Хелпикс

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Zweites Buch 2 страница



 

24.

 

Der Beweis einer Vorschrift. – Im Allgemeinen wird die Gü te oder Schlechtigkeit einer Vorschrift, zum Beispiel der, Brod zu backen, so bewiesen, dass das in ihr versprochene Resultat sich ergiebt oder nicht ergiebt, vorausgesetzt, dass sie genau ausgefü hrt wird. Anders steht es jetzt mit den moralischen Vorschriften: denn hier sind gerade die Resultate nicht zu ü bersehen, oder deutbar und unbestimmt. Diese Vorschriften ruhen auf Hypothesen von dem allergeringsten wissenschaftlichen Werthe, deren Beweis und deren Widerlegung aus den Resultaten im Grunde gleich unmö glich ist: – aber einstmals, bei der ursprü nglichen Rohheit aller Wissenschaft und den geringen Ansprü chen, die man machte, um ein Ding fü r erwies en zu nehmen, – einstmals wurde die Gü te oder Schlechtigkeit einer Vorschrift der Sitte ebenso festgestellt wie jetzt die jeder anderen Vorschrift: durch Hinweisung auf den Erfolg. Wenn bei den Eingeborenen in Russisch‑ Amerika die Vorschrift gilt: du sollst keinen Thierknochen in's Feuer werfen oder den Hunden geben, – so wird sie so bewiesen: »thue es und du wirst kein Glü ck auf der Jagd haben. «Nun aber hat man in irgend einem Sinne fast immer» kein Glü ck auf der Jagd«; es ist nicht leicht mö glich, die Gü te der Vorschrift auf diesem Wege zu widerlegen, namentlich wenn eine Gemeinde und nicht ein Einzelner als Trä ger der Strafe gilt; vielmehr wird immer ein Umstand eintreten, welcher die Vorschrift zu beweisen scheint.

 

25.

 

Sitte und Schö nheit. – Zu Gunsten der Sitte sei nicht verschwiegen, dass bei Jedem, der sich ihr vö llig und von ganzem Herzen und von Anbeginn an unterwirft, die Angriffs‑ und Vertheidigungsorgane – die kö rperlichen und geistigen – verkü mmern: das heisst, er wird zunehmend schö ner! Denn die Ü bung jener Organe und der ihnen entsprechenden Gesinnung ist es, welche hä sslich erhä lt und hä sslicher macht. Der alte Pavian ist darum hä sslicher, als der junge, und der weibliche junge Pavian ist dem Menschen am ä hnlichsten: also am schö nsten. – Hiernach mache man einen Schluss auf den Ursprung der Schö nheit der Weiber!

 

26.

 

