Хелпикс

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Zweites Buch 3 страница



 

43.

 

Wie viele Krä fte jetzt im Denker zusammenkommen mü ssen. – Sich dem sinnlichen Anschauen zu entfremden, sich zum Abstracten zu erheben, – das ist wirklich einmal als Erhebung gefü hlt worden: wir kö nnen es nicht ganz mehr nachempfinden. Das Schwelgen in den blassesten Wort‑ und Dingbildern, das Spiel mit solchen unschaubaren, unhö rbaren, unfü hlbaren Wesen wurde wie ein Leben in einer anderen hö heren Welt empfunden, aus der tiefen Verachtung der sinnlich tastbaren verfü hrerischen und bö sen Welt heraus. »Diese Abstracta verfü hren nicht mehr, aber sie kö nnen uns fü hren! «– dabei schwang man sich wie aufwä rts. Nicht der Inhalt dieser Spiele der Geistigkeit, sie selber sind» das Hö here «in den Vorzeiten der Wissenschaft gewesen. Daher Plato's Bewunderung der Dialektik und sein begeisterter Glaube an ihre nothwendige Beziehung zu dem guten entsinnlichten Menschen. Nicht nur die Erkenntnisse sind einzeln und allmä hlich entdeckt worden, sondern auch die Mittel der Erkenntniss ü berhaupt, die Zustä nde und Operationen, die im Menschen dem Erkennen vorausgehen. Und jedesmal schien es, als ob die neu entdeckte Operation oder der neu empfundene Zustand nicht ein Mittel zu allem Erkennen, sondern schon Inhalt, Ziel und Summe alles Erkennenswerthen sei. Der Denker hat die Phantasie, den Aufschwung, die Abstraction, die Entsinnlichung, die Erfindung, die Ahnung, die Induction, die Dialektik, die Deduction, die Kritik, die Materialsammlung, die unpersö nliche Denkweise, die Beschaulichkeit und die Zusammenschauung und nicht am Wenigsten Gerechtigkeit und Liebe gegen Alles, was da ist, nö thig, – aber alle diese Mittel haben einzeln in der Geschichte der vita contemplativa einmal als Zwecke und letzte Zwecke gegolten und jene Seligkeit ihren Erfindern gegeben, welche beim Aufleuchten eines letzten Zweckes in die menschliche Seele kommt.

 

44.

 

Ursprung und Bedeutung. – Warum kommt mir dieser Gedanke immer wieder und leuchtet mir in immer bunteren Farben? – dass ehemals die Forscher, wenn sie auf dem Wege zum Ursprung der Dinge waren, immer Etwas von dem zu finden meinten, was von unschä tzbarer Bedeutung fü r alles Handeln und Urtheilen sei, ja, dass man stets voraussetzte, von der Einsicht in den Ursprung der Dinge mü sse des Menschen Heil abhä ngen: dass wir jetzt hingegen, je weiter wir dem Ursprunge nachgehen, um so weniger mit unseren Interessen betheiligt sind; ja, dass alle unsere Werthschä tzungen und» Interessirtheiten«, die wir in die Dinge gelegt haben, anfangen ihren Sinn zu verlieren, je mehr wir mit unserer Erkenntniss zurü ck und an die Dinge selbst heran gelangen. Mit der Einsicht in den Ursprung nimmt die Bedeutungslosigkeit des Ursprungs zu: wä hrend das Nä chste, das Um‑ uns und In‑ uns allmä hlich Farben und Schö nheiten und Rä thsel und Reichthü mer von Bedeutung aufzuzeigen beginnt, von denen sich die ä ltere Menschheit nichts trä umen liess. Ehemals giengen die Denker gleich eingefangenen Thieren ingrimmig herum, immer nach den Stä ben ihres Kä figs spä hend und gegen diese anspringend, um sie zu zerbrechen: und selig schien der, welcher durch eine Lü cke Etwas von dem Draussen, von dem Jenseits und der Ferne zu sehen glaubte.

 

45.

 

Ein Tragö dienAusgang der Erkenntniss. – Von allen Mitteln der Erhebung sind es die Menschenopfer gewesen, welche zu allen Zeiten den Menschen am meisten erhoben und gehoben haben. Und vielleicht kö nnte mit Einem ungeheuren Gedanken immer noch jede andere Bestrebung niedergerungen werden, sodass ihm der Sieg ü ber den Siegreichsten gelä nge, – mit dem Gedanken der sich opfernden Menschheit. Wem aber sollte sie sich opfern? Man kann bereits darauf schwö ren, dass, wenn jemals das Sternbild dieses Gedankens am Horizonte erscheint, die Erkenntniss der Wahrheit als das einzige ungeheure Ziel ü brig geblieben sein wird, dem ein solches Opfer angemessen wä re, weil ihm kein Opfer zu gross ist. Inzwischen ist das Problem noch nie aufgestellt worden, inwiefern der Menschheit, als einem Ganzen, Schritte mö glich sind, die Erkenntniss zu fö rdern; geschweige denn, welcher Erkenntnisstrieb die Menschheit so weit treiben kö nnte, sich selber darzubringen, um mit dem Leuchten einer vorwegnehmenden Weisheit im Auge zu sterben. Vielleicht, wenn einmal eine Verbrü derung mit Bewohnern anderer Sterne zum Zweck der Erkenntniss hergestellt ist, und man einige Jahrtausende lang sich sein Wissen von Stern zu Stern mitgetheilt hat: vielleicht, dass dann die Begeisterung der Erkenntniss auf eine solche Fluth‑ Hö he kommt!

