Хелпикс

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Zweites Buch 4 страница



 

69.

 

Unnachahmlich. – Es giebt eine ungeheure Spannung und Spannweite zwischen Neid und Freundschaft, zwischen Selbstverachtung und Stolz: in der ersten lebte der Grieche, in der zweiten der Christ.

 

70.

 

Wozu ein grober Intellect nü tze ist. – Die christliche Kirche ist eine Encyklopä die von vorzeitlichen Culten und Anschauungen der verschiedensten Abkunft und desshalb so missionsfä hig: sie mochte ehemals, sie mag jetzt kommen, wohin sie will, sie fand und findet etwas Ä hnliches vor, dem sie sich anpassen und dem sie allmä hlich ihren Sinn unterschieben kann. Nicht das Christliche an ihr, sondern das Universal‑ Heidnische ihrer Gebrä uche ist der Grund fü r die Ausbreitung dieser Weltreligion; ihre Gedanken, die zugleich im Jü dischen und im Hellenischen wurzeln, haben von Anbeginn an ü ber die nationalen und rassemä ssigen Absonderungen und Feinheiten, gleich als ü ber Vorurtheile, sich zu erheben gewusst. Mag man diese Kraft, das Verschiedenste in einander wachsen zu lassen, immerhin bewundern: nur vergesse man auch die verä chtliche Eigenschaft dieser Kraft nicht, – die erstaunliche Grobheit und Genü gsamkeit ihres Intellectes in der Zeit der Kirchenbildung, um dergestalt mit jeder Kost fü rlieb zu nehmen und Gegensä tze wie Kieselsteine zu verdauen.

 

71.

 

Die christliche Rache an Rom. – Nichts ermü det vielleicht so sehr als der Anblick eines bestä ndigen Siegers, – man hatte Rom zweihundert Jahre lang ein Volk nach dem andern sich unterwerfen sehen, der Kreis war umspannt, alle Zukunft schien am Ende, alle Dinge wurden auf einen ewigen Zustand eingerichtet, – ja wenn das Reich baute, so baute man mit dem Hintergedanken des» aere perennius«; – wir, die wir nur die» Melancholie der Ruinen «kennen, kö nnen kaum jene ganz andersartige Melancholie der ewigen Bauten verstehen, gegen welche man sich zu retten suchen musste, wie es gehen wollte, – zum Beispiel mit dem Leichtsinne Horazens. Andere suchten andere Trostmittel gegen die an Verzweiflung grä nzende Mü digkeit, gegen das tö dtende Bewusstsein, dass alle Gedanken‑ und Herzensgä nge nunmehr ohne Hoffnung seien, dass ü berall die grosse Spinne sitze, dass sie unerbittlich alles Blut trinken werde, wo es auch noch quelle. – Dieser jahrhundertalte wortlose Hass der ermü deten Zuschauer gegen Rom, so weit nur Rom herrschte, entlud sich endlich im Christenthume, indem es Rom, die» Welt «und die» Sü nde «in Eine Empfindung zusammenfasste: man rä chte sich an ihm, indem man den plö tzlichen Untergang der Welt sich in der Nä he dachte: man rä chte sich an ihm, indem man wieder eine Zukunft vor sich stellte – Rom hatte Alles zu seiner Vorgeschichte und Gegenwart zu machen gewusst – und eine Zukunft, in Vergleich zu welcher Rom nicht mehr als das Wichtigste erschien; man rä chte sich an ihm, indem man vom letzten Gericht trä umte, – und der gekreuzigte Jude als Symbol des Heils war der tiefste Spott auf die prachtvollen rö mischen Prä toren in der Provinz, denn nun erschienen sie als die Symbole des Unheils und der zum Untergange reifen» Welt«. –

 

72.

