mehr als irgendwo anders. Sollte es dazu kommen, dass diese einmal Gesetze geben, so kann man darauf rechnen, dass sie sich an eine eiserne Kette legen und furchtbare Disciplin ü ben werden: – sie kennen sich! Und sie werden diese Gesetze aushalten, im Bewusstsein, dass sie selber dieselben gegeben haben, – das Gefü hl der Macht, und dieser Macht, ist zu jung und entzü ckend fü r sie, als dass sie nicht Alles um seinetwillen litten.

 

185.

 

Bettler. – Man soll die Bettler abschaffen: denn man ä rgert sich, ihnen zu geben, und ä rgert sich, ihnen nicht zu geben.

 

186.

 

Geschä ftsleute. – Euer Geschä ft – das ist euer grö sstes Vorurtheil, es bindet euch an euren Ort, an eure Gesellschaft, an eure Neigungen. Im Geschä ft fleissig, – aber im Geiste faul, mit eurer Dü rftigkeit zufrieden und die Schü rze der Pflicht ü ber diese Zufriedenheit gehä ngt: so lebt ihr, so wollt ihr eure Kinder!

 

187.

 

Aus einer mö glichen Zukunft. – Ist ein Zustand undenkbar, wo der Ü belthä ter sich selber zur Anzeige bringt, sich selber seine Strafe ö ffentlich dictirt, im stolzen Gefü hle, dass er so das Gesetz ehrt, das er selber gemacht hat, dass er seine Macht ausü bt, indem er sich straft, die Macht des Gesetzgebers? Er kann sich einmal vergehen, aber er erhebt sich durch die freiwillige Strafe ü ber sein Vergehen, er wischt das Vergehen durch Freimü thigkeit, Grö sse und Ruhe nicht nur aus: er thut eine ö ffentliche Wohlthat hinzu. – Diess wä re der Verbrecher einer mö glichen Zukunft, welcher freilich auch eine Gesetzgebung der Zukunft voraussetzt, des Grundgedankens: »ich beuge mich nur dem Gesetze, welches ich selber gegeben habe, im Kleinen und Grossen. «Es mü ssen so viele Versuche noch gemacht werden! Es muss so manche Zukunft noch an's Licht kommen!

 

188.

 

Rausch und Ernä hrung. – Die Vö lker werden so sehr betrogen, weil sie immer einen Betrü ger suchen, nä mlich einen aufregenden Wein fü r ihre Sinne. Wenn sie nur den haben kö nnen, dann nehmen sie wohl mit schlechtem Brode fü rlieb. Der Rausch gilt ihnen mehr, als die Nahrung, – hier ist der Kö der, an dem sie immer anbeissen werden! Was sind ihnen Mä nner, aus ihrer Mitte gewä hlt – und seien es die sachkundigsten Praktiker – gegen glä nzende Eroberer, oder alte prunkhafte Fü rstenhä user! Mindestens muss der Volksmann ihnen Eroberungen und Prunk in Aussicht stellen: so findet er vielleicht Glauben. Sie gehorchen immer, und thun noch mehr, als gehorchen, vorausgesetzt, dass sie sich dabei berauschen kö nnen! Man darf ihnen selbst die Ruhe und das Vergnü gen nicht anbieten, ohne den Lorberkranz und seine verrü ckt machende Kraft darin. Dieser pö belhafte Geschmack, welcher den Rausch wichtiger nimmt, als die Ernä hrung, ist aber keineswegs in der Tiefe des Pö bels entstanden: er ist vielmehr dorthin getragen, dorthin verpflanzt und dort nur noch am meisten rü ckstä ndig und ü ppig aufschiessend, wä hrend er von den hö chsten Intelligenzen her seinen Ursprung nimmt und Jahrtausende lang in ihnen geblü ht hat. Das Volk ist der letzte wilde Boden, auf dem dieses glä nzende Unkraut noch gedeihen kann. – Wie! Und ihm gerade sollte man die Politik anvertrauen? Damit es sich aus ihr seinen tä glichen Rausch mache?

 

189.

 

Von der grossen Politik. – Soviel auch der Nutzen und die Eitelkeit, von Einzelnen wie von Vö lkern, in der grossen Politik mitwirken mö gen: das gewaltigste Wasser, das sie vorwä rts treibt, ist das Bedü rfniss des Machtgefü hls, welches nicht nur in den Seelen der Fü rsten und Mä chtigen, sondern nicht zum geringsten Theil gerade in den niederen Schichten des Volkes aus unversieglichen Quellen von Zeit zu Zeit hervorstö sst. Es kommt immer wieder die Stunde, wo die Masse ihr Leben, ihr Vermö gen, ihr Gewissen, ihre Tugend daranzusetzen bereit ist, um jenen ihren hö chsten Genuss sich zu schaffen und als siegreiche, tyrannisch willkü rliche Nation ü ber andere Nationen zu schalten (oder sich schaltend zu denken). Da quellen die verschwenderischen, aufopfernden, hoffenden, vertrauenden, ü berverwegenen, phantastischen Gefü hle so reichlich herauf, dass der ehrgeizige oder klug vorsorgende Fü rst einen Krieg vom Zaune brechen und das gute Gewissen des Volkes seinem Unrecht unterschieben kann. Die grossen Eroberer haben immer die pathetische Sprache der Tugend im Munde gefü hrt: sie hatten immer Massen um sich, welche sich im Zustande der Erhebung befanden und nur die erhobenste Sprache hö ren wollten. Wunderliche Tollheit der moralischen Urtheile! Wenn der Mensch im Gefü hle der Macht ist, so fü hlt und nennt er sich gut: und gerade dann fü hlen und nennen ihn die Anderen, an denen er seine Macht auslassen muss, bö se! – Hesiod hat in der Fabel von den Menschenaltern das selbe Zeitalter, das der homerischen Helden, zweimal hinter einander gemalt und zwei aus einem gemacht: von Denen aus gesehen, welche unter dem ehernen, entsetzlichen Druck dieser abenteuernden Gewaltmenschen standen oder durch ihre Vorfahren davon wussten, erschien es bö se: aber die Nachkommen dieser ritterlichen Geschlechter verehrten in ihm eine gute alte, selig‑ halb‑ selige Zeit. Da wusste sich der Dichter nicht anders zu helfen, als er gethan hat, – er hatte wohl Zuhö rer beider Gattungen um sich!

 

190.

 

Die ehemalige deutsche Bildung. – Als die Deutschen den anderen Vö lkern Europa's anfiengen interessant zu werden – es ist nicht zu lange her –, geschah es vermö ge einer Bildung, die sie jetzt nicht mehr besitzen, ja die sie mit einem blinden Eifer abgeschü ttelt haben, wie als ob sie eine Krankheit gewesen sei: und doch wussten sie nichts Besseres dagegen einzutauschen, als den politischen und nationalen Wahnsinn. Freilich haben sie mit ihm erreicht, dass sie den anderen Vö lkern noch weit interessanter geworden sind, als sie es damals durch ihre Bildung waren: und so mö gen sie ihre Zufriedenheit haben! Inzwischen ist nicht zu leugnen, dass jene deutsche Bildung die Europä er genarrt hat und dass sie eines solchen Interesses, ja einer solchen Nachahmung und wetteifernden Aneignung nicht werth war. Man sehe sich heute einmal nach Schiller, Wilhelm von Humboldt, Schleiermacher, Hegel, Schelling um, man lese ihre Briefwechsel und fü hre sich in den grossen Kreis ihrer Anhä nger ein: was ist ihnen gemeinsam, was an ihnen wirkt auf uns, wie wir jetzt sind, bald so unausstehlich, bald so rü hrend und bemitleidenswerth? Einmal die Sucht, um jeden Preis moralisch erregt zu erscheinen; sodann das Verlangen nach glä nzenden knochenlosen Allgemeinheiten, nebst der Absicht auf ein Schö ner‑ sehen‑ wollen in Bezug auf Alles (Charaktere, Leidenschaften, Zeiten, Sitten), – leider» schö n «nach einem schlechten verschwommenen Geschmack, der sich nichtsdestoweniger griechischer Abkunft rü hmte. Es ist ein weicher, gutartiger, silbern glitzernder Idealismus, welcher vor Allem edel verstellte Gebä rden und edel verstellte Stimmen haben will, ein Ding, ebenso anmaasslich als harmlos, beseelt vom herzlichsten Widerwillen gegen die» kalte «oder» trockene «Wirklichkeit, gegen die Anatomie, gegen die vollstä ndigen Leidenschaften, gegen jede Art philosophischer Enthaltsamkeit und Skepsis, zumal aber gegen die Naturerkenntniss, sofern sie sich nicht zu einer religiö sen Symbolik gebrauchen liess. Diesem Treiben der deutschen Bildung sah Goethe zu, in seiner Art: danebenstehend, mild widerstrebend, schweigsam, sich auf seinem eignen, besseren Wege immer mehr bestä rkend. Dem sah etwas spä ter auch Schopenhauer zu, – ihm war viel wirkliche Welt und Teufelei der Welt wieder sichtbar geworden, und er sprach davon ebenso grob als begeistert: denn diese Teufelei hat ihre Schö nheit! – Und was verfü hrte im Grunde die Auslä nder, dass sie dem nicht so zusahen, wie Goethe und Schopenhauer, oder einfach davon absahen? Es war jener matte Glanz, jenes rä thselhafte Milchstrassen‑ Licht, welches um diese Bildung leuchtete: dabei sagte sich der Auslä nder» Das ist uns sehr, sehr ferne, da hö rt fü r uns Sehen, Hö ren, Verstehen, Geniessen, Abschä tzen auf; trotzdem kö nnten es Sterne sein! Sollten die Deutschen in aller Stille eine Ecke des Himmels entdeckt und sich dort niedergelassen haben? Man muss suchen, den Deutschen nä her zu kommen. «Und man kam ihnen nä her: wä hrend kaum viel spä ter die selben Deutschen sich zu bemü hen anfiengen, den Milchstrassen Glanz von sich abzustreifen; sie wussten zu gut, dass sie nicht im Himmel gewesen waren, – sondern in einer Wolke!