 

46.

 

Zweifel am Zweifel. – »Welch' gutes Kopfkissen ist der Zweifel fü r einen wohlgebauten Kopf! «– diess Wort Montaigne's hat Pascal immer erbittert, denn es verlangte Niemanden gerade so stark nach einem guten Kopfkissen, als ihn. Woran fehlte es doch? –

 

47.

 

Die Worte liegen uns im Wege! – Ü berall, wo die Uralten ein Wort hinstellten, da glaubten sie eine Entdeckung gemacht zu haben. Wie anders stand es in Wahrheit! – sie hatten an ein Problem gerü hrt und indem sie wä hnten, es gelö st zu haben, hatten sie ein Hemmniss der Lö sung geschaffen. – Jetzt muss man bei jeder Erkenntniss ü ber steinharte verewigte Worte stolpern, und wird dabei eher ein Bein brechen, als ein Wort.

 

48.

 

«Erkenne dich selbst «ist die ganze Wissenschaft. – Erst am Ende der Erkenntniss aller Dinge wird der Mensch sich selber erkannt haben. Denn die Dinge sind nur die Grä nzen des Menschen.

 

49.

 

Das neue Grundgefü hl: unsere endgü ltige Vergä nglichkeit. – Ehemals suchte man zum Gefü hl der Herrlichkeit des Menschen zu kommen, indem man auf seine gö ttliche Abkunft hinzeigte: diess ist jetzt ein verbotener Weg geworden, denn an seiner Thü r steht der Affe, nebst anderem greulichen Gethier, und fletscht verstä ndnissvoll die Zä hne, wie um zu sagen: nicht weiter in dieser Richtung! So versucht man es jetzt in der entgegengesetzten Richtung: der Weg, wohin die Menschheit geht, soll zum Beweise ihrer Herrlichkeit und Gottverwandtschaft dienen. Ach, auch damit ist es Nichts! Am Ende dieses Weges steht die Graburne des letzten Menschen und Todtengrä bers (mit der Aufschrift» nihil humani a me alienum puto«). Wie hoch die Menschheit sich entwickelt haben mö ge – und vielleicht wird sie am Ende gar tiefer, als am Anfang stehen! – es giebt fü r sie keinen Ü bergang in eine hö here Ordnung, so wenig die Ameise und der Ohrwurm am Ende ihrer» Erdenbahn «zur Gottverwandtschaft und Ewigkeit emporsteigen. Das Werden schleppt das Gewesensein hinter sich her: warum sollte es von diesem ewigen Schauspiele eine Ausnahme fü r irgend ein Sternchen und wiederum fü r ein Gattungchen auf ihm geben! Fort mit solchen Sentimentalitä ten!

 

50.

 

Der Glaube an den Rausch. – Die Menschen der erhabenen und verzü ckten Augenblicke, denen es fü r gewö hnlich, um des Gegensatzes willen und wegen der verschwenderischen Abnü tzung ihrer Nervenkrä fte, elend und trostlos zu Muthe ist, betrachten jene Augenblicke als das eigentliche Selbst, als» sich«, das Elend und die Trostlosigkeit als die Wirkung des» Ausser‑ sich«; und desshalb denken sie an ihre Umgebung, ihre Zeit, ihre ganze Welt mit rachsü chtigen Gefü hlen. Der Rausch gilt ihnen als das wahre Leben, als das eigentliche Ich: in allem Anderen sehen sie die Gegner und Verhinderer des Rausches, sei dieser nun geistiger, sittlicher, religiö ser oder kü nstlerischer Natur. Diesen schwä rmerischen Trunkenbolden verdankt die Menschheit viel ü bles: denn sie sind die unersä ttlichen Unkraut‑ Aussä er der Unzufriedenheit mit sich und den Nä chsten, der Zeit‑ und Weltverachtung und namentlich der Welt‑ Mü digkeit. Vielleicht kö nnte eine ganze Hö lle von Verbrechern nicht diese drü ckende, land‑ und luftverderbende, unheimliche Nachwirkung in die fernste Ferne hin haben, wie jene kleine edle Gemeinde von Unbä ndigen, Phantasten, Halbverrü ckten, von Genie's, die sich nicht beherrschen kö nnen und allen mö glichen Genuss an sich erst dann haben, wenn sie sich vö llig verlieren: wä hrend der Verbrecher sehr oft noch einen Beweis von ausgezeichneter Selbstbeherrschung, Aufopferung und Klugheit giebt und diese Eigenschaften bei Denen, welche ihn fü rchten, wach erhä lt. Durch ihn wird der Himmel ü ber dem Leben vielleicht gefä hrlich und dü ster, aber die Luft bleibt krä ftig und streng. – Zu alledem pflanzen jene Schwä rmer mit allen ihren Krä ften den Glauben an den Rausch als an das Leben im Leben: einen furchtbaren Glauben! Wie die Wilden jetzt schnell durch das» Feuerwasser «verdorben werden und zu Grunde gehen, so ist die Menschheit im Ganzen und Grossen langsam und grü ndlich durch die geistigen Feuerwä sser trunken machender Gefü hle und durch Die, welche die Begierde darnach lebendig erhielten, verdorben worden: vielleicht geht sie noch daran zu Grunde.