 

Das» NachdemTode«. – Das Christenthum fand die Vorstellung von Hö llenstrafen im ganzen rö mischen Reiche vor: ü ber ihr haben die zahlreichen geheimen Culte mit besonderem Wohlgefallen gebrü tet, als ü ber dem fruchtbarsten Ei ihrer Macht. Epikur hatte fü r seines Gleichen nichts Grö sseres zu thun geglaubt, als die Wurzeln dieses Glaubens auszureissen: sein Triumph, der am schö nsten im Munde des dü steren und doch hell gewordenen Jü ngers seiner Lehre, des Rö mers Lucretius, ausklingt, kam zu frü h, – das Christenthum nahm den bereits verwelkenden Glauben an die unterirdischen Schrecknisse in seinen besonderen Schutz, und that klug daran! Wie hä tte es ohne diesen kü hnen Griff in's volle Heidenthum den Sieg ü ber die Popularitä t der Mithras‑ und Isisculte davontragen kö nnen! So brachte es die Furchtsamen auf seine Seite, – die stä rksten Anhä nger eines neuen Glaubens! Die Juden, als ein Volk, welches am Leben hieng und hä ngt, gleich den Griechen und mehr als die Griechen, hatten jene Vorstellungen wenig angebaut: der endgü ltige Tod als die Strafe des Sü nders und niemals wieder auferstehen, als ä usserste Drohung, – das wirkte schon stark genug auf diese sonderbaren Menschen, welche ihren Leib nicht loswerden wollten, sondern ihn, mit ihrem verfeinerten Agypticismus, in alle Ewigkeit zu retten hofften. (Ein jü discher Mä rtyrer, von dem im zweiten Buche der Makkabä er zu lesen ist, denkt nicht daran, auf seine herausgerissenen Eingeweide Verzicht zu leisten: bei der Auferstehung will er sie haben, – so ist es jü disch! ) Den ersten Christen lag der Gedanke an ewige Qualen ganz fern, sie dachten» vom Tode «erlö st zu sein und erwarteten von Tag zu Tage eine Verwandlung und nicht mehr ein Sterben. (Wie seltsam muss der erste Todesfall unter diesen Wartenden gewirkt haben! Wie mischten sich da Verwunderung, Frohlocken, Zweifel, Scham, Inbrunst! – wahrlich ein Vorwurf fü r grosse Kü nstler! ) Paulus wusste nichts Besseres seinem Erlö ser nachzusagen, als dass er den Zugang zur Unsterblichkeit fü r Jedermann erö ffnet habe, – er glaubt noch nicht an die Auferstehung der Unerlö sten, ja, in Folge seiner Lehre vom unerfü llbaren Gesetze und vom Tode als Folge der Sü nde argwö hnt er, im Grunde sei bisher Niemand (oder sehr Wenige, und dann aus Gnade und ohne Verdienst) unsterblich geworden; jetzt erst beginne die Unsterblichkeit ihre Thore aufzuthun, – und zuletzt seien auch fü r sie sehr Wenige auserwä hlt: wie der Hochmuth des Auserwä hlten nicht unterlassen kann hinzuzufü gen. – Anderwä rts, wo der Trieb nach Leben nicht gleich gross war, wie unter Juden und Judenchristen, und die Aussicht auf Unsterblichkeit nicht ohne Weiteres werthvoller erschien, als die Aussicht auf einen endgü ltigen Tod, wurde jener heidnische und doch auch nicht ganz unjü dische Zusatz von der Hö lle ein erwü nschtes Werkzeug in der Hand der Missionä re: es erhob sich die neue Lehre, dass auch der Sü nder und Unerlö ste unsterblich sei, die Lehre vom Ewig‑ Verdammten, und sie war mä chtiger, als der nunmehr ganz verbleichende Gedanke vom endgü ltigen Tode. Erst die Wissenschaft hat ihn sich wieder zurü ckerobern mü ssen, und zwar indem sie zugleich jede andere Vorstellung vom Tode und jedes jenseitige Leben ablehnte. Wir sind um Ein Interesse ä rmer geworden: das» Nach‑ dem‑ Tode «geht uns Nichts mehr an! – eine unsä gliche Wohlthat, welche nur noch zu jung ist, um als solche weit‑ und breithin empfunden zu werden. – Und von Neuem triumphirt Epikur!

 

73.