 

191.

 

Bessere Menschen! – Man sagt mir, unsere Kunst wende sich an die gierigen, unersä ttlichen, ungebä ndigten, verekelten, zerquä lten Menschen der Gegenwart und zeige ihnen ein Bild von Seligkeit, Hö he und Entweltlichung neben dem Bilde ihrer Wü stheit: sodass sie einmal vergessen und aufathmen kö nnen, ja vielleicht den Antrieb zur Flucht und Umkehr mit aus jenem Vergessen zurü ckbringen. Arme Kü nstler, mit einem solchen Publicum! Mit solchen halb priesterlichen, halb irrenä rztlichen Hintergedanken! Um wie viel glü cklicher war Corneille – »unser grosser Corneille«, wie Frau von Sé vigné, mit einem Accent des Weibes vor einem ganzen Manne, ausruft, – um wie viel hö her seine Zuhö rerschaft, welcher er mit den Bildern ritterlicher Tugenden, strenger Pflicht, grossmü thiger Aufopferung, heldenhafter Bä ndigung seiner selber wohlthun konnte! Wie anders liebten er und sie das Dasein, nicht aus einem blinden wü sten» Willen «heraus, den man verflucht, weil man ihn nicht zu tö dten vermag, sondern als einen Ort, auf dem Grö sse und Humanitä t mitsammen mö glich sind und wo selbst der strengste Zwang der Formen, die Unterwerfung unter eine fü rstliche und geistliche Willkü r weder den Stolz, noch die Ritterlichkeit, noch die Anmuth, noch den Geist aller Einzelnen unterdrü cken kö nnen, vielmehr als ein Reiz und Sporn des Gegensatzes zur angeborenen Selbstherrlichkeit und Vornehmheit, zur ererbten Macht des Wollens und der Leidenschaft empfunden werden!

 

192.

 

Sich vollkommene Gegner wü nschen. – Man kann es den Franzosen nicht streitig machen, dass sie das christlichste Volk der Erde gewesen sind: nicht in Hinsicht darauf, dass die Glä ubigkeit der Masse bei ihnen grö sser gewesen sei, als anderwä rts, sondern desshalb, weil bei ihnen die schwierigsten christlichen Ideale sich in Menschen verwandelt haben und nicht nur Vorstellung, Ansatz, Halbheit geblieben sind. Da steht Pascal, in der Vereinigung von Gluth, Geist und Redlichkeit der erste aller Christen, – und man erwä ge, was sich hier zu vereinigen hatte! Da steht Fé nelon, der vollkommene und bezaubernde Ausdruck der kirchlichen Cultur in allen ihren Krä ften: eine goldene Mitte, die man als Historiker geneigt sein kö nnte, als etwas Unmö gliches zu beweisen, wä hrend die nur etwas unsä glich Schwieriges und Unwahrscheinliches gewesen ist. Da steht Frau von Guyon unter ihres Gleichen, den franzö sischen Quietisten: und Alles, was die Beredtsamkeit und die Brunst des Apostels Paulus vom Zustande der erhabensten, liebendsten, stillsten, verzü cktesten Halbgö ttlichkeit des Christen zu errathen gesucht hat, ist da Wahrheit geworden und hat dabei jene jü dische Zudringlichkeit, welche Paulus gegen Gott hat, abgestreift, Dank einer ä chten, frauenhaften, feinen, vornehmen, altfranzö sischen Naivitä t in Wort und Gebä rde. Da steht der Grü nder der Trappistenklö ster, er, der mit dem asketischen Ideale des Christenthums den letzten Ernst gemacht hat, nicht als eine Ausnahme unter Franzosen, sondern recht als Franzose: denn bis zu diesem Augenblick vermochte seine dü stere Schö pfung nur unter Franzosen heimisch und krä ftig zu bleiben, sie folgte ihnen in den Elsass und nach Algerien. Vergessen wir die Hugenotten nicht: schö ner ist die Vereinigung des kriegerischen und arbeitsamen Sinnes, der feineren Sitte und der christlichen Strenge bisher nicht dagewesen. Und in Port Royal kam zum letzten Male das grosse christliche Gelehrtenthum zum Blü hen: und das Blü hen verstehen grosse Menschen in Frankreich besser, als anderwä rts. Ferne davon, oberflä chlich zu sein, hat ein grosser Franzose immer doch seine Oberflä che, eine natü rliche Haut fü r seinen Inhalt und seine Tiefe, – wä hrend die Tiefe eines grossen Deutschen zumeist wie in einer krausfö rmigen Kapsel verschlossen gehalten wird, als ein Elixir, das vor Licht und leichtfertigen Hä nden durch seine harte und wunderliche Hü lle sich zu schü tzen sucht. – Und nun errathe man, warum dieses Volk der vollendeten Typen der Christlichkeit auch die vollendeten Gegentypen des unchristlichen Freigeistes erzeugen musste! Der franzö sische Freigeist kä mpfte in sich immer mit grossen Menschen und nicht nur mit Dogmen und erhabenen Missgeburten, wie die Freigeister anderer Vö lker.

 

193.

 

Esprit und Moral. – Der Deutsche, welcher sich auf das Geheimniss versteht, mit Geist, Wissen und Gemü th langweilig zu sein, und sich gewö hnt hat, die Langeweile als moralisch zu empfinden, – hat vor dem franzö sischen esprit die Angst, er mö chte der Moral die Augen ausstechen – und doch eine Angst und Lust, wie das Vö glein vor der Klapperschlange. Von den berü hmten Deutschen hat vielleicht Niemand mehr esprit gehabt, als Hegel, – aber er hatte dafü r auch eine so grosse deutsche Angst vor ihm, dass sie seinen eigenthü mlichen schlechten Stil geschaffen hat. Dessen Wesen ist nä mlich, dass ein Kern umwickelt und nochmals und wiederum umwickelt wird, bis er kaum noch hindurchblickt, verschä mt und neugierig, – wie» junge Frau'n durch ihre Schleier blicken«, um mit dem alten Weiberhasser Aeschylus zu reden –: jener Kern ist aber ein witziger, oft vorlauter Einfall ü ber die geistigsten Dinge, eine feine, gewagte Wortverbindung, wie so Etwas in die Gesellschaft von Denkern gehö rt, als Zukost der Wissenschaft, – aber in jenen Umwickelungen prä sentirt es sich als abstruse Wissenschaft selber und durchaus als hö chst moralische Langeweile! Da hatten die Deutschen eine ihnen erlaubte Form des esprit und sie genossen sie mit solchem ausgelassenen Entzü cken, dass Schopenhauer's guter, sehr guter Verstand davor stille stand, – er hat zeitlebens gegen das Schauspiel, welches ihm die Deutschen boten, gepoltert, aber es nie sich zu erklä ren vermocht.