 

51.

 

So wie wir noch sind! – »Seien wir nachsichtig gegen die grossen Einä ugigen! «– hat Stuart Mill gesagt: als ob Nachsicht zu erbitten nö thig wä re, wo man gewö hnt ist, ihnen Glauben und beinahe Anbetung zu zollen! Ich sage: seien wir nachsichtig gegen die Zweiä ugigen, grosse und kleine, – denn hö her, als bis zur Nachsicht werden wir, so wie wir sind, es doch nicht bringen!

 

52.

 

Wo sind die neuen Arzte der Seele? – Die Mittel des Trostes sind es gewesen, durch welche das Leben erst jenen leidvollen Grundcharakter, an den man jetzt glaubt, bekommen hat; die grö sste Krankheit der Menschen ist aus der Bekä mpfung ihrer Krankheiten entstanden, und die anscheinenden Heilmittel haben auf die Dauer Schlimmeres erzeugt, als Das war, was mit ihnen beseitigt werden sollte. Aus Unkenntniss hielt man die augenblicklich wirkenden, betä ubenden und berauschenden Mittel, die sogenannten Trö stungen, fü r die eigentlichen Heilkrä fte, ja, man merkte es nicht einmal, dass man diese sofortigen Erleichterungen oft mit der allgemeinen und tiefen Verschlechterung des Leidens bezahlte, dass die Kranken an der Nachwirkung des Rausches, spä ter an der Entbehrung des Rausches und noch spä ter an einem drü ckenden Gesammtgefü hl von Unruhe, Nervenzittern und Ungesundheit zu leiden hatten. Wenn man bis zu einem gewissen Grade erkrankt war, genas man nicht mehr, – dafü r sorgten die Arzte der Seele, die allgemein beglaubigten und angebeteten. – Man sagt Schopenhauern nach, und mit Recht, dass er die Leiden der Menschheit endlich einmal wieder ernst genommen habe: wo ist Der, welcher endlich auch einmal die Gegenmittel gegen diese Leiden ernst nimmt und die unerhö rte Quacksalberei an den Pranger stellt, mit der, unter den herrlichsten Namen, bis jetzt die Menschheit ihre Seelenkrankheiten zu behandeln gewö hnt ist?

 

53.

 

Missbrauch der Gewissenhaften. – Die Gewissenhaften und nicht die Gewissenlosen waren es, die so furchtbar unter dem Druck von Busspredigten und Hö llenä ngsten zu leiden hatten, zumal wenn sie zugleich Menschen der Phantasie waren. Also ist gerade Denen das Leben am meisten verdü stert worden, welche Heiterkeit und anmuthige Bilder nö thig hatten – nicht nur zu ihrer Erholung und Genesung von sich selber, sondern damit die Menschheit sich ihrer erfreuen kö nne und von ihrer Schö nheit einen Strahl in sich hinü ber nehme. Oh, wie viel ü berflü ssige Grausamkeit und Thierquä lerei ist von jenen Religionen ausgegangen, welche die Sü nde erfunden haben! Und von den Menschen, welche durch sie den hö chsten Genuss ihrer Macht haben wollten!

 

54.

 

Die Gedanken ü ber die Krankheit! – Die Phantasie des Kranken beruhigen, dass er wenigstens nicht, wie bisher, mehr von seinen Gedanken ü ber seine Krankheit zu leiden hat, als von der Krankheit selber, – ich denke, das ist Etwas! Und es ist nicht Wenig! Versteht ihr nun unsere Aufgabe?

 

55.