 

Fü r die «Wahrheit«! –»Fü r die Wahrheit des Christenthums sprach der tugendhafte Wandel der Christen, ihre Standhaftigkeit im Leiden, der feste Glaube und vor Allem die Verbreitung und das Wachsthum trotz aller Trü bsal«, – so redet ihr auch heute noch! Es ist zum Erbarmen! So lernt doch, dass diess Alles nicht fü r und nicht gegen die Wahrheit spricht, dass die Wahrheit anders bewiesen wird, als die Wahrhaftigkeit, und dass letztere durchaus kein Argument fü r die erstere ist!

 

74.

 

Christlicher Hintergedanke. – Sollte diess nicht der gewö hnlichste Hintergedanke des Christen des ersten Jahrhunderts gewesen sein: »es ist besser, sich seine Schuld einzureden, als seine Unschuld, denn man weiss nicht genau, wie ein so mä chtiger Richter gesinnt ist, – fü rchten aber muss man, dass er lauter Schuldbewusste zu finden hofft! Bei seiner grossen Macht wird er leichter einen Schuldigen begnadigen, als zugestehen, dass einer vor ihm im Rechte sei. «– So empfanden die armen Leute in der Provinz vor dem rö mischen Prä tor: »er ist zu stolz, als dass wir unschuldig sein dü rften, «– wie sollte sich nicht gerade diese Empfindung bei der christlichen Vergegenwä rtigung des hö chsten Richters wieder eingestellt haben!

 

75.

 

Nicht europä isch und nicht vornehm. – Es ist etwas Orientalisches und etwas Weibliches im Christenthum: das verrä th sich in dem Gedanken» wen Gott lieb hat, den zü chtigt er; «denn die Frauen im Orient betrachten Zü chtigungen und strenge Abschliessung ihrer Person gegen die Welt als ein Zeichen der Liebe ihres Mannes und beschweren sich, wenn diese Zeichen ausbleiben.

 

76.

 

Bö se denken heisst bö se machen. – Die Leidenschaften werden bö se und tü ckisch, wenn sie bö se und tü ckisch betrachtet werden. So ist es dem Christenthum gelungen, aus Eros und Aphrodite – grossen idealfä higen Mä chten – hö llische Kobolde und Truggeister zu schaffen, durch die Martern, welche es in dem Gewissen der Glä ubigen bei allen geschlechtlichen Erregungen entstehen liess. Ist es nicht schrecklich, nothwendige und regelmä ssige Empfindungen zu einer Quelle des inneren Elends zu machen und dergestalt das innere Elend bei jedem Menschen nothwendig und regelmä ssig machen zu wollen! Noch dazu bleibt es ein geheim gehaltenes und dadurch tiefer wurzelndes Elend: denn nicht Alle haben den Muth Shakespeare's, ihre christliche Verdü sterung in diesem Puncte so zu bekennen, wie er es in seinen Sonetten gethan hat. – Muss denn Etwas, gegen das man zu kä mpfen, das man in Schranken zu halten oder sich unter Umstä nden ganz aus dem Sinne zu schlagen hat, immer bö se heissen! Ist es nicht gemeiner Seelen Art, sich einen Feind immer bö se zu denken! Und darf man Eros einen Feind nennen! An sich ist den geschlechtlichen wie den mitleidenden und anbetenden Empfindungen gemeinsam, dass hier der eine Mensch durch sein Vergnü gen einem anderen Menschen wohlthut, – man trifft derartige wohlwollende Veranstaltungen nicht zu hä ufig in der Natur! Und gerade eine solche verlä stern und sie durch das bö se Gewissen verderben! Die Zeugung des Menschen mit dem bö sen Gewissen verschwistern! – Zuletzt hat diese Verteufelung des Eros einen Komö dien‑ Ausgang bekommen: der» Teufel «Eros ist allmä hlich den Menschen interessanter als alle Engel und Heiligen geworden, Dank der Munkelei und Geheimthuerei der Kirche in allen erotischen Dingen: sie hat bewirkt, bis in unsere Zeiten hinein, dass die Liebesgeschichte das einzige wirkliche Interesse wurde, das allen Kreisen gemein ist, – in einer dem Alterthum unbegreiflichen Ü bertreibung, der spä ter einmal auch noch das Gelä chter nachfolgen wird. Unsere ganze Dichterei und Denkerei, vom Grö ssten bis zum Niedrigsten, ist durch die ausschweifende Wichtigkeit, mit der die Liebesgeschichte darin als Hauptgeschichte auftritt, gezeichnet und mehr als gezeichnet: vielleicht dass ihrethalben die Nachwelt urtheilt, auf der ganzen Hinterlassenschaft der christlichen Cultur liege etwas Kleinliches und Verrü cktes.