 

194.

 

Eitelkeit der Morallehrer. – Der im Ganzen geringe Erfolg der Morallehrer hat darin seine Erklä rung, dass sie zu viel auf Ein Mal wollten, das heisst, dass sie zu ehrgeizig waren: sie wollten allzugern Vorschriften fü r Alle geben. Diess aber heisst im Unbestimmten schweifen und Reden an die Thiere halten, um sie zu Menschen zu machen: was Wunder, dass die Thiere diess langweilig finden! Man sollte begrä nzte Kreise sich aussuchen und fü r sie die Moral suchen und fö rdern, also zum Beispiel Reden vor den Wö lfen halten, um sie zu Hunden zu machen. Vor Allem aber bleibt der grosse Erfolg immer Dem, welcher weder Alle, noch begrä nzte Kreise, sondern Einen erziehen will und gar nicht nach rechts und links ausspä ht. Das vorige Jahrhundert ist dem unseren eben dadurch ü berlegen, dass es in ihm so viele einzeln erzogene Menschen gab, nebst eben so vielen Erziehern, welche hier die Aufgabe ihres Lebens gefunden hatten – und mit der Aufgabe auch Wü rde, vor sich und aller anderen» guten Gesellschaft«.

 

195.

 

Die sogenannte classische Erziehung. – Zu entdecken, dass unser Leben der Erkenntniss geweiht ist; dass wir es wegwerfen wü rden, nein! dass wir es weggeworfen hä tten, wenn nicht diese Weihe es vor uns selber schü tzte; jenen Vers sich oft und mit Erschü tterung vorsprechen:

 

«Schicksal, ich folge dir! Und wollt' ich nicht,

ich mü sst' es doch und unter Seufzen thun! »

 

– Und nun, bei einem Rü ckblick auf den Weg des Lebens, ebenfalls entdecken, dass Etwas nicht wieder gut zu machen ist: die Vergeudung unserer Jugend, als unsre Erzieher jene wissbegierigen, heissen und durstigen Jahre nicht dazu verwandten, uns der Erkenntniss der Dinge entgegenzufü hren, sondern der sogenannten» Classischen Bildung«! Die Vergeudung unserer Jugend, als man uns ein dü rftiges Wissen um Griechen und Rö mer und deren Sprachen ebenso ungeschickt, als quä lerisch beibrachte und zuwider dem obersten Satze aller Bildung: dass man nur Dem, der Hunger darnach hat, eine Speise gebe! Als man uns Mathematik und Physik auf eine gewaltsame Weise aufzwang, anstatt uns erst in die Verzweiflung der Unwissenheit zu fü hren und unser kleines tä gliches Leben, unsere Hantierungen und Alles, was sich zwischen Morgen und Abend im Hause, in der Werkstatt, am Himmel, in der Landschaft begiebt, in Tausende von Problemen aufzulö sen, von peinigenden, beschä menden, aufreizenden Problemen, – um unsrer Begierde dann zu zeigen, dass wir ein mathematisches und mechanisches Wissen zu allernä chst nö thig haben und uns dann das erste wissenschaftliche Entzü cken an der absoluten Folgerichtigkeit dieses Wissens zu lehren! Hä tte man uns auch nur die Ehrfurcht vor diesen Wissenschaften gelehrt, hä tte man uns mit dem Ringen und Unterliegen und Wieder‑ Weiterkä mpfen der Grossen, von dem Martyrium, welches die Geschichte der strengen Wissenschaft ist, auch nur Ein Mal die Seele erzittern machen! Vielmehr blies uns der Hauch einer gewissen Geringschä tzung der eigentlichen Wissenschaften an, zu Gunsten der Historie, der» formalen Bildung «und der» Classicitä t«! Und wir liessen uns so leicht betrü gen! Formale Bildung! Hä tten wir nicht auf die besten Lehrer unserer Gymnasien zeigen kö nnen, lachend und fragend: »wo ist denn da die formale Bildung? Und wenn sie fehlt, wie sollen sie dieselbe lehren? «Und Classicitä t! Lernten wir Etwas von dem, worin gerade die Alten ihre Jugend erzogen? Lernten wir sprechen wie sie, schreiben wie sie? ü bten wir uns unablä ssig in der Fechtkunst des Gesprä chs, in der Dialektik? Lernten wir uns schö n und stolz bewegen wie sie, ringen, werfen, faustkä mpfen wie sie? Lernten wir Etwas von der praktischen Asketik aller griechischen Philosophen? Wurden wir in einer einzigen antiken Tugend geü bt und in der Weise, wie die Alten sie ü bten? Fehlte nicht ü berhaupt das ganze Nachdenken ü ber Moral in unserer Erziehung, um wieviel mehr gar die einzig mö gliche Kritik desselben, jene strengen und muthigen Versuche, in dieser oder jener Moral zu leben? Erregte man in uns irgend ein Gefü hl, das den Alten hö her galt, als den Neueren? Zeigte man uns die Eintheilung des Tages und des Lebens und die Ziele ü ber dem Leben in einem antiken Geiste? Lernten wir auch nur die alten Sprachen so, wie wir die lebender Vö lker lernen, – nä mlich zum Sprechen und zum Bequem‑ und‑ Gut‑ Sprechen? Nirgends ein wirkliches Kö nnen, ein neues Vermö gen als Ergebniss mü hseliger Jahre! Sondern ein Wissen darum, was ehemals Menschen gekonnt und vermocht haben! Und was fü r ein Wissen! Nichts wird mir von Jahr zu Jahr deutlicher, als dass alles griechische und antike Wesen, so schlicht und weltbekannt es vor uns zu liegen scheint, sehr schwer verstä ndlich, ja, kaum zugä nglich ist, und dass die ü bliche Leichtigkeit, mit der von den Alten geredet wird, entweder eine Leichtfertigkeit oder ein alter erblicher Dü nkel der Gedankenlosigkeit ist. Die ä hnlichen Worte und Begriffe tä uschen uns: aber hinter ihnen liegt immer eine Empfindung versteckt, welche dem modernen Empfinden fremd, unverstä ndlich oder peinlich sein mü sste. Das sind mir Gebiete, auf denen sich Knaben tummeln dü rften! Genug, wir haben es gethan, als wir Knaben waren und uns beinahe fü r immer dabei einen Widerwillen gegen das Alterthum heimgeholt, den Widerwillen einer scheinbar allzugrossen Vertraulichkeit! Denn so weit geht die stolze Einbildung unserer classischen Erzieher, gleichsam im Besitze der Alten zu sein, dass sie diesen Dü nkel noch auf die Erzogenen ü berfliessen lassen, nebst dem Verdachte, dass ein solcher Besitz nicht wohl selig machen kö nne, sondern dass er gut genug fü r rechtschaffene, arme, nä rrische alte Bü cher‑ Drachen sei: »mö gen diese auf ihrem Horte brü ten! er wird wohl ihrer wü rdig sein! «– mit diesem stillen Hintergedanken vollendete sich unsere classische Erziehung. – Diess ist nicht wieder gut zu machen – an uns! Aber denken wir nicht nur an uns!

 

196.

 

Die persö nlichsten Fragen der Wahrheit. – »Was ist Das eigentlich, was ich thue? Und was will gerade ich damit? «– das ist die Frage der Wahrheit, welche bei unserer jetzigen Art Bildung nicht gelehrt und folglich nicht gefragt wird, fü r sie giebt es keine Zeit. Dagegen mit Kindern von Possen zu reden und nicht von der Wahrheit, mit Frauen, die spä ter Mü tter werden sollen, Artigkeiten zu reden und nicht von der Wahrheit, mit Jü nglingen von ihrer Zukunft und ihrem Vergnü gen zu reden und nicht von der Wahrheit, – dafü r ist immer Zeit und Lust da! – Aber was sind auch siebenzig Jahre! – das lä uft hin und ist bald zu Ende; es liegt so Wenig daran, dass die Welle wisse, wie und wohin sie laufe! Ja, es kö nnte Klugheit sein, es nicht zu wissen. – »Zugegeben: aber stolz ist es nicht, auch nicht einmal darnach zu fragen; unsere Bildung macht die Menschen nicht stolz. «– Um so besser! – »Wirklich? »

 

197.