 

Die» Wege«. – Die angeblichen» kü rzeren Wege «haben die Menschheit immer in grosse Gefahr gebracht; sie verlä sst immer bei der frohen Botschaft, dass ein solcher kü rzerer Weg gefunden sei, ihren Weg – und verliert den Weg.

 

56.

 

Der Apostat des freien Geistes. – Wer hat denn gegen fromme glaubensstarke Menschen eine Abneigung? Umgekehrt, sehen wir sie nicht mit stiller Hochachtung an und freuen uns ihrer, mit einem grü ndlichen Bedauern, dass diese trefflichen Menschen nicht mit uns zusammenempfinden? Aber woher stammt jener tiefe plö tzliche Widerwille ohne Grü nde gegen Den, der einmal alle Freiheit des Geistes hatte und am Ende» glä ubig «wurde? Denken wir daran, so ist es uns, als hä tten wir einen ekelhaften Anblick gehabt, den wir schnell von der Seele wegwischen mü ssten! Wü rden wir nicht dem verehrtesten Menschen den Rü cken drehen, wenn er in dieser Beziehung uns verdä chtig wü rde? Und zwar nicht aus einer moralischen Verurtheilung, sondern aus einem plö tzlichen Ekel und Grausen! Woher diese Schä rfe der Empfindung! Vielleicht wird uns Dieser oder Jener zu verstehen geben, dass wir im Grunde unser selber nicht ganz sicher seien? Dass wir bei Zeiten Dornenhecken der spitzesten Verachtung um uns pflanzten, damit wir im entscheidenden Augenblicke, wo das Alter uns schwach und vergesslich mache, ü ber unsere eigene Verachtung nicht hinwegkö nnten? – Aufrichtig: diese Vermuthung greift fehl, und wer sie macht, weiss Nichts von dem, was den freien Geist bewegt und bestimmt: wie wenig erscheint ihm das Verä ndern seiner Meinungen an sich als verä chtlich! Wie verehrt er umgekehrt in der Fä higkeit, seine Meinungen zu wechseln, eine seltene und hohe Auszeichnung, namentlich wenn sie bis in's Alter hineinreicht! Und selbst zu den verbotenen Frü chten des spernere se sperni und des spernere se ipsum greift sein Ehrgeiz hinauf (und nicht sein Kleinmuth): geschweige dass er die Angst des Eitlen und Bequemen davor hä tte! Zu alledem gilt ihm die Lehre von der Unschuld aller Meinungen so sicher wie die Lehre von der Unschuld aller Handlungen: wie kö nnte er vor dem Apostaten der geistigen Freiheit zum Richter und Henker werden! Vielmehr berü hrt ihn sein Anblick, wie der Anblick eines widerlich Erkrankten den Arzt berü hrt: der physische Ekel vor dem Schwammigen, Erweichten, Ü berwuchernden, Eiternden siegt einen Augenblick ü ber die Vernunft und den Willen, zu helfen. So wird unser guter Wille von der Vorstellung der ungeheuren Unredlichkeit ü berwä ltigt, welche im Apostaten des freien Geistes gewaltet haben muss: von der Vorstellung einer allgemeinen und bis in's Knochengerü ste des Charakters greifenden Entartung. –

 

57.

 

Andere Furcht, andere Sicherheit. – Das Christenthum hatte dem Leben eine ganz neue und unbegrä nzte Gefä hrlichkeit beigelegt, und damit ebenfalls ganz neue Sicherheiten, Genü sse, Erholungen und Abschä tzungen aller Dinge geschaffen. Diese Gefä hrlichkeit leugnet unser Jahrhundert, und mit gutem Gewissen: und doch schleppt es die alten Gewohnheiten der christlichen Sicherheit, des christlichen Geniessens, Sich‑ Erholens, Abschä tzens noch mit sich fort! Und bis in seine edelsten Kü nste und Philosophien hinein! Wie matt und verbraucht, wie halb und linkisch, wie willkü rlich‑ fanatisch und vor Allem: wie unsicher muss das Alles sich ausnehmen, jetzt, da jener furchtbare Gegensatz dazu, die allgegenwä rtige Furcht des Christen fü r sein ewiges Heil verloren gegangen ist!

 

58.

 

Das Christenthum und die Affecte. – Aus dem Christenthum ist auch ein grosser volksthü mlicher Protest gegen die Philosophie herauszuhö ren: die Vernunft der alten Weisen hatte den Menschen die Affecte widerrathen, das Christenthum will dieselben ihnen wiedergeben. Zu diesem Zwecke spricht es der Tugend, so wie sie von den Philosophen gefasst war, – als Sieg der Vernunft ü ber den Affect – allen moralischen Werth ab, verurtheilt ü berhaupt die Vernü nftigkeit und fordert die Affecte heraus, sich in ihrer ä ussersten Stä rke und Pracht zu offenbaren: als Liebe zu Gott, Furcht vor Gott, als fanatischen Glauben an Gott, als blindestes Hoffen auf Gott.