 

77.

 

Von den SeelenMartern. – Bei irgend welchen Martern, die Einer einem fremden Leibe zufü gt, schreit jetzt Jedermann laut auf; die Ernpö rung gegen einen Menschen, der dessen fä hig ist, bricht sofort los; ja, wir zittern schon bei der Vorstellung einer Marter, welche einem Menschen oder Thiere zugefü gt werden kö nnte, und leiden ganz unerträ glich, von einer fest bewiesenen Thatsache dieser Art zu vernehmen. Aber man ist noch weit entfernt, in Betreff der Seelen‑ Martern und der Entsetzlichkeit ihrer Zufü gung ebenso allgemein und bestimmt zu empfinden. Das Christenthum hat sie in einem unerhö rten Maasse zur Anwendung gebracht und predigt diese Art Folter noch fortwä hrend, ja, es klagt ganz unschuldig ü ber Abfall und Lauwerden, wenn es einen Zustand ohne solche Martern antrifft, – Alles mit dem Ergebniss, dass die Menschheit sich gegen den geistigen Feuertod, die geistigen Foltern und Folterwerkzeuge heute noch mit der gleichen ä ngstlichen Geduld und Unentschlossenheit benimmt, wie ehemals gegen die Grausamkeit am Leibe von Mensch und Thier. Die Hö lle ist wahrlich kein bloses Wort geblieben: und den neu geschaffenen wirklichen Hö llenä ngsten hat auch eine neue Gattung des Mitleidens entsprochen, ein grä ssliches centnerschweres, frü heren Zeiten unbekanntes Erbarmen mit solchen» unwiderruflich zur Hö lle Verdammten«, wie es zum Beispiel der steinerne Gast gegen Don Juan zu erkennen giebt und welches in den christlichen Jahrhunderten wohl zum Ö fteren schon Steine zum Wehklagen gebracht hat. Plutarch giebt ein dü steres Bild vom Zustand eines Aberglä ubischen innerhalb des Heidenthums: diess Bild wird harmlos, wenn man den Christen des Mittelalters dagegen hä lt, welcher muthmaasst, er mö chte der» ewigen Qual «nicht mehr entrinnen kö nnen. Ihm zeigen sich entsetzliche Ankü ndiger: vielleicht ein Storch, der eine Schlange im Schnabel hä lt und noch zö gert, sie zu verschlucken. Oder die Natur wird plö tzlich bleich, oder es fliegen glü hende Farben ü ber den Boden hin. Oder die Gestalten von verstorbenen Anverwandten nahen, mit Gesichtern, welche Spuren furchtbarer Leiden tragen. Oder die dunklen Wä nde im Zimmer des Schlafenden erhellen sich und auf ihnen zeigen sich in gelbem Qualme Marterwerkzeuge und ein Gewirr von Schlangen und Teufeln. Ja, welche entsetzliche Stä tte hat das Christenthum schon dadurch aus der Erde zu machen gewusst, dass es ü berall das Crucifix aufrichtete und dergestalt die Erde als den Ort bezeichnete, »wo der Gerechte zu Tode gemartert wird«! Und wenn die Gewalt grosser Bussprediger einmal all das heimliche Leiden der Einzelnen, die Marter des Kä mmerleins «in die Ö ffentlichkeit trieb, wenn zum Beispiel ein Whitefield predigte» wie ein Sterbender zu Sterbenden«, bald heftig weinend, bald laut stampfend und leidenschaftlich, mit den einschneidendsten und plö tzlichsten Tö nen, und ohne Scheu davor, die ganze Wucht eines Angriffs auf eine einzelne anwesende Person zu richten und sie auf eine furchtbare Weise aus der Gemeinde auszusondern, – wie schien sich da jedesmal die Erde wirklich in die» Wiese des Unheils «umwandeln zu wollen! Man sah dann ganze zusammengeströ mte Massen wie unter dem Anfall Eines Wahnsinns; Viele in Krä mpfen der Angst; Andre lagen da, ohne Bewusstsein, bewegungslos: Einige zitterten heftig oder durchschnitten die Luft mit durchdringendem, stundenlang anhaltendem Geschrei. ü berall ein lautes Athmen, wie von Leuten, die halberwü rgt nach Lebensluft schnappten. »Und wirklich, sagt ein Augenzeuge einer solchen Predigt, waren fast alle zu Gehö r kommenden Laute diejenigen von Menschen, die in bitterer Qual sterben. «– Vergessen wir nie, wie erst das Christenthum es war, das aus dem Sterbebett ein Marterbett gemacht hat, und dass mit den Scenen, welche auf ihm zeither gesehen wurden, mit den entsetzlichen Tö nen, welche hier zum ersten Male mö glich erschienen, die Sinne und das Blut zahlloser Zeugen fü r ihr Leben und das ihrer Nachkommen vergiftet worden sind! Man denke sich einen harmlosen Menschen, der es nicht verwinden kann, einmal solche Worte gehö rt zu haben: »Oh Ewigkeit! Oh dass ich keine Seele hä tte! Oh dass ich nie geboren wä re! Ich bin verdammt, verdammt, auf immer verloren. Vor sechs Tagen hä ttet ihr mir helfen kö nnen. Aber es ist vorbei. Ich gehö re jetzt dem Teufel, ich will mit ihm zur Hö lle gehen. Brechet, brechet, arme steinerne Herzen! Wollt ihr nicht brechen? Was kann noch mehr geschehen fü r steinerne Herzen? Ich bin verdammt, damit ihr gerettet werdet! Da ist er! Ja, da ist er! Komm, guter Teufel! Komm! «–