 

Die Feindschaft der Deutschen gegen die Aufklä rung. – Man ü berschlage den Beitrag, den die Deutschen der ersten Hä lfte dieses Jahrhunderts mit ihrer geistigen Arbeit der allgemeinen Cultur gebracht haben und nehme erstens die deutschen Philosophen: sie sind auf die erste und ä lteste Stufe der Speculation zurü ckgegangen, denn sie fanden in Begriffen ihr Genü ge, anstatt in Erklä rungen, gleich den Denkern trä umerischer Zeitalter, – eine vorwissenschaftliche Art der Philosophie wurde durch sie wieder lebendig gemacht. Zweitens die deutschen Historiker und Romantiker: ihre allgemeine Bemü hung gieng dahin, ä ltere, primitive Empfindungen und namentlich das Christenthum, die Volksseele, Volkssage, Volkssprache, die Mittelalterlichkeit, die orientalische Asketik, das Inderthum zu Ehren zu bringen. Drittens die Naturforscher: sie kä mpften gegen Newton's und Voltaire's Geist und suchten, gleich Goethe und Schopenhauer, den Gedanken einer vergö ttlichten oder verteufelten Natur und ihrer durchgä ngigen ethischen und symbolischen Bedeutsamkeit wieder aufrecht zu stellen. Der ganze grosse Hang der Deutschen gieng gegen die Aufklä rung, und gegen die Revolution der Gesellschaft, welche mit grobem Missverstä ndniss als deren Folge galt: die Pietä t gegen alles noch Bestehende suchte sich in Pietä t gegen Alles, was bestanden hat, umzusetzen, nur damit Herz und Geist wieder einmal voll wü rden und keinen Raum mehr fü r zukü nftige und neuernde Ziele hä tten. Der Cultus des Gefü hls wurde aufgerichtet an Stelle des Cultus' der Vernunft, und die deutschen Musiker, als die Kü nstler des Unsichtbaren, Schwä rmerischen, Mä rchenhaften, Sehnsü chtigen, bauten an dem neuen Tempel erfolgreicher, als alle Kü nstler des Wortes und der Gedanken. Bringen wir in Anrechnung, dass unzä hliges Gute im Einzelnen gesagt und erforscht worden ist und Manches seitdem billiger beurtheilt wird, als jemals: so bleibt doch ü brig, vom Ganzen zu sagen, dass es keine geringe allgemeine Gefahr war, unter dem Anscheine der voll‑ und endgü ltigsten Erkenntniss des Vergangenen die Erkenntniss ü berhaupt unter das Gefü hl hinabzudrü cken und – um mit Kant zu reden, der so seine eigene Aufgabe bestimmte – »dem Glauben wieder Bahn zu machen, indem man dem Wissen seine Grä nzen wies. «Athmen wir wieder freie Luft: die Stunde dieser Gefahr ist vorü bergegangen! Und seltsam: gerade die Geister, welche von den Deutschen so beredt beschworen wurden, sind auf die Dauer den Absichten ihrer Beschwö rer am schä dlichsten geworden, – die Historie, das Verstä ndniss des Ursprungs und der Entwickelung, die Mitempfindung fü r das Vergangene, die neu erregte Leidenschaft des Gefü hls und der Erkenntniss, nachdem sie alle eine Zeit lang hü lfreiche Gesellen des verdunkelnden, schwä rmenden, zurü ckbildenden Geistes schienen, haben eines Tages eine andere Natur angenommen und fliegen nun mit den breitesten Flü geln an ihren alten Beschwö rern vorü ber und hinauf, als neue und stä rkere Genien eben jener Aufklä rung, wider welche sie beschworen waren. Diese Aufklä rung haben wir jetzt weiterzufü hren, – unbekü mmert darum, dass es eine» grosse Revolution «und wiederum eine» grosse Reaction «gegen dieselbe gegeben hat, ja dass es Beides noch giebt: es sind doch nur Wellenspiele, im Vergleiche mit der wahrhaft grossen Fluth, in welcher wir treiben und treiben wollen!

 

198.

 

Seinem Volke den Rang geben. – Viele grosse innere Erfahrungen haben, und auf und ü ber ihnen mit einem geistigen Auge ruhen, – das macht die Menschen der Cultur, welche ihrem Volke den Rang geben. In Frankreich und Italien that diess der Adel, in Deutschland, wo der Adel bisher im Ganzen zu den Armen im Geiste gehö rte (vielleicht nicht mehr auf lange), thaten es Priester, Lehrer und deren Nachkommen.

 

199.

 

Wir sind vornehmer. – Treue, Grossmuth, die Scham des guten Rufs: diese Drei in Einer Gesinnung verbunden – das nennen wir adelig, vornehm, edel, und damit ü bertreffen wir die Griechen. Wir wollen es ja nicht preisgeben, aus dem Gefü hle, dass die alten Gegenstä nde dieser Tugenden in der Achtung gesunken sind (und mit Recht), sondern behutsam diesem unserem kö stlichen Erbtriebe neue Gegenstä nde unterschieben. – Um zu begreifen, dass die Gesinnung der vornehmsten Griechen inmitten unserer immer noch ritterlichen und feudalistischen Vornehmheit als gering und kaum anstä ndig empfunden werden mü sste, erinnere man sich jenes Trostspruches, den Odysseus in schmä hlichen Lagen im Munde fü hrt: »Ertrag' es nur, mein liebes Herz! du hast schon Hundemä ssigeres ertragen! «Und dazu nehme man als Nutzanwendung des mythischen Vorbildes die Geschichte von jenem athenischen Officier, der, vor dem ganzen Generalstabe, von einem andern Officier mit dem Stocke bedroht, diese Schmach mit dem Worte von sich abschü ttelte: »Schlag' mich nur! Nun aber hö re mich auch! «(Diess that Themistokles, jener vielgewandte Odysseus des classischen Zeitalters, der recht der Mann dazu war, in diesem schmä hlichen Augenblick jenen Trost‑ und Nothvers an sein» liebes Herz «hinunterzuschicken. ) Es lag den Griechen ferne, Leben und Tod einer Beschimpfung halber so leicht zu nehmen, wie wir es thun, unter dem Eindruck vererbter ritterlicher Abenteuerlichkeit und Opferlust; oder Gelegenheiten aufzusuchen, wo man Beides auf ein ehrenvolles Spiel setzen kö nne, wie wir bei Duellen; oder die Erhaltung des guten Namens (Ehre) hö her zu achten, als die Eroberung des bö sen Namens, wenn Letzteres mit Ruhm und Machtgefü hl verträ glich ist; oder den stä ndischen Vorurtheilen und Glaubensartikeln Treue zu halten, wenn sie verhindern kö nnten, ein Tyrann zu werden. Denn diess ist das unedle Geheimniss jedes guten griechischen Aristokraten: er hä lt aus tiefster Eifersucht jeden seiner Standesgenossen auf gleichem Fusse mit sich, ist aber jeden Augenblick wie ein Tiger bereit, auf seine Beute, die Gewaltherrschaft, loszustü rzen: was ist ihm dabei Lü ge, Mord, Verrath, Verkauf der Vaterstadt! Die Gerechtigkeit wurde dieser Art Menschen ausserordentlich schwer, sie galt beinahe fü r etwas Unglaubliches; »der Gerechte«– das klang unter Griechen wie» der Heilige «unter Christen. Wenn aber gar Sokrates sagte: »der Tugendhafte ist der Glü cklichste«, so traute man seinen Ohren nicht, man glaubte etwas Verrü cktes gehö rt zu haben. Denn bei dem Bilde des Glü cklichsten dachte jeder Mann vornehmer Abkunft an die vollendete Rü cksichtslosigkeit und Teufelei des Tyrannen, der seinem Ü bermuthe und seiner Lust Alles und Alle opfert. Unter Menschen, welche im Geheimen ü ber ein solches Glü ck wild phantasirten, konnte freilich die Verehrung des Staates nicht tief genug gepflanzt werden, – aber ich meine: Menschen, deren Machtgelü st nicht mehr so blind wü thet, wie das jener vornehmen Griechen, haben auch jene Abgö tterei des Staats‑ Begriffes nicht mehr nö thig, mit welcher damals jenes Gelü st im Zaume gehalten wurde.