 

59.

 

Irrthum als Labsal. – Man mag sagen, was man will: das Christenthum hat die Menschen von der Last der moralischen Anforderungen befreien wollen, dadurch, dass es einen kü rzeren Weg zur Vollkommenheit zu zeigen meinte: ganz so, wie einige Philosophen sich der mü hseligen und langwierigen Dialektik und der Sammlung streng geprü fter Thatsachen entschlagen zu kö nnen wä hnten und auf einen» kö niglichen Weg zur Wahrheit «verwiesen. Es war beide Male ein Irrthum, – aber doch ein grosses Labsal fü r Ü bermü de und Verzweifelnde in der Wü ste.

 

60.

 

Aller Geist wird endlich leiblich sichtbar. – Das Christenthum hat den gesammten Geist zahlloser Unterwerfungslustiger, aller jener feinen und groben Enthusiasten der Demü thigung und Anbetung in sich geschlungen, es ist damit aus einer lä ndlichen Plumpheit – an welche man zum Beispiel bei dem ä ltesten Bilde des Apostels Petrus stark erinnert wird – eine sehr geistreiche Religion geworden, mit Tausenden von Falten, Hintergedanken und Ausflü chten im Gesichte; es hat die Menschheit Europa's gewitzigt und nicht nur theologisch verschlagen gemacht. In diesem Geiste und im Bunde mit der Macht und sehr oft mit der tiefsten Ü berzeugung und Ehrlichkeit der Hingebung hat es vielleicht die feinsten Gestalten der menschlichen Gesellschaft ausgemeisselt, die es bisher gegeben hat: die Gestalten der hö heren und hö chsten katholischen Geistlichkeit, namentlich wenn diese einem vornehmen Geschlechte entsprossen waren und von vornherein angeborene Anmuth der Gebä rden, herrschende Augen und schö ne Hä nde und Fü sse hinzubrachten. Hier erreicht das menschliche Antlitz jene Durchgeistigung, die durch die bestä ndige Ebbe und Flut der zwei Arten des Glü ckes (des Gefü hls der Macht und des Gefü hls der Ergebung) hervorgebracht wird, nachdem eine ausgedachte Lebensweise das Thier im Menschen gebä ndigt hat; hier hä lt eine Thä tigkeit, die im Segnen, Sü ndenvergeben und Reprä sentiren der Gottheit besteht, fortwä hrend das Gefü hl einer ü bermenschlichen Mission in der Seele, ja auch im Leibe wach; hier herrscht jene vornehme Verachtung gegen die Gebrechlichkeit von Kö rper und Wohlfahrt des Glü ckes, wie sie geborenen Soldaten zu eigen ist; man hat im Gehorchen seinen Stolz, was das Auszeichnende aller Aristokraten ausmacht; man hat in der ungeheueren Unmö glichkeit seiner Aufgabe seine Entschuldigung und seine Idealitä t. Die mä chtige Schö nheit und Feinheit der Kirchenfü rsten hat immerdar fü r das Volk die Wahrheit der Kirche bewiesen; eine zeitweilige Brutalisirung der Geistlichkeit (wie zu Zeiten Luther's) fü hrte immer den Glauben an das Gegentheil mit sich. – Und diess Ergebniss menschlicher Schö nheit und Feinheit in der Harmonie von Gestalt, Geist und Aufgabe wä re, mit dem Ende der Religionen, auch zu Grabe getragen? Und Hö heres liesse sich nicht erreichen, nicht einmal ersinnen?

 

61.

 

Das Opfer, das noth thut. – Diese ernsten, tü chtigen, rechtlichen, tief empfindenden Menschen, welche jetzt noch von Herzen Christen sind: sie sind es sich schuldig, einmal auf lä ngere Zeit versuchsweise ohne Christenthum zu leben, sie sind es ihrem Glauben schuldig, einmal auf diese Art einen Aufenthalt» in der Wü ste «zu nehmen, – nur damit sie sich das Recht erwerben, in der Frage, ob das Christenthum nö thig sei, mitzureden. Einstweilen kleben sie an ihrer Scholle und lä stern von da aus die Welt jenseits der Scholle: ja, sie sind bö se und erbittert, wenn Jemand zu verstehen giebt, dass jenseits der Scholle eben noch die ganze, ganze Welt liegt! dass das Christenthum, Alles in Allem, eben nur ein Winkel ist! Nein, euer Zeugniss wiegt nicht eher Etwas, als bis ihr Jahre lang ohne Christenthum gelebt habt, mit einer ehrlichen Inbrunst darnach, es im Gegentheile des Christenthums auszuhalten: bis ihr weit, weit von ihm fortgewandert seid. Nicht wenn das Heimweh euch zurü cktreibt, sondern das Urtheil auf Grund einer strengen Vergleichung, so hat euer Heimkehren Etwas zu bedeuten! – Die zukü nftigen Menschen werden es einmal so mit allen Werthschä tzungen der Vergangenheit machen; man muss sie freiwillig noch einmal durchleben, und ebenso ihr Gegentheil, – um schliesslich das Recht zuhaben, sie durch das Sieb fallen zu lassen.