 

78.

 

Die strafende Gerechtigkeit. – Unglü ck und Schuld, – diese beiden Dinge sind durch das Christenthum auf Eine Wage gesetzt worden: sodass, wenn das Unglü ck gross ist, das auf eine Schuld folgt, jetzt immer noch unwillkü rlich die Grö sse der Schuld selber darnach zurü ckbemessen wird. Diess aber ist nicht antik, und desshalb gehö rt die griechische Tragö die, in der so reichlich und doch in so anderem Sinne von Unglü ck und Schuld die Rede ist, zu den grossen Befreierinnen des Gemü ths, in einem Maasse, wie es die Alten selber nicht empfinden konnten. Sie waren so harmlos geblieben, zwischen Schuld und Unglü ck keine» adä quate Relation «anzusetzen. Die Schuld ihrer tragischen Heroen ist wohl der kleine Stein, ü ber welchen diese stolpern und desswegen sie wohl den Arm brechen oder sich ein Auge ausschlagen: die antike Empfindung sagte dazu: »Ja, er hä tte etwas bedachtsamer und weniger ü bermü thig seinen Weg machen sollen! «Aber erst dem Christenthum war es vorbehalten, zu sagen: »Hier ist ein schweres Unglü ck, und hinter ihm muss eine schwere, gleichschwere Schuld verborgen liegen, ob wir sie schon nicht deutlich sehen! Empfindest du Unglü cklicher nicht so, so bist du verstockt, – du wirst noch Schlimmeres zu erleben haben! «– Sodann gab es im Alterthum wirklich noch Unglü ck, reines, unschuldiges Unglü ck; erst im Christenthum wird alles Strafe, wohlverdiente Strafe: es macht die Phantasie des Leidenden auch noch leidend, sodass er bei allem Ü bel‑ ergehen sich moralisch verwerflich und verworfen fü hlt. Arme Menschheit! – Die Griechen haben ein eigenes Wort fü r die Empö rung ü ber das Unglü ck des Andern: dieser Affect war unter christlichen Vö lkern unstatthaft und hat sich wenig entwickelt, und so fehlt ihnen auch der Name fü r diesen mä nnlicheren Bruder des Mitleidens.