 

200.

 

Armuth ertragen. – Der grosse Vorzug adeliger Abkunft ist, dass sie die Armuth besser ertragen lä sst.

 

201.

 

Zukunft des Adels. – Die Gebä rden der vornehmen Welt drü cken aus, dass in ihren Gliedern fortwä hrend das Bewusstsein der Macht sein reizvolles Spiel spielt. So lä sst sich der Mensch von adeliger Sitte, Mann oder Weib, nicht gern wie ganz erschö pft in den Sessel fallen, er vermeidet es, wo alle Welt es sich bequem macht, zum Beispiel auf der Eisenbahn, den Rü cken anzulehnen, er scheint nicht mü de zu werden, wenn er stundenlang bei Hofe auf seinen Fü ssen steht, er richtet sein Haus nicht auf das Behagliche, sondern grossrä umig und wü rdevoll, wie zu einem Aufenthalt grö sserer (auch lä ngerer) Wesen ein, er beantwortet eine herausfordernde Rede mit Haltung und geistiger Helle, nicht wie entsetzt, zermalmt, beschä mt, ausser Athem, nach Art des Plebejers. So wie er den Anschein einer bestä ndig gegenwä rtigen hohen physischen Kraft zu wahren weiss, wü nscht er auch durch bestä ndige Heiterkeit und Verbindlichkeit, selbst in peinlichen Lagen, den Eindruck aufrecht zu erhalten, dass seine Seele und sein Geist den Gefahren und den Ü berraschungen gewachsen ist. Eine vornehme Cultur kann in Absicht der Leidenschaften entweder dem Reiter gleichen, der Wonne empfindet, ein leidenschaftliches stolzes Thier im spanischen Tritt gehen zu lassen – man stelle sich das Zeitalter Ludwig's des Vierzehnten vor Augen –, oder dem Reiter, der sein Pferd wie eine Naturgewalt unter sich hinschiessen fü hlt, hart an der Grä nze, wo Pferd und Reiter den Kopf verlieren, aber im Genuss der Wonne, gerade jetzt noch den Kopf oben zu behalten: in beiden Fä llen athmet die vornehme Cultur Macht, und wenn sie sehr oft in ihren Sitten auch nur den Schein des Machtgefü hls fordert, so wä chst doch durch den Eindruck, welchen dieses Spiel auf die Nicht‑ Vornehmen macht, und durch das Schauspiel dieses Eindrucks, das wirkliche Gefü hl der Ü berlegenheit fortwä hrend. – Diess unbestreitbare Glü ck der vornehmen Cultur, welches auf dem Gefü hl der Ü berlegenheit sich aufbaut, beginnt jetzt auf eine noch hö here Stufe zu steigen, da es nunmehr, Dank allen freien Geistern, dem adelig Geborenen und Erzogenen erlaubt und nicht mehr schimpflich ist, in den Orden der Erkenntniss zu treten und dort geistigere Weihen zu holen, hö here Ritterdienste zu lernen, als bisher, und zu jenem Ideal der siegreichen Weisheit aufzuschauen, welches noch keine Zeit mit so gutem Gewissen vor sich aufstellen durfte wie die Zeit, welche gerade jetzt kommen will. Zu guterletzt: womit soll sich denn fü rderhin der Adel beschä ftigen, wenn es von Tag zu Tage mehr den Anschein hat, dass es unanstä ndig wird, sich mit Politik zu befassen? –

 

202.

 

Zur Pflege der Gesundheit. – Man hat kaum angefangen, ü ber die Physiologie der Verbrecher nachzudenken und doch steht man schon vor der unabweislichen Einsicht, dass zwischen Verbrechern und Geisteskranken kein wesentlicher Unterschied besteht: vorausgesetzt, dass man glaubt, die ü bliche moralische Denkweise sei die Denkweise der geistigen Gesundheit. Kein Glaube aber wird jetzt so gut noch geglaubt, wie dieser, und so scheue man sich nicht, seine Consequenz zu ziehen und den Verbrecher wie einen Geisteskranken zu behandeln: vor Allem nicht mit hochmü thiger Barmherzigkeit, sondern mit ä rztlicher Klugheit, ä rztlichem guten Willen. Es thut ihm Luftwechsel, andere Gesellschaft, zeitweiliges Verschwinden, vielleicht Alleinsein und eine neue Beschä ftigung noth, – gut! Vielleicht findet er es selber in seinem Vortheil, eine Zeit hindurch in einem Gewahrsam zu leben, um so Schutz gegen sich selber und einen lä stigen tyrannischen Trieb zu finden, – gut! Man soll ihm die Mö glichkeit und die Mittel des Geheiltwerdens (der Ausrottung, Umbildung, Sublimirung jenes Triebes) ganz klar vorlegen, auch, im schlimmen Falle, die Unwahrscheinlichkeit desselben; man soll dem unheilbaren Verbrecher, der sich selber zum Greuel geworden ist, die Gelegenheit zum Selbstmord anbieten. Diess als ä usserstes Mittel der Erleichterung vorbehalten: soll man Nichts verabsä umen, um vor Allem dem Verbrecher den guten Muth und die Freiheit des Gemü thes wieder zu geben; man soll Gewissensbisse wie eine Sache der Unreinlichkeit ihm von der Seele wischen und ihm Fingerzeige geben, wie er den Schaden, welchen er vielleicht an dem Einen geü bt, durch eine Wohlthat am Anderen, ja vielleicht an der Gesammtheit ausgleichen und ü berbieten kö nne. Alles in ä usserster Schonung! Und namentlich in Anonymitä t oder unter neuen Namen und mit hä ufigerem Ortswechsel, damit die Unbescholtenheit des Rufes und sein kü nftiges Leben so wenig wie mö glich dabei Gefahr laufe. Jetzt zwar will immer noch Der, welchem ein Schaden zugefü gt ist, ganz abgesehen davon, wie dieser Schaden etwa gut zu machen ist, seine Rache haben und wendet sich ihrethalben an die Gerichte, – und diess hä lt einstweilen unsere abscheulichen Strafordnungen noch aufrecht, sammt ihrer Krä merwage und dem Aufwiegenwollen der Schuld durch die Strafe: aber dü rften wir nicht hierü ber hinaus kommen kö nnen? Wie erleichtert wä re das allgemeine Gefü hl des Lebens, wenn man mit dem Glauben an die Schuld auch vom alten Instinct der Rache sich losmachte und es selbst als eine feine Klugheit der Glü cklichen betrachtete, mit dem Christenthum den Segen ü ber seine Feinde zu sprechen und Denen wohlzuthun, die uns beleidigt haben! Schaffen wir den Begriff der Sü nde aus der Welt – und schicken wir ihm den Begriff der Strafe bald hinterdrein! Mö gen diese verbannten Unholde irgendwo anders fü rderhin., als unter Menschen, leben, wenn sie durchaus leben wollen und nicht am eigenen Ekel zu Grunde gehen! – Inzwischen erwä ge man, dass die Einbusse, welche die Gesellschaft und die Einzelnen durch die Verbrecher erleiden, der Einbusse ganz gleichartig ist, welche sie von den Kranken erleiden: die Kranken verbreiten Sorge, Missmuth, produciren nicht, zehren den Ertrag Anderer auf, brauchen Wä rter, Ä rzte, Unterhaltung und leben von der Zeit und den Krä ften der Gesunden. Trotzdem wü rde man jetzt Den als unmenschlich bezeichnen, welcher dafü r an den Kranken Rache nehmen wollte. Ehedem freilich that man diess; in rohen Zustä nden der Cultur und jetzt noch bei manchen wilden Vö lkern, wird der Kranke in der That als Verbrecher behandelt, als die Gefahr der Gemeinde und als Wohnsitz irgend eines dä monischen Wesens, welches sich ihm in Folge einer Schuld einverleibt hat, – da heisst es: jeder Kranke ist ein Schuldiger! Und wir, – sollten wir noch nicht reif fü r die entgegengesetzte Anschauung sein? sollten wir noch nicht sagen dü rfen: jeder» Schuldige «ist ein Kranker? – Nein, die Stunde dafü r ist noch nicht gekommen. Noch fehlen vor Allem die Ä rzte, fü r welche Das, was wir bisher praktische Moral nannten, sich in ein Stü ck ihrer Heilkunst und Heilwissenschaft umgewandelt haben muss; noch fehlt allgemein jenes hungrige Interesse an diesen Dingen, das vielleicht einmal dem Sturm und Drang jener alten religiö sen Erregungen nicht unä hnlich erscheinen wird; noch sind die Kirchen nicht im Besitz der Pfleger der Gesundheit; noch gehö rt die Lehre von dem Leibe und von der Diä t nicht zu den Verpflichtungen aller niederen und hö heren Schulen; noch giebt es keine stillen Vereine Solcher, welche sich unter einander verpflichtet haben, auf die Hü lfe der Gerichte und auf Strafe und Rache an ihren Ü belthä tern zu verzichten; noch hat kein Denker den Muth gehabt, die Gesundheit einer Gesellschaft und der Einzelnen darnach zu bemessen, wie viel Parasiten sie ertragen kann, und noch fand sich kein Staatengrü nder, welcher die Pflugschar im Geiste jener freigebigen und mildherzigen Rede fü hrte: »willst du das Land bauen, so baue mit dem Pfluge: da geneusst dein der Vogel und der Wolf, der hinter deinem Pfluge geht, – es geneusst dein alle Creatur. »

 

203.

