Хелпикс

Главная

Контакты

Случайная статья





Erstes Buch



3.

 

Es ist bisher am schlechtesten ü ber Gut und Bö se nachgedacht worden: es war dies immer eine zu gefä hrliche Sache. Das Gewissen, der gute Ruf, die Hö lle, unter Umstä nden selbst die Polizei erlaubten und erlauben keine Unbefangenheit; in Gegenwart der Moral soll eben, wie Angesichts jeder Autoritä t, nicht gedacht, noch weniger geredet werden: hier wird – gehorcht! So lang die Welt steht, war noch keine Autoritä t Willens, sich zum Gegenstand der Kritik nehmen zu lassen; und gar die Moral kritisiren, die Moral als Problem, als problematisch nehmen: wie? war das nicht – ist das nicht – unmoralisch? – Aber die Moral gebietet nicht nur ü ber jede Art von Schreckmitteln, um sich kritische Hä nde und Folterwerkzeuge vom Leibe zu halten: ihre Sicherheit liegt noch mehr in einer gewissen Kunst der Bezauberung, auf die sie sich versteht, – sie weiss zu» begeistern«. Es gelingt ihr, oft mit einem einzigen Blicke, den kritischen Willen zu lä hmen, sogar zu sich hinü berzulocken, ja es giebt Fä lle, wo sie ihn gegen sich selbst zu kehren weiss: so dass er sich dann, gleich dem Skorpione, den Stachel in den eignen Leib sticht. Die Moral versteht sich eben von Alters her auf jede Teufelei von Ueberredungskunst: es giebt keinen Redner, auch heute noch, der sie nicht um ihre Hü lfe angienge (man hö re zum Beispiel selbst unsere Anarchisten reden: wie moralisch reden sie, um zu ü berreden! Zuletzt heissen sie sich selbst noch gar» die Guten und Gerechten«. ) Die Moral hat sich eben von jeher, so lange auf Erden geredet und ü berredet worden ist, als die grö sste Meisterin der Verfü hrung bewiesen – und, was uns Philosophen angeht, als die eigentliche Circe der Philosophen. Woran liegt es doch, dass von Plato ab alle philosophischen Baumeister in Europa umsonst gebaut haben? Dass Alles einzufallen droht oder schon in Schutt liegt, was sie selber ehrlich und ernsthaft fü r aere perennius hielten? Oh wie falsch ist die Antwort, welche man jetzt noch auf diese Frage bereit hä lt, »weil von ihnen Allen die Voraussetzung versä umt war, die Prü fung des Fundamentes, eine Kritik der gesammten Vernunft«– jene verhä ngnissvolle Antwort Kant's, der damit uns moderne Philosophen wahrhaftig nicht auf einen festeren und weniger trü glichen Boden gelockt hat! (‑ und nachträ glich gefragt, war es nicht etwas sonderbar, zu verlangen, dass ein Werkzeug seine eigne Trefflichkeit und Tauglichkeit kritisiren solle? dass der Intellekt selbst seinen Werth, seine Kraft, seine Grenzen» erkennen «solle? war es nicht sogar ein wenig widersinnig? – ) Die richtige Antwort wä re vielmehr gewesen, dass alle Philosophen unter der Verfü hrung der Moral gebaut haben, auch Kant –, dass ihre Absicht scheinbar auf Gewissheit, auf» Wahrheit«, eigentlich aber auf «majestä tische sittliche Gebä ude «ausgieng: um uns noch einmal der unschuldigen Sprache Kant's zu bedienen, der es als seine eigne» nicht so glä nzende, aber doch auch nicht verdienstlose «Aufgabe und Arbeit bezeichnet, »den Boden zu jenen majestä tischen sittlichen Gebä uden eben