 

79.

 

Ein Vorschlag. – Wenn unser Ich, nach Pascal und dem Christenthume, immer hassenswerth ist, wie dü rften wir es auch nur gestatten und annehmen, dass Andre es liebten – sei es Gott oder Mensch! Es wä re wider allen guten Anstand, sich lieben zu lassen und dabei recht wohl zu wissen, dass man nur Hass verdiene, – um von anderen, abwehrenden Empfindungen zu schweigen. – »Aber diess ist eben das Reich der Gnade. «– So ist euch eure Nä chstenliebe eine Gnade? Euer Mitleid eine Gnade? Nun, wenn euch diess mö glich ist, so thut noch einen Schritt weiter: liebt euch selber aus Gnade, – dann habt ihr euren Gott gar nicht mehr nö thig, und das ganze Drama von Sü ndenfall und Erlö sung spielt sich in euch selber zu Ende!

 

80.

 

Der mitleidige Christ. – Die Kehrseite des christlichen Mitleidens am Leiden des Nä chsten ist die tiefe Beargwö hnung aller Freude des Nä chsten, seiner Freude an Allem, was er will und kann.

 

81.

 

Humanitä t des Heiligen. – Ein Heiliger war unter die Glä ubigen gerathen und konnte ihren bestä ndigen Hass auf die Sü nde nicht mehr aushalten. Zuletzt sagte er: »Gott hat alle Dinge geschaffen, nur die Sü nde nicht: was Wunder, dass er ihr nicht gewogen ist? – Aber der Mensch hat die Sü nde geschaffen – und er sollte diess sein einziges Kind verstossen, blos weil es Gott, dem Grossvater der Sü nde, missfä llt! Ist das human? Alle Ehre Dem, dem Ehre gebü hrt! – aber Herz und Pflicht sollten doch zuerst fü r das Kind sprechen – und zuzweit erst fü r die Ehre des Grossvaters! »

 

82.

 

Der geistliche Ü berfall. – »Das musst du mit dir selber ausmachen, denn es gilt dein Leben, «mit diesem Zurufe springt Luther heran und meint, wir fü hlten uns das Messer an den Hals gelegt. Wir aber wehren ihn mit den Worten eines Hö heren und Bedachtsameren von uns ab: »Es steht bei uns, ü ber Diess und Das keine Meinung zu bilden und so unsrer Seele die Unruhe zu ersparen. Denn die Dinge selbst kö nnen ihrer Natur nach uns keine Urtheile abnö thigen. »

 

83.

 

Arme Menschheit! – Ein Tropfen Blut zu viel oder zu wenig im Gehirn kann unser Leben unsä glich elend und hart machen, dass wir mehr an diesem Tropfen zu leiden haben, als Prometheus an seinem Geier. Aber zum Schrecklichsten kommt es erst, wenn man nicht einmal weiss, dass jener Tropfen die Ursache ist. Sondern» der Teufel«! Oder» die Sü nde«! –

 

84.

 