 

Gegen die schlechte Diä t. – Pfui ü ber die Mahlzeiten, welche jetzt die Menschen machen, in den Gasthä usern sowohl als ü berall, wo die wohlbestellte Classe der Gesellschaft lebt! Selbst wenn hochansehnliche Gelehrte zusammenkommen, ist es die selbe Sitte, welche ihren Tisch wie den des Banquiers fü llt: nach dem Gesetz des» Viel zu viel «und des» Vielerlei«, – woraus folgt, dass die Speisen auf den Effect und nicht auf die Wirkung hin zubereitet werden, und aufregende Geträ nke helfen mü ssen, die Schwere im Magen und Gehirn zu vertreiben. Pfui, welche Wü stheit und Ü berempfindsamkeit muss die allgemeine Folge sein! Pfui, welche Trä ume mü ssen ihnen kommen! Pfui, welche Kü nste und Bü cher werden der Nachtisch solcher Mahlzeiten sein! Und mö gen sie thun, was sie wollen: in ihrem Thun wird der Pfeffer und der Widerspruch oder die Weltmü digkeit regieren! (Die reiche Classe in England hat ihr Christenthum nö thig, um ihre Verdauungsbeschwerden und ihre Kopfschmerzen ertragen zu kö nnen. ) Zuletzt, um das Lustige an der Sache und nicht nur deren Ekelhaftes zu sagen, sind diese Menschen keineswegs Schlemmer; unser Jahrhundert und seine Art Geschä ftigkeit ist mä chtiger ü ber ihre Glieder, als ihr Bauch: was wollen also diese Mahlzeiten? – Sie reprä sentiren! Was, in aller Heiligen Namen? Den Stand? – Nein, das Geld: man hat keinen Stand mehr! Man ist» Individuum«! Aber Geld ist Macht, Ruhm, Wü rde, Vorrang, Einfluss; Geld macht jetzt das grosse oder kleine moralische Vorurtheil fü r einen Menschen, je nachdem er davon hat! Niemand will es unter den Scheffel, Niemand mö chte es auf den Tisch stellen; folglich muss das Geld einen Reprä sentanten haben, den man auf den Tisch stellen kann: siehe unsere Mahlzeiten! –

 

204.

 

Danae und Gott im Golde. – Woher diese unmä ssige Ungeduld, welche jetzt den Menschen zum Verbrecher macht, in Zustä nden, welche den entgegengesetzten Hang besser erklä ren wü rden? Denn, wenn Dieser falsches Gewicht gebraucht, Jener sein Haus anbrennt, nachdem er es hoch versichert hat, ein Dritter am Prä gen falschen Geldes Antheil nimmt, wenn drei Viertel der hö heren Gesellschaft dem erlaubten Betruge nachhä ngt und am schlechten Gewissen der Bö rse und der Speculation zu tragen hat: was treibt sie? Nicht die eigentliche Noth, es geht ihnen nicht so ganz schlecht, vielleicht sogar essen und trinken sie ohne Sorge, – aber eine furchtbare Ungeduld darü ber, dass das Geld sich zu langsam hä uft und eine ebenso furchtbare Lust und Liebe zu gehä uftem Gelde drä ngt sie bei Tag und bei der Nacht. In dieser Ungeduld und dieser Liebe aber kommt jener Fanatismus des Machtgelü stes wieder zum Vorschein, welcher ehemals durch den Glauben, im Besitz der Wahrheit zu sein, entzü ndet wurde und der so schö ne Namen trug, dass man es daraufhin wagen konnte, mit gutem Gewissen unmenschlich zu sein (Juden, Ketzer und gute Bü cher zu verbrennen und ganze hö here Culturen wie die von Peru und Mexiko auszurotten). Die Mittel des Machtgelü stes haben sich verä ndert, aber der selbe Vulcan glü ht noch immer, die Ungeduld und die unmä ssige Liebe wollen ihre Opfer: und was man ehedem» um Gottes willen «that, thut man jetzt um des Geldes willen, das heisst um dessen willen, was jetzt am hö chsten Machtgefü hl und gutes Gewissen giebt.

 

205.

 