und baufest zu machen«(Kritik der reinen Vernunft II, S. 257). Ach, es ist ihm damit nicht gelungen, im Gegentheil! – wie man heute sagen muss. Kant war mit einer solchen schwä rmerischen Absicht eben der rechte Sohn seines Jahrhunderts, das mehr als jedes andere das Jahrhundert der Schwä rmerei genannt werden darf: wie er es, glü cklicher Weise, auch in Bezug auf dessen werthvollere Seiten geblieben ist (zum Beispiel mit jenem guten Stü ck Sensualismus, den er in seine Erkenntnisstheorie hinü bernahm). Auch ihn hatte die Moral‑ Tarantel Rousseau gebissen, auch ihm lag der Gedanke des moralischen Fanatismus auf dem Grunde der Seele, als dessen Vollstrecker sich ein andrer Jü nger Rousseau's fü hlte und bekannte, nä mlich Robespierre, »de fonder sur la terre l'empire de la sagesse, de la justice et de la vertu«(Rede vom 7. Juni 1794). Andererseits konnte man es, mit einem solchen Franzosen‑ Fanatismus im Herzen, nicht unfranzö sischer, nicht tiefer, grü ndlicher, deutscher treiben – wenn das Wort» deutsch «in diesem Sinne heute noch erlaubt ist – als es Kant getrieben hat: um Raum fü r sein» moralisches Reich «zu schaffen, sah er sich genö thigt, eine unbeweisbare Welt anzusetzen, ein logisches» Jenseits«, – dazu eben hatte er seine Kritik der reinen Vernunft nö thig! Anders ausgedrü ckt: er hä tte sie nicht nö thig gehabt, wenn ihm nicht Eins wichtiger als Alles gewesen wä re, das» moralische Reich «unangreifbar, lieber noch ungreifbar fü r die Vernunft zu machen, – er empfand eben die Angreifbarkeit einer moralischen Ordnung der Dinge von Seiten der Vernunft zu stark! Denn Angesichts von Natur und Geschichte, Angesichts der grü ndlichen Unmoralitä t von Natur und Geschichte war Kant, wie jeder gute Deutsche von Alters her, Pessimist; er glaubte an die Moral, nicht weil sie durch Natur und Geschichte bewiesen wird, sondern trotzdem dass ihr durch Natur und Geschichte bestä ndig widersprochen wird. Man darf sich vielleicht, um dies» trotzdem dass «zu verstehen, an etwas Verwandtes bei Luther erinnern, bei jenem andern grossen Pessimisten, der es einmal mit der ganzen Lutherischen Verwegenheit seinen Freunden zu Gemü the fü hrte: »wenn man durch Vernunft es fassen kö nnte, wie der Gott gnä dig und gerecht sein kö nne, der so viel Zorn und Bosheit zeigt, wozu brauchte man dann den Glauben? «Nichts nä mlich hat von jeher einen tieferen Eindruck auf die deutsche Seele gemacht, Nichts hat sie mehr» versucht«, als diese gefä hrlichste aller Schlussfolgerungen, welche jedem rechten Romanen eine Sü nde wider den Geist ist: credo quia absurdum est: – mit ihr tritt die deutsche Logik zuerst in der Geschichte des christlichen Dogma's auf; aber auch heute noch, ein Jahrtausend spä ter, wittern wir Deutschen von heute, spä te Deutsche in jedem Betrachte – Etwas von Wahrheit, von Mö glichkeit der Wahrheit hinter dem berü hmten realdialektischen Grund‑ Satze, mit welchem Hegel seiner Zeit dem deutschen Geiste zum Sieg ü ber Europa verhalf – »der Widerspruch bewegt die Welt, alle Dinge sind sich selbst widersprechend«–: wir sind eben, sogar bis in die Logik hinein, Pessimisten.