Die Philologie des Christenthums. – Wie wenig das Christenthum den Sinn fü r Redlichkeit und Gerechtigkeit erzieht, kann man ziemlich gut nach dem Charakter der Schriften seiner Gelehrten abschä tzen: sie bringen ihre Muthmaassungen so dreist vor wie Dogmen und sind ü ber der Auslegung einer Bibelstelle selten in einer redlichen Verlegenheit. Immer wieder heisst es» ich habe Recht, denn es steht geschrieben – «und nun folgt eine unverschä mte Willkü rlichkeit der Auslegung, dass ein Philologe, der es hö rt, mitten zwischen Ingrimm und Lachen stehen bleibt und sich immer wieder fragt: ist es mö glich! ist diess ehrlich? Ist es auch nur anstä ndig? – Was in dieser Hinsicht immer noch auf protestantischen Kanzeln an Unredlichkeit verü bt wird, wie plump der Prediger den Vortheil ausbeutet, dass ihm hier Niemand in's Wort fä llt, wie hier die Bibel gezwickt und gezwackt und die Kunst des Schlecht‑ Lesens dem Volke in aller Form beigebracht wird: das unterschä tzt nur Der, welcher nie oder immer in die Kirche geht. Zuletzt aber: was soll man von den Nachwirkungen einer Religion erwarten, welche in den Jahrhunderten ihrer Begrü ndung jenes unerhö rte philologische Possenspiel um das alte Testament aufgefü hrt hat: ich meine den Versuch, das alte Testament den Juden unter dem Leibe wegzuziehen, mit der Behauptung, es enthalte Nichts als christliche Lehren und gehö re den Christen als dem wahren Volke Israel: wä hrend die Juden es sich nur angemaasst hä tten. Und nun ergab man sich einer Wuth der Ausdeutung und Unterschiebung, welche unmö glich mit dem guten Gewissen verbunden gewesen sein kann: wie sehr auch die jü dischen Gelehrten protestirten; ü berall sollte im alten Testament von Christus und nur von Christus die Rede sein, ü berall namentlich von seinem Kreuze, und wo nur ein Holz, eine Ruthe, eine Leiter, ein Zweig, ein Baum, eine Weide, ein Stab genannt wird, da bedeute diess eine Prophezeiung auf das Kreuzesholz: selbst die Aufrichtung des Einhorns und der ehernen Schlange, selbst Moses, wenn er die Arme zum Gebet ausbreitet, ja selbst die Spiesse, an denen das Passahlamm gebraten wird, – alles Anspielungen und gleichsam Vorspiele des Kreuzes! Hat diess jemals Jemand geglaubt, der es behauptete? Man erwä ge, dass die Kirche nicht davor erschrak, den Text der Septuaginta zu bereichern (z. B. bei Psalm 961 V. 10), um die eingeschmuggelte Stelle nachher im Sinne der christlichen Prophezeiung auszunü tzen. Man war eben im Kampfe und dachte an die Gegner, und nicht an die Redlichkeit.

 

85.

 

Feinheit im Mangel. – Spottet nur nicht ü ber die Mythologie der Griechen, weil sie so wenig eurer tiefsinnigen Metaphysik gleicht! Ihr solltet ein Volk bewundern, das seinem scharfen Verstande hier gerade Halt gebot und lange Zeit Tact genug hatte, der Gefahr der Scholastik und des spitzfindigen Aberglaubens auszuweichen!

 

86.

 

Die christlichen Interpreten des Leibes. – Was nur immer von dem Magen, den Eingeweiden, dem Herzschlage, den Nerven, der Galle, dem Samen herkomme – alle jene Verstimmungen, Entkrä ftungen, Ü berreizungen, die ganze Zufä lligkeit der uns so unbekannten Maschine! – Alles das muss so ein Christ wie Pascal als ein moralisches und religiö ses Phä nomen nehmen, mit der Frage, ob Gott oder Teufel, ob gut oder bö se, ob Heil oder Verdammniss darin ruhen! Oh ü ber den unglü cklichen Interpreten! Wie er sein System winden und quä len muss! Wie er sich selber winden und quä len muss, um Recht zu behalten!

 

87.

 