Vom Volke Israel. – Zu den Schauspielen, auf welche uns das nä chste Jahrhundert einladet, gehö rt die Entscheidung im Schicksale der europä ischen Juden. Dass sie ihren Wü rfel geworfen, ihren Rubikon ü berschritten haben, greift man jetzt mit beiden Hä nden: es bleibt ihnen nur noch ü brig, entweder die Herren Europa's zu werden oder Europa zu verlieren, so wie sie einst vor langen Zeiten Aegypten verloren, wo sie sich vor ein ä hnliches Entweder‑ Oder gestellt hatten. In Europa aber haben sie eine Schule von achtzehn Jahrhunderten durchgemacht, wie sie hier kein andres Volk aufweisen kann, und zwar so, dass nicht eben der Gemeinschaft, aber umsomehr den Einzelnen die Erfahrungen dieser entsetzlichen Ü bungszeit zu Gute gekommen sind. In Folge davon sind die seelischen und geistigen Hü lfsquellen bei den jetzigen Juden ausserordentlich; sie greifen in der Noth am seltensten von Allen, die Europa bewohnen, zum Becher oder zum Selbstmord, um einer tiefen Verlegenheit zu entgehen, – was dem geringer Begabten so nahe liegt. Jeder Jude hat in der Geschichte seiner Vä ter und Grossvä ter eine Fundgrube von Beispielen kä ltester Besonnenheit und Beharrlichkeit in furchtbaren Lagen, von feinster Ü berlistung und Ausnü tzung des Unglü cks und des Zufalls; ihre Tapferkeit unter dem Deckmantel erbä rmlicher Unterwerfung, ihr Heroismus im spernere se sperni ü bertrifft die Tugenden aller Heiligen. Man hat sie verä chtlich machen wollen, dadurch dass man sie zwei Jahrtausende lang verä chtlich behandelte und ihnen den Zugang zu allen Ehren, zu allem Ehrbaren verwehrte, dafü r sie um so tiefer in die schmutzigeren Gewerbe hineinstiess, – und wahrhaftig, sie sind unter dieser Procedur nicht reinlicher geworden. Aber verä chtlich? Sie haben selber nie aufgehö rt, sich zu den hö chsten Dingen berufen zu glauben, und ebenso haben die Tugenden aller Leidenden nie aufgehö rt, sie zu schmü cken. Die Art, wie sie ihre Vä ter und ihre Kinder ehren, die Vernunft ihrer Ehen und Ehesitten zeichnet sie unter allen Europä ern aus. Zu alledem verstanden sie es, ein Gefü hl der Macht und der ewigen Rache sich aus eben den Gewerben zu schaffen, welche man ihnen ü berliess (oder denen man sie ü berliess); man muss es zur Entschuldigung selbst ihres Wuchers sagen, dass sie ohne diese gelegentliche angenehme und nü tzliche Folterung ihrer Verä chter es schwerlich ausgehalten hä tten, sich so lange selbst zu achten. Denn unsere Achtung vor uns selber ist daran gebunden, dass wir Wiedervergeltung im Guten und Schlimmen ü ben kö nnen. Dabei reisst sie ihre Rache nicht leicht zu weit: denn sie haben Alle die Freisinnigkeit, auch die der Seele, zu welcher der hä ufige Wechsel des Ortes, des Klima's, der Sitten von Nachbarn und Unterdrü ckern den Menschen erzieht, sie besitzen die bei Weitem grö sste Erfahrung in allem menschlichen Verkehre und ü ben selbst in der Leidenschaft noch die Vorsicht dieser Erfahrung. Ihrer geistigen Geschmeidigkeit und Gewitztheit sind sie so sicher, dass sie nie, selbst in der bittersten Lage nicht, nö thig haben, mit der physischen Kraft, als grobe Arbeiter, Lastträ ger, Ackerbausclaven ihr Brod zu erwerben. Ihren Manieren merkt man noch an, dass man ihnen niemals ritterlich vornehme Empfindungen in die Seele und schö ne Waffen um den Leib gegeben hat: etwas Zudringliches wechselt mit einer oft zä rtlichen, fast stets peinlichen Unterwü rfigkeit. Aber jetzt, da sie unvermeidlich von Jahr zu Jahr mehr sich mit dem besten Adel Europa's verschwä gern, werden sie bald eine gute Erbschaft von Manieren des Geistes und Leibes gemacht haben: sodass sie in hundert Jahren schon vornehm genug dreinschauen werden, um als Herren bei den ihnen Unterworfenen nicht Scham zu erregen. Und darauf kommt es an! Desshalb ist ein Austrag ihrer Sache fü r jetzt noch verfrü ht! Sie wissen selber am besten, dass an eine Eroberung Europa's und an irgend welche Gewaltsamkeit fü r sie nicht zu denken ist: wohl aber, dass Europa irgendwann einmal wie eine vö llig reife Frucht ihnen in die Hand fallen dü rfte, welche sich ihr nur leicht entgegenstreckt. Inzwischen haben sie dazu nö thig, auf allen Gebieten der europä ischen Auszeichnung sich auszuzeichnen und unter den Ersten zu stehen: bis sie es so weit bringen, Das, was auszeichnen soll, selber zu bestimmen. Dann werden sie die Erfinder und Wegzeiger der Europä er heissen und nicht mehr deren Scham beleidigen. Und wohin soll auch diese Fü lle angesammelter grosser Eindrü cke, welche die jü dische Geschichte fü r jede jü dische Familie ausmacht, diese Fü lle von Leidenschaften, Tugenden, Entschlü ssen, Entsagungen, Kä mpfen, Siegen aller Art, – wohin soll sie sich ausströ men, wenn nicht zuletzt in grosse geistige Menschen und Werke! Dann, wenn die Juden auf solche Edelsteine und goldene Gefä sse als ihr Werk hinzuweisen haben, wie sie die europä ischen Vö lker kü rzerer und weniger tiefer Erfahrung nicht hervorzubringen vermö gen und vermochten, wenn Israel seine ewige Rache in eine ewige Segnung Europa's verwandelt haben wird: dann wird jener siebente Tag wieder einmal da sein, an dem der alte Judengott sich seiner selber, seiner Schö pfung und seines auserwä hlten Volkes freuen darf, – und wir Alle, Alle wollen uns mit ihm freun!

 

206.

 

Der unmö gliche Stand. – Arm, frö hlich und unabhä ngig! – das ist beisammen mö glich; arm, frö hlich und Sclave! – das ist auch mö glich, – und ich wü sste den Arbeitern der Fabrik‑ Sclaverei nichts Besseres zu sagen: gesetzt, sie empfinden es nicht ü berhaupt als Schande, dergestalt, wie es geschieht, als Schrauben einer Maschine und gleichsam als Lü ckenbü sser der menschlichen Erfindungskunst verbraucht zu werden! Pfui! zu glauben, dass durch hö here Zahlung das Wesentliche ihres Elends, ich meine, ihre unpersö nliche Verknechtung, gehoben werden kö nne! Pfui! sich aufreden zu lassen, durch eine Steigerung dieser Unpersö nlichkeit, innerhalb des maschinenhaften Getriebes einer neuen Gesellschaft kö nne die Schande der Sclaverei zur Tugend gemacht werden! Pfui! einen Preis zu haben, fü r den man nicht mehr Person, sondern Schraube wird! Seid ihr die Mitverschworenen in der jetzigen Narrheit der Nationen, welche vor Allem mö glichst Viel produciren und mö glichst reich sein wollen? Eure Sache wä re es, ihnen die Gegenrechnung vorzuhalten: wie grosse Summen inneren Werthes fü r ein solches ä usserliches Ziel weggeworfen werden! Wo ist aber euer innerer Werth, wenn ihr nicht mehr wisst, was frei athmen heisst? euch selber nicht einmal nothdü rftig in der Gewalt habt? eurer wie eines abgestandenen Geträ nkes allzu oft ü berdrü ssig werdet? nach der Zeitung hinhorcht und den reichen Nachbar anschielt, lü stern gemacht durch das schnelle Steigen und Fallen von Macht, Geld und Meinungen? wenn ihr keinen Glauben mehr an die Philosophie, die Lumpen trä gt, an die Freimü thigkeit des Bedü rfnisslosen habt? wenn euch die freiwillige idyllische Armuth, Berufs‑ und Ehelosigkeit, wie sie recht wohl den Geistigeren unter euch anstehen sollte, zum Gelä chter geworden ist? Dagegen die Pfeife der socialistischen Rattenfä nger immer im Ohre tö nt, die euch mit tollen Hoffnungen brü nstig machen wollen? welche euch heissen, bereit zu sein und Nichts weiter, bereit von heute auf morgen, sodass ihr auf Etwas von Aussen her wartet und wartet und in Allem sonst lebt, wie ihr sonst gelebt habt, – bis dieses Warten zum Hunger und zum Durst und zum Fieber und zum Wahnsinn wird, und endlich der Tag der bestia triumphans in aller Herrlichkeit aufgeht? – Dagegen sollte doch Jeder bei sich denken: »lieber auswandern, in wilden und frischen Gegenden der Welt Herr zu werden suchen und vor Allem Herr ü ber mich selber; den Ort so lange wechseln, als noch irgend ein Zeichen von Sclaverei mir winkt; dem Abenteuer und dem Kriege nicht aus dem Wege gehen und fü r die schlimmsten Zufä lle den Tod in Bereitschaft halten: nur nicht lä nger diese unanstä ndige Knechtschaft, nur nicht lä nger diess Sauer‑ und Giftig‑ und Verschwö rerisch‑ werden! «Diess wä re die rechte Gesinnung: die Arbeiter in Europa sollten sich als Stand fü rderhin fü r eine Menschen‑ Unmö glichkeit, und nicht nur, wie meistens geschieht, als etwas hart und unzweckmä ssig Eingerichtetes erklä ren; sie sollten ein Zeitalter des grossen Ausschwä rmens im europä ischen Bienenstocke herauffü hren, wie dergleichen bisher noch nicht erlebt wurde, und, durch diese That der Freizü gigkeit im grossen Stil, gegen die Maschine, das Capital und die jetzt ihnen drohende Wahl protestiren, entweder Sclave des Staates oder Sclave einer Umsturz‑ Partei werden zu mü ssen. Mö ge sich Europa des vierten Theiles seiner Bewohner erleichtern! Ihm und ihnen wird es leichter um's Herz werden! In der Ferne erst, bei den Unternehmungen schwä rmender Colonisten Zü ge wird man recht erkennen, wie viel gute Vernunft und Billigkeit, wie viel gesundes Misstrauen die Mutter Europa ihren Sö hnen einverleibt hat, – diesen Sö hnen, welche es neben ihr, dem verdumpften alten Weibe, nicht mehr aushalten konnten und Gefahr liefen, griesgrä mig, reizbar und genusssü chtig, wie sie selber, zu werden. Ausserhalb Europa's werden die Tugenden Europa's mit diesen Arbeitern auf der Wanderschaft sein; und Das, was zu gefä hrlichem Missmuth und verbrecherischem Hange innerhalb der Heimath zu entarten begann, wird draussen eine wilde schö ne Natü rlichkeit gewinnen und Heroismus heissen. – So kä me doch endlich auch wieder reinere Luft in das alte, jetzt ü bervö lkerte und in sich brü tende Europa! Mag es immerhin dann an» Arbeitskrä ften «etwas fehlen! Vielleicht wird man sich dabei besinnen, dass man an viele Bedü rfnisse sich erst seitdem gewö hnt hat, als es so leicht wurde, sie zu befriedigen, – man wird einige Bedü rfnisse wieder verlernen! Vielleicht auch wird man dann Chinesen hereinholen: und diese wü rden die Denk‑ und Lebensweise mitbringen, welche sich fü r arbeitsame Ameisen schickt. Ja, sie kö nnten im Ganzen dazu helfen, dem unruhigen und sich aufreibenden Europa etwas asiatische Ruhe und Betrachtsamkeit und – was am meisten wohl noth thut – asiatische Dauerhaftigkeit in's Geblü t zu geben.