Die Thiere und die Moral. – Die Praktiken, welche in der verfeinerten Gesellschaft gefordert werden: das sorgfä ltige Vermeiden des Lä cherlichen, des Auffä lligen, des Anmaassenden, das Zurü ckstellen seiner Tugenden sowohl, wie seiner heftigeren Begehrungen, das Sich‑ gleich‑ geben, Sich‑ einordnen, Sich‑ verringern, – diess Alles als die gesellschaftliche Moral ist im Groben ü berall bis in die tiefste Thierwelt hinab zu finden, – und erst in dieser Tiefe sehen wir die Hinterabsicht aller dieser liebenswü rdigen Vorkehrungen: man will seinen Verfolgern entgehen und im Aufsuchen seiner Beute begü nstigt sein. Desshalb lernen die Thiere sich beherrschen und sich in der Weise verstellen, dass manche zum Beispiel ihre Farben der Farbe der Umgebung anpassen (vermö ge der sogenannten» chromatischen Function«), dass sie sich todt stellen oder die Formen und Farben eines anderen Thieres oder von Sand, Blä ttern, Flechten, Schwä mmen annehmen (Das, was die englischen Forscher mit mimicry bezeichnen). So verbirgt sich der Einzelne unter der Allgemeinschaft des Begriffes» Mensch «oder unter der Gesellschaft, oder passt sich an Fü rsten, Stä nde, Parteien, Meinungen der Zeit oder der Umgebung an: und zu allen den feinen Arten, uns glü cklich, dankbar, mä chtig, verliebt zu stellen, wird man leicht das thierische Gleichniss finden. Auch jenen Sinn fü r Wahrheit, der im Grunde der Sinn fü r Sicherheit ist, hat der Mensch mit dem Thiere gemeinsam: man will sich nicht tä uschen lassen, sich nicht durch sich selber irre fü hren lassen, man hö rt dem Zureden der eigenen Leidenschaften misstrauisch zu, man bezwingt sich und bleibt gegen sich auf der Lauer; diess Alles versteht das Thier gleich dem Menschen, auch bei ihm wä chst die Selbstbeherrschung aus dem Sinn fü r das Wirkliche (aus der Klugheit) heraus. Ebenfalls beobachtet es die Wirkungen, die es auf die Vorstellung anderer Thiere ausü bt, es lernt von dort aus auf sich zurü ckblicken, sich» objectiv «nehmen, es hat seinen Grad von Selbsterkenntniss. Das Thier beurtheilt die Bewegungen seiner Gegner und Freunde, es lernt ihre Eigenthü mlichkeiten auswendig, es richtet sich auf diese ein: gegen Einzelne einer bestimmten Gattung giebt es ein fü r allemal den Kampf auf und ebenso errä th es in der Annä herung mancher Arten von Thieren die Absicht des Friedens und des Vertrags. Die Anfä nge der Gerechtigkeit, wie die der Klugheit, Mä ssigung, Tapferkeit, – kurz Alles, was wir mit dem Namen der sokratischen Tugenden bezeichnen, ist thierhaft: eine Folge jener Triebe, welche lehren, nach Nahrung zu suchen und den Feinden zu entgehen. Erwä gen wir nun, dass auch der hö chste Mensch sich eben nur in der Art seiner Nahrung und in dem Begriffe dessen, was ihm Alles feindlich ist, erhoben und verfeinert hat, so wird es nicht unerlaubt sein, das ganze moralische Phä nomen als thierhaft zu bezeichnen.

 

27.

 

Der Werth im Glauben an ü bermenschliche Leidenschaften. – Die Institution der Ehe hä lt hartnä ckig den Glauben aufrecht, dass die Liebe, obschon eine Leidenschaft, doch als solche der Dauer fä hig sei, ja dass die dauerhafte lebenslä ngliche Liebe als Regel aufgestellt werden kö nne. Durch diese Zä higkeit eines edlen Glaubens, trotzdem dass derselbe sehr oft und fast in der Regel widerlegt wird und somit eine pia fraus ist, hat sie der Liebe einen hö heren Adel gegeben. Alle Institutionen, welche einer Leidenschaft Glauben an ihre Dauer und Verantwortlichkeit der Dauer zugestehen, wider das Wesen der Leidenschaft, haben ihr einen neuen Rang gegeben: und Der, welcher von einer solchen Leidenschaft nunmehr befallen wird, glaubt sich nicht, wie frü her, dadurch erniedrigt oder gefä hrdet, sondern vor sich und seines Gleichen gehoben. Man denke an Institutionen und Sitten, welche aus der feurigen Hingebung des Augenblicks die ewige Treue geschaffen haben, aus dem Gelü st des Zornes die ewige Rache, aus Verzweiflung die ewige Trauer, aus dem plö tzlichen und einmaligen Worte die ewige Verbindlichkeit. Jedesmal ist sehr viel Heuchelei und Lü ge durch eine solche Umschaffung in die Welt gekommen: jedesmal auch, und um diesen Preis, ein neuer ü bermenschlicher, den Menschen hebender Begriff.

 

28.

 

Die Stimmung als Argument. – Was ist die Ursache freudiger Entschlossenheit zur That? – Diese Frage hat die Menschen viel beschä ftigt. Die ä lteste und immer noch gelä ufige Antwort ist: Gott ist die Ursache, er giebt uns dadurch zu verstehen, dass er unserem Willen zustimmt. Wenn man ehemals die Orakel ü ber ein Vorhaben befragte, wollte man von ihnen jene freudige Entschlossenheit heimbringen; und jeder beantwortete einen Zweifel, wenn ihm mehrere mö gliche Handlungen vor der Seele standen, so. ‑ »ich werde Das thun, wobei jenes Gefü hl sich einstellt. «Man entschied sich also nicht fü r das Vernü nftigste, sondern fü r ein Vorhaben, bei dessen Bilde die Seele muthig und hoffnungsvoll wurde. Die gute Stimmung wurde als Argument in die Wagschale gelegt und ü berwog die Vernü nftigkeit: desshalb, weil die Stimmung aberglä ubisch ausgelegt wurde, als Wirkung eines Gottes, der Gelingen verheisst und durch sie seine Vernunft als die hö chste Vernü nftigkeit reden lä sst. Nun erwä ge man die Folgen eines solchen Vorurtheils, wenn kluge und machtdurstige Mä nner sich seiner bedienten – und bedienen! » Stimmung machen! «– damit kann man alle Grü nde ersetzen und alle Gegengrü nde besiegen!