Das sittliche Wunder. – Das Christenthum kennt im Sittlichen nur das Wunder: die plö tzliche Verä nderung aller Werthurtheile, das plö tzliche Aufgeben aller Gewohnheiten, die plö tzliche unwiderstehliche Neigung zu neuen Gegenstä nden und Personen. Es fasst dieses Phä nomen als die Wirkung Gottes und nennt es den Act der Wiedergeburt, es giebt ihm einen einzigen unvergleichlichen Werth, – Alles, was sonst Sittlichkeit heisst und ohne Bezug zu jenem Wunder ist, wird dem Christen damit gleichgü ltig, ja vielleicht sogar, als Wohlgefü hl, Stolzgefü hl, ein Gegenstand der Furcht. Im neuen Testament ist der Kanon der Tugend, des erfü llten Gesetzes aufgestellt: aber so, dass es der Kanon der unmö glichen Tugend ist: die sittlich noch strebenden Menschen sollen sich im Angesichte eines solchen Kanons ihrem Ziele immer ferner fü hlen lernen, sie sollen an der Tugend verzweifeln und sich endlich dem Erbarmenden an's Herz werfen, – nur mit diesem Abschlusse konnte das sittliche Bemü hen bei einem Christen noch als werthvoll gelten, vorausgesetzt also, dass es immer ein erfolgloses, unlustiges, melancholisches Bemü hen bleibe; so konnte es noch dazu dienen, jene ekstatische Minute herbeizufü hren, wo der Mensch den Durchbruch der Gnade «und das sittliche Wunder erlebt: – aber nothwendig ist dieses Ringen nach Sittlichkeit nicht, denn jenes Wunder ü berfä llt nicht selten gerade den Sü nder, wenn er gleichsam vom Aussatze der Sü nde blü ht; ja, es scheint selber der Sprung aus der tiefsten und grü ndlichsten Sü ndhaftigkeit in ihr Gegentheil etwas Leichteres und, als sinnfä lliger Beweis des Wunders, auch etwas Wü nschbareres zu sein. – Was ü brigens ein solcher plö tzlicher vernunftloser und unwiderstehlicher Umschlag, ein solcher Wechsel von tiefstem Elend und tiefstem Wohlgefü hl physiologisch zu bedeuten habe (ob vielleicht eine maskirte Epilepsie? ), – das mö gen die Irrenä rzte erwä gen, welche ja dergleichen» Wunder«(zum Beispiel als Mordmanie, Manie des Selbstmordes) reichlich zu beobachten haben. Der verhä ltnissmä ssig» angenehmere Erfolg «im Falle des Christen macht keinen wesentlichen Unterschied. –

 

88.

 

Luther der grosse Wohlthä ter. – Das Bedeutendste, was Luther gewirkt hat, liegt in dem Misstrauen, welches er gegen die Heiligen und die ganze christliche vita contemplativa geweckt hat: seitdem erst ist der Weg zu einer unchristlichen vita contemplativa in Europa wieder zugä nglich geworden und der Verachtung der weltlichen Thä tigkeit und der Laien ein Ziel gesetzt. Luther, der ein wackerer Bergmannssohn blieb, als man ihn in's Kloster gesperrt hatte und hier, in Ermangelung anderer Tiefen und» Teufen«, in sich einstieg und schreckliche dunkle Gä nge bohrte, – er merkte endlich, dass ein beschauliches heiliges Leben ihm unmö glich sei und dass seine angeborene» Activitä t «in Seele und Leib ihn zu Grunde richten werde. Allzulange versuchte er mit Kasteiungen den Weg zum Heiligen zu finden, – endlich fasste er seinen Entschluss und sagte bei sich: »es giebt gar keine wirkliche vita contemplativa! Wir haben uns betrü gen lassen! Die Heiligen sind nicht mehr werth gewesen, als wir Alle. «– Das war freilich eine bä uerische Art, Recht zu behalten, – aber fü r Deutsche jener Zeit die rechte und einzige: wie erbaute es sie, nun in ihrem Lutherischen Katechismus zu lesen: »ausser den zehn Geboten giebt es kein Werk, das Gott gefallen kö nnte, – die gerü hmten geistlichen Werke der Heiligen sind selbsterdachte. »

 

89.

 

Zweifel als Sü nde. – Das Christenthum hat das Ä usserste gethan, um den Cirkel zu schliessen und schon den Zweifel fü r Sü nde erklä rt. Man soll ohne Vernunft, durch ein Wunder, in den Glauben hineingeworfen werden und nun in ihm wie im hellsten und unzweideutigsten Elemente schwimmen: schon der Blick nach einem Festlande, Schon der Gedanke, man sei vielleicht nicht zum Schwimmen allein da, schon die leise Regung unserer amphibischen Natur – ist Sü nde! Man merke doch, dass damit die Begrü ndung des Glaubens und alles Nachdenken ü ber seine Herkunft ebenfalls schon als sü ndhaft ausgeschlossen sind. Man will Blindheit und Taumel und einen ewigen Gesang ü ber den Wellen, in denen die Vernunft ertrunken ist!

 

90.

 



  

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