 

207.

 

Verhalten der Deutschen zur Moral. – Ein Deutscher ist grosser Dinge fä hig, aber es ist unwahrscheinlich, dass er sie thut: denn er gehorcht, wo er kann, wie diess einem an sich trä gen Geiste wohlthut. Wird er in die Noth gebracht, allein zu stehen und seine Trä gheit abzuwerfen, ist es ihm nicht mehr mö glich, als Ziffer in einer Summe unterzuducken (in dieser Eigenschaft ist er bei Weitem nicht so viel werth wie ein Franzose oder Englä nder) – so entdeckt er seine Krä fte: dann wird er gefä hrlich, bö se, tief, verwegen, und bringt den Schatz von schlafender Energie an's Licht, den er in sich trä gt und an den sonst Niemand (und er selber nicht) glaubte. Wenn ein Deutscher sich in solchem Falle selbst gehorcht – es ist die grosse Ausnahme –, so geschieht es mit der gleichen Schwerfä lligkeit, Unerbittlichkeit und Dauer, mit der er sonst seinem Fü rsten, seinen amtlichen Obliegenheiten gehorcht: sodass er, wie gesagt, dann grossen Dingen gewachsen ist, die zu dem» Schwachen Charakter«, den er bei sich voraussetzt, in gar keinem Verhä ltniss stehen. Fü r gewö hnlich aber fü rchtet er sich, von sich allein abzuhä ngen, zu improvisiren: desshalb verbraucht Deutschland so viel Beamte, so viel Tinte. – Der Leichtsinn ist ihm fremd, fü r ihn ist er zu ä ngstlich; aber in ganz neuen Lagen, die ihn aus der Schlä frigkeit herausziehen, ist er beinahe leichtsinnig; er geniesst dann die Seltenheit der neuen Lage wie einen Rausch, und er versteht sich auf den Rausch! So ist der Deutsche jetzt in der Politik beinahe leichtsinnig: hat er das Vorurtheil der Grü ndlichkeit und des Ernstes auch hier fü r sich und benutzt er es im Verkehr mit den anderen politischen Mä chten reichlich, so ist er doch insgeheim voller Ü bermuth, einmal schwä rmen und launenhaft und neuerungssü chtig sein zu dü rfen und mit Personen, Parteien, Hoffnungen wie mit Masken zu wechseln. – Die deutschen Gelehrten, welche bisher das Ansehen hatten, die Deutschesten unter den Deutschen zu sein, waren und sind vielleicht noch so gut wie die deutschen Soldaten, wegen ihres tiefen, fast kindlichen Hanges zum Gehorchen in allen ä usseren Dingen und der Nö thigung, in der Wissenschaft viel allein zu stehen und Viel zu verantworten; wenn sie ihre stolze, schlichte und geduldige Art und ihre Freiheit von politischer Narrheit zu sichern wissen, in Zeiten, wo der Wind anders blä st, so steht noch Grosses von ihnen zu erwarten: so wie sie sind (oder waren), sind sie der embryonische Zustand von etwas Hö herem. – Der Vortheil und der Nachtheil der Deutschen, und selbst ihrer Gelehrten, war bisher, dass sie dem Aberglauben und der Lust, zu glauben, nä her standen, als andere Vö lker; ihre Laster sind, nach wie vor, der Trunk und der Hang zum Selbstmord (dieser ein Zeichen von Schwerfä lligkeit des Geistes, der schnell dazu gebracht werden kann, die Zü gel wegzuwerfen); ihre Gefahr liegt in Allem, was die Verstandeskrä fte bindet und die Affecte entfesselt (wie zum Beispiel der ü bermä ssige Gebrauch der Musik und der geistigen Geträ nke): denn der deutsche Affect ist gegen den eigenen Nutzen gerichtet und selbstzerstö rerisch wie der des Trunkenboldes. Die Begeisterung selber ist in Deutschland weniger werth, als anderwä rts, denn sie ist unfruchtbar. Wenn je ein Deutscher etwas Grosses that, so geschah es in der Noth, im Zustande der Tapferkeit, der zusammengebissenen Zä hne, der gespanntesten Besonnenheit und oft der Grossmuth. – Der Umgang mit ihnen wä re wohl anzurathen, – denn fast jeder Deutsche hat Etwas zu geben, wenn man versteht, ihn dahin zu bringen, dass er es findet, wiederfindet (er ist unordentlich in sich). – Wenn nun ein Volk dieser Art sich mit Moral abgiebt: welche Moral wird es sein, die gerade ihm genugthut? Sicherlich wird es zuerst wollen, dass sein herzlicher Hang zum Gehorsam in ihr idealisirt erscheine. »Der Mensch muss Etwas haben, dem er unbedingt gehorchen kann«– das ist eine deutsche Empfindung, eine deutsche Folgerichtigkeit: man begegnet ihr auf dem Grunde aller deutschen Morallehren. Wie anders ist der Eindruck, wenn man sich vor die gesammte antike Moral stellt! Alle diese griechischen Denker, so vielartig ihr Bild uns entgegenkommt, scheinen als Moralisten dem Turnmeister zu gleichen, der einem Jü nglinge zuspricht» Komm! Folge mir! Ergieb dich meiner Zucht! So wirst du es vielleicht so hoch bringen, vor allen Hellenen einen Preis davonzutragen. «Persö nliche Auszeichnung, – das ist die antike Tugend. Sich unterwerfen, folgen, ö ffentlich oder in der Verborgenheit, – das ist deutsche Tugend. Lange vor Kant und seinem kategorischen Imperativ hatte Luther aus der selben Empfindung gesagt: es mü sse ein Wesen geben, dem der Mensch unbedingt vertrauen kö nne, – es war sein Gottesbeweis, er wollte, grö ber und volksthü mlicher als Kant, dass man nicht einem Begriff, sondern einer Person unbedingt gehorche und schliesslich hat auch Kant seinen Umweg um die Moral nur desshalb genommen, um zum Gehorsam gegen die Person zu gelangen: das ist eben der Cultus des Deutschen, je weniger ihm gerade vom Cultus in der Religion ü brig geblieben ist. Griechen und Rö mer empfanden anders und wü rden ü ber ein solches» es muss ein Wesen geben«– gespottet haben: es gehö rte zu ihrer sü dlä ndischen Freiheit des Gefü hls, sich des» unbedingten Vertrauens «zu erwehren und im letzten Verschluss des Herzens eine kleine Skepsis gegen Alles und Jedes, sei es Gott oder Mensch oder Begriff, zurü ckzubehalten. Gar der antike Philosoph! Nil admirari – in diesem Satze sieht er die Philosophie. Und ein Deutscher, nä mlich Schopenhauer, geht so weit im Gegentheil zu sagen: admirari id est philosophari. – Wie aber nun, wenn der Deutsche einmal, wie es vorkommt, in den Zustand gerä th, wo er groß er Dinge fä hig ist? Wenn die Stunde der Ausnahme, die Stunde des Ungehorsams kommt? – Ich glaube nicht, dass Schopenhauer mit Recht sagt, es sei der einzige Vorzug der Deutschen vor anderen Vö lkern, dass es unter ihnen mehr Atheisten gebe, als anderwä rts, – aber Das weiss ich: wenn der Deutsche in den Zustand gerä th, wo er grosser Dinge fä hig ist, so erhebt er sich allemal ü ber die Moral! Und wie sollte er nicht? Jetzt muss er etwas Neues thun, nä mlich befehlen – sich oder Anderen! Das Befehlen hat ihn aber seine deutsche Moral nicht gelehrt! Das Befehlen ist in ihr vergessen!

 

Viertes Buch

 

 



  

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