 

62.

 

Vom Ursprunge der Religionen. – Wie kann Einer seine eigene Meinung ü ber die Dinge als eine Offenbarung empfinden? Diess ist das Problem von der Entstehung der Religionen: jedesmal hat es einen Menschen dabei gegeben, in welchem jener Vorgang mö glich war. Die Voraussetzung ist, dass er vorher schon an Offenbarungen glaubte. Nun gewinnt er eines Tages plö tzlich seinen neuen Gedanken, und das Beseligende einer eigenen grossen Welt und Dasein umspannenden Hypothese tritt so gewaltig in sein Bewusstsein, dass er sich nicht als Schö pfer einer solchen Seligkeit zu fü hlen wagt und die Ursache davon und wieder die Ursache der Ursache jenes neuen Gedankens seinem Gotte zuschreibt: als dessen Offenbarung. Wie sollte ein Mensch der Urheber eines so grossen Glü ckes sein kö nnen! – lautet sein pessimistischer Zweifel. Dazu wirken nun im Verborgenen andere Hebel: zum Beispiele man bekrä ftigt eine Meinung vor sich dadurch, dass man sie als Offenbarung empfindet, man streicht damit das Hypothetische weg, man entzieht sie der Kritik, ja dem Zweifel, man macht sie heilig. So erniedrigt man sich zwar selber zum Organon, aber unser Gedanke siegt zuletzt als Gottesgedanke, – dieses Gefü hl, damit am Ende Sieger zu bleiben, erringt die Oberhand ü ber jenes Gefü hl der Erniedrigung. Auch ein anderes Gefü hl spielt im Hintergrunde: wenn man sein Erzeugniss ü ber sich selber erhebt und scheinbar vom eigenen Werthe absieht, so giebt es doch dabei ein Frohlocken von Vaterliebe und Vaterstolz, das Alles ausgleicht und mehr als ausgleicht.

 

63.

 

Nä chstenHass. – Gesetzt, wir empfä nden den Anderen so, wie er sich selber empfindet – Das, was Schopenhauer Mitleid nennt und was richtiger Ein‑ Leid, Einleidigkeit hiesse –, so wü rden wir ihn hassen mü ssen, wenn er sich selber, gleich Pascal, hassenswerth findet. Und so empfand wohl auch Pascal im Ganzen gegen die Menschen, und ebenso das alte Christenthum, das man, unter Nero, des odium generis humani»ü berfü hrte«, wie Tacitus meldet.

 

64.

 

Die Verzweifelnden. – Das Christenthum hat den Instinct des Jä gers fü r alle Die, welche irgend wodurch ü berhaupt zur Verzweiflung zu bringen sind, – nur eine Auswahl der Menschheit ist deren fä hig. Hinter ihnen ist es immer her, ihnen lauert es auf. Pascal machte den Versuch, ob nicht mit Hü lfe der schneidendsten Erkenntniss Jedermann zur Verzweiflung gebracht werden kö nnte; – der Versuch misslang, zu seiner zweiten Verzweiflung.

 

65.

 

Brahmanenund Christenthum. – Es giebt Recepte zum Gefü hle der Macht, einmal fü r Solche, welche sich selber beherrschen kö nnen und welche bereits dadurch in einem Gefü hle der Macht zu Hause sind: sodann fü r Solche, welchen gerade diess fehlt. Fü r Menschen der ersten Gattung hat das Brahmanenthum Sorge getragen, fü r Menschen der zweiten Gattung das Christenthum.

 

66.

 

Fä higkeit der Vision. – Durch das ganze Mittelalter hindurch galt als das eigentliche und entscheidende Merkmal des hö chsten Menschenthums: dass man der Vision – das heisst einer tiefen geistigen Stö rung! – fä hig sei. Und im Grunde gehen die mittelalterlichen Lebensvorschriften aller hö heren Naturen (der religiosi) darauf hinaus, den Menschen der Vision fä hig zu machen! Was Wunder, wenn noch in unsere Zeit hinein eine Ü berschä tzung halbgestö rter, phantastischer, fanatischer, sogenannter genialer Personen ü berströ mte; »sie haben Dinge gesehen, die Andere nicht sehen«– gewiss! und diess sollte uns vorsichtig gegen sie stimmen, aber nicht glä ubig!

 

67.