 

4.

 

Aber nicht die logischen Werthurtheile sind die untersten und grü ndlichsten, zu denen die Tapferkeit unsers Argwohns hinunterkann: das Vertrauen auf die Vernunft, mit dem die Gü ltigkeit dieser Urtheile steht und fä llt, ist, als Vertrauen, ein moralisches Phä nomen… Vielleicht hat der deutsche Pessimismus seinen letzten Schritt noch zu thun? Vielleicht muss er noch Ein Mal auf eine furchtbare Weise sein Credo und sein Absurdum neben einander stellen? Und wenn dies Buch bis in die Moral hinein, bis ü ber das Vertrauen zur Moral hinweg pessimistisch ist, – sollte es nicht gerade damit ein deutsches Buch sein? Denn es stellt in der That einen Widerspruch dar und fü rchtet sich nicht davor: in ihm wird der Moral das Vertrauen gekü ndigt – warum doch? Aus Moralitä t! Oder wie sollen wir's heissen, was sich in ihm – in uns – begiebt? denn wir wü rden unsrem Geschmacke nach bescheidenere Worte vorziehn. Aber es ist kein Zweifel, auch zu uns noch redet ein» du sollst«, auch wir noch gehorchen einem strengen Gesetze ü ber uns, – und dies ist die letzte Moral, die sich auch uns noch hö rbar macht, die auch wir noch zu leben wissen, hier, wenn irgend worin, sind auch wir noch Menschen des Gewissens: dass wir nä mlich nicht wieder zurü ckwollen in Das, was uns als ü berlebt und morsch gilt, in irgend etwas» Unglaubwü rdiges«, heisse es nun Gott, Tugend, Wahrheit, Gerechtigkeit, Nä chstenliebe; dass wir uns keine Lü genbrü cken zu alten Idealen gestatten; dass wir von Grund aus Allem feind sind, was in uns vermitteln und mischen mö chte; feind jeder jetzigen Art Glauben und Christlichkeit; feind dem Halb‑ und Halben aller Romantik und Vaterlä nderei; feind auch der Artisten‑ Genü sslichkeit, Artisten‑ Gewissenlosigkeit, welche uns ü berreden mö chte, da anzubeten, wo wir nicht mehr glauben – denn wir sind Artisten –; feind, kurzum, dem ganzen europä ischen Femininismus (oder Idealismus, wenn man's lieber hö rt), der ewig» hinan zieht «und ewig gerade damit» herunter bringt«: – allein als Menschen dieses Gewissens fü hlen wir uns noch verwandt mit der deutschen Rechtschaffenheit und Frö mmigkeit von Jahrtausenden, wenn auch als deren fragwü rdigste und letzte Abkö mmlinge, wir Immoralisten, wir Gottlosen von heute, ja sogar, in gewissem Verstande, als deren Erben, als Vollstrecker ihres innersten Willens, eines pessimistischen Willens, wie gesagt, der sich davor nicht fü rchtet, sich selbst zu verneinen, weil er mit Lust verneint! In uns vollzieht sich, gesetzt, dass ihr eine Formel wollt, – die Selbstaufhebung der Moral. ‑

 

5.

 

– Zuletzt aber: wozu mü ssten wir Das, was wir sind, was wir wollen und nicht wollen, so laut und mit solchem Eifer sagen? Sehen wir es kä lter, ferner, klü ger, hö her an, sagen wir es, wie es unter uns gesagt werden darf, so heimlich, dass alle Welt es ü berhö rt, dass alle Welt uns ü berhö rt! Vor Allem sagen wir es langsam… Diese Vorrede kommt spä t, aber nicht zu spä t, was liegt im Grunde an fü nf, sechs Jahren? Ein solches Buch, ein solches Problem hat keine Eile; ü berdies sind wir Beide Freunde des lento, ich ebensowohl als mein Buch. Man ist nicht umsonst Philologe gewesen, man ist es vielleicht noch das will sagen, ein Lehrer des langsamen Lesens: – endlich schreibt man auch langsam. Jetzt gehö rt es nicht nur zu meinen Gewohnheiten, sondern auch zu meinem Geschmacke – einem boshaften Geschmacke vielleicht? – Nichts mehr zu schreiben, womit nicht jede Art Mensch, die» Eile hat«, zur Verzweiflung gebracht wird. Philologie nä mlich ist jene ehrwü rdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor Allem Eins heischt, bei Seite gehn, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden –, als eine Goldschmiedekunst und – kennerschaft des Wortes, die lauter feine vorsichtige Arbeit abzuthun hat und Nichts erreicht, wenn sie es nicht lento erreicht. Gerade damit aber ist sie heute nö thiger als je, gerade dadurch zieht sie und bezaubert sie uns am stä rksten, mitten in einem Zeitalter der» Arbeit«, will sagen: der Hast, der unanstä ndigen und schwitzenden Eilfertigkeit, das mit Allem gleich» fertig werden «will, auch mit jedem alten und neuen Buche: – sie selbst wird nicht so leicht irgend womit fertig, sie lehrt gut lesen, das heisst langsam, tief, rü ck‑ und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Thü ren, mit zarten Fingern und Augen lesen… Meine geduldigen Freunde, dies Buch wü nscht sich nur vollkommene Leser und Philologen: lernt mich gut lesen! –

Ruta bei Genua, im Herbst des Jahres 1886.

 

Erstes Buch

 

1.

Nachträ gliche Vernü nftigkeit. – Alle Dinge, die lange leben, werden allmä hlich so mit Vernunft durchträ nkt, dass ihre Abkunft aus der Unvernunft dadurch unwahrscheinlich wird. Klingt nicht fast jede genaue Geschichte einer Entstehung fü r das Gefü hl paradox und frevelhaft? Widerspricht der gute Historiker im Grunde nicht fortwä hrend?

 



  

© helpiks.su При использовании или копировании материалов прямая ссылка на сайт обязательна.