 

Preis der Glä ubigen. – Wer solchen Werth darauf legt, dass an ihn geglaubt werde, dass er den Himmel fü r diesen Glauben gewä hrleistet, und Jedermann, sei es selbst ein Schä cher am Kreuze, – der muss an einem furchtbaren Zweifel gelitten und jede Art von Kreuzigung kennen gelernt haben: er wü rde sonst seine Glä ubigen nicht so theuer kaufen.

 

68.

 

Der erste Christ. – Alle Welt glaubt noch immer an die Schriftstellerei des» heiligen Geistes «oder steht unter der Nachwirkung dieses Glaubens: wenn man die Bibel aufmacht, so geschieht es, um sich zu» erbauen«, um in seiner eigenen, persö nlichen grossen oder kleinen Noth einen Fingerzeig des Trostes zu finden, – kurz, man liest sich hinein und sich heraus. Dass in ihr auch die Geschichte einer der ehrgeizigsten und aufdringlichsten Seelen und eines ebenso aberglä ubischen als verschlagenen Kopfes beschrieben steht, die Geschichte des Apostels Paulus, – wer weiss das, einige Gelehrte abgerechnet? Ohne diese merkwü rdige Geschichte aber, ohne die Verwirrungen und Stü rme eines solchen Kopfes, einer solchen Seele, gä be es keine Christenheit; kaum wü rden wir von einer kleinen jü dischen Secte erfahren haben, deren Meister am Kreuze starb. Freilich: hä tte man eben diese Geschichte zur rechten Zeit begriffen, hä tte man die Schriften des Paulus nicht als die Offenbarungen des» heiligen Geistes«, sondern mit einem redlichen und freien eigenen Geiste, und ohne an alle unsere persö nliche Noth dabei zu denken, gelesen, wirklich gelesen – es gab anderthalb Jahrtausend keinen solchen Leser –, so wü rde es auch mit dem Christenthum lä ngst vorbei sein: so sehr legen diese Blä tter des jü dischen Pascal den Ursprung des Christenthums blos, wie die Blä tter des franzö sischen Pascal sein Schicksal und Das, woran es zu Grunde gehen wird, bloslegen. Dass das Schiff des Christenthums einen guten Theil des jü dischen Ballastes ü ber Bord warf, dass es unter die Heiden gieng und gehen konnte, – das hä ngt an der Geschichte dieses Einen Menschen, eines sehr gequä lten, sehr bemitleidenswerthen, sehr unangenehmen und sich selber unangenehmen Menschen. Er litt an einer fixen Idee, oder deutlicher: an einer fixen, stets gegenwä rtigen, nie zur Ruhe kommenden Frage: welche Bewandtniss es mit dem jü dischen Gesetze habe? Und zwar mit der Erfü llung dieses Gesetzes? In seiner Jugend hatte er ihm selber genugthun wollen, heisshungrig nach dieser hö chsten Auszeichnung, welche die Juden zu denken vermochten, – dieses Volk, welches die Phantasie der sittlichen Erhabenheit hö her als irgend ein anderes Volk getrieben hat und welchem allein die Schö pfung eines heiligen Gottes, nebst dem Gedanken der Sü nde als eines Vergehens an dieser Heiligkeit, gelungen ist. Paulus war zugleich der fanatische Vertheidiger und Ehrenwä chter dieses Gottes und seines Gesetzes geworden und fortwä hrend im Kampfe und auf der Lauer gegen die Ü bertreter und Anzweifler desselben, hart und bö se gegen sie und zum Ä ussersten der Strafen geneigt. Und nun erfuhr er an sich, dass er – hitzig, sinnlich, melancholisch, bö sartig im Hass, wie er war – das Gesetz selber nicht erfü llen konnte, ja, was ihm das Seltsamste schien: dass seine ausschweifende Herrschsucht fortwä hrend gereizt wurde, es zu ü bertreten, und dass er diesem Stachel nachgeben musste. Ist es wirklich die» Fleischlichkeit«, welche ihn immer wieder zum Ü bertreter macht? Und nicht vielmehr, wie er spä ter argwö hnte, hinter ihr das Gesetz selber, welches sich fortwä hrend als unerfü llbar beweisen muss und mit unwiderstehlichem Zauber zur Ü bertretung lockt? Aber damals hatte er diesen Ausweg noch nicht. Vielerlei lag ihm auf dem Gewissen – er deutet hin auf Feindschaft, Mord, Zauberei, Bilderdienst, Unzucht, Trunkenheit und Lust an ausschweifenden Gelagen – und wie sehr er auch diesem Gewissen, und noch mehr seiner Herrschsucht, durch den ä ussersten Fanatismus der Gesetzes‑ Verehrung und – Vertheidigung wieder Luft zu machen suchte: es kamen Augenblicke, wo er sich sagte» Es ist Alles umsonst! die Marter des unerfü llten Gesetzes ist nicht zu ü berwinden. «Ä hnlich mag Luther empfunden haben, als er der vollkommene Mensch des geistlichen Ideals in seinem Kloster werden wollte: und ä hnlich wie Luther, der eines Tages das geistliche Ideal und den Papst und die Heiligen und die ganze Clerisei zu hassen begann, mit einem wahren tö dtlichen Hass, je weniger er ihn sich eingestehen durfte, – ä hnlich ergieng es Paulus. Das Gesetz war das Kreuz, an welches er sich geschlagen fü hlte: wie hasste er es! wie trug er es ihm nach! wie suchte er herum, um ein Mittel zu finden, es zu vernichten, – nicht mehr es fü r seine Person zu erfü llen! Und endlich leuchtete ihm der rettende Gedanke auf, zugleich mit einer Vision, wie es bei diesem Epileptiker nicht anders zugehen konnte: ihm, dem wü thenden Eiferer des Gesetzes, der innerlich dessen todtmü de war, erschien auf einsamer Strasse jener Christus, den Lichtglanz Gottes auf seinem Gesichte, und Paulus hö rte die Worte: »warum verfolgst du mich? «Das Wesentliche, was da geschah, ist aber diess: sein Kopf war auf einmal hell geworden; »es ist unvernü nftig, hatte er sich gesagt, gerade diesen Christus zu verfolgen! Hier ist ja der Ausweg, hier ist ja die vollkommene Rache, hier und nirgends sonst habe und halte ich ja den Vernichter des Gesetzes! «Der Kranke des gequä ltesten Hochmuthes fü hlt sich mit Einem Schlage wieder hergestellt, die moralische Verzweiflung ist wie fortgeblasen, denn die Moral ist fortgeblasen, vernichtet, – nä mlich erfü llt, dort am Kreuze! Bisher hatte ihm jener schmä hliche Tod als Hauptargument gegen die» Messianitä t«, von der die Anhä nger der neuen Lehre sprachen, gegolten: wie aber, wenn er nö thig war, um das Gesetz abzuthun! – Die ungeheuren Folgen dieses Einfalls, dieser Rä thsellö sung wirbeln vor seinem Blicke, er wird mit Einem Male der glü cklichste Mensch, – das Schicksal der Juden, nein, aller Menschen scheint ihm an diesen Einfall, an diese Secunde seines plö tzlichen Aufleuchtens gebunden, er hat den Gedanken der Gedanken, den Schlü ssel der Schlü ssel, das Licht der Lichter; um ihn selber dreht sich fü rderhin die Geschichte! Denn er ist von jetzt ab der Lehrer der Vernichtung des Gesetzes! Dem Bö sen absterben – das heisst, auch dem Gesetz absterben; im Fleische sein – das heisst, auch im Gesetze sein! Mit Christus Eins geworden – das heisst, auch mit ihm der Vernichter des Gesetzes geworden; mit ihm gestorben – das heisst, auch dem Gesetze abgestorben! Selbst wenn es noch mö glich wä re, zu sü ndigen, so doch nicht mehr gegen das Gesetz, »ich bin ausserhalb desselben«. »Wenn ich jetzt das Gesetz wieder aufnehmen und mich ihm unterwerfen wollte, so wü rde ich Christus zum Mithelfer der Sü nde machen«; denn das Gesetz war dazu da, dass gesü ndigt werde, es trieb die Sü nde immer hervor, wie ein scharfer Saft die Krankheit; Gott hä tte den Tod Christi nie beschliessen kö nnen, wenn ü berhaupt ohne diesen Tod eine Erfü llung des Gesetzes mö glich gewesen wä re; jetzt ist nicht nur alle Schuld abgetragen, sondern die Schuld an sich vernichtet; jetzt ist das Gesetz todt, jetzt ist die Fleischlichkeit, in der es wohnt, todt – oder wenigstens in fortwä hrendem Absterben, gleichsam verwesend. Noch kurze Zeit inmitten dieser Verwesung! – das ist das Loos des Christen, bevor er, Eins geworden mit Christus, aufersteht mit Christus, an der gö ttlichen Herrlichkeit teilnimmt mit Christus und» Sohn Gottes «wird, gleich Christus. – Damit ist der Rausch des Paulus auf seinem Gipfel, und ebenfalls die Zudringlichkeit seiner Seele, – mit dem Gedanken des Einswerdens ist jede Scham, jede Unterordnung, jede Schranke von ihr genommen, und der unbä ndige Wille der Herrschsucht offenbart sich als ein vorwegnehmendes Schwelgen in gö ttlichen Herrlichkeiten. – Diess ist der erste Christ, der Erfinder der Christlichkeit! Bis dahin gab es nur einige jü dische Sectirer. –



  

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