 

29.

 

Die Schauspieler der Tugend und der Sü nde. – Unter den Mä nnern des Alterthums, welche durch ihre Tugend berü hmt wurden, gab es, wie es scheint, eine Un‑ und Ü berzahl von solchen, die vor sich selber schauspielerten: namentlich werden die Griechen, als eingefleischte Schauspieler, diess eben ganz unwillkü rlich gethan und fü r gut befunden haben. Dazu war Jeder mit seiner Tugend im Wettstreit mit der Tugend eines Andern oder aller Anderen: wie sollte man nicht alle Kü nste aufgewendet haben, um seine Tugend zur Schau zu bringen, vor Allem vor sich selber, schon um der Ü bung willen! Was nü tzte eine Tugend, die man nicht zeigen konnte oder die sich nicht zu zeigen verstand! – Diesen Schauspielern der Tugend that das Christenthum Einhalt: dafü r erfand es das widerliche Prunken und Paradiren mit der Sü nde, es brachte die erlogene Sü ndhaftigkeit in die Welt (bis zum heutigen Tage gilt sie als» guter Ton «unter guten Christen).

 

30.

 

Die verfeinerte Grausamkeit als Tugend. – Hier ist eine Moralitä t, die ganz auf dem Triebe nach Auszeichnung beruht, – denkt nicht zu gut von ihr! Was ist denn das eigentlich fü r ein Trieb und welches ist sein Hintergedanke? Man will machen, dass unser Anblick dem Anderen wehe thue und seinen Neid, das Gefü hl der Ohnmacht und seines Herabsinkens wecke; man will ihm die Bitterkeit seines Fatums zu kosten geben, indem man auf seine Zunge einen Tropfen unseres Honigs trä ufelt und ihm scharf und schadenfroh bei dieser vermeintlichen Wohlthat in's Auge sieht. Dieser ist demü thig geworden und vollkommen jetzt in seiner Demuth, – suchet nach Denen, welchen er damit seit langer Zeit eine Tortur hat machen wollen! ihr werdet sie schon finden! Jener zeigt Erbarmen gegen die Thiere und wird desshalb bewundert, – aber es giebt gewisse Menschen, an welchen er eben damit seine Grausamkeit hat auslassen wollen. Dort steht ein grosser Kü nstler: die vorempfundene Wollust am Neide bezwungener Nebenbuhler hat seine Kraft nicht schlafen lassen, bis dass er gross geworden ist, – wie viele bittere Augenblicke anderer Seelen hat er sich fü r das Grosswerden zahlen lassen! Die Keuschheit der Nonne: mit welchen strafenden Augen sieht sie in das Gesicht anders lebender Frauen! wie viel Lust der Rache ist in diesen Augen! – Das Thema ist kurz, die Variationen darauf kö nnten zahllos sein, aber nicht leicht langweilig, – denn es ist immer noch eine gar zu paradoxe und fast wehethuende Neuigkeit, dass die Moralitä t der Auszeichnung im letzten Grunde die Lust an verfeinerter Grausamkeit ist. Im letzten Grunde – das soll hier heissen: jedesmal in der ersten Generation. Denn wenn die Gewohnheit irgend eines auszeichnenden Thuns sich vererbt, wird doch der Hintergedanke nicht mit vererbt (nur Gefü hle, aber keine Gedanken erben sich fort): und vorausgesetzt, dass er nicht durch die Erziehung wieder dahintergeschoben wird, giebt es in der zweiten Generation schon keine Lust der Grausamkeit mehr dabei: sondern Lust allein an der Gewohnheit als solcher. Diese Lust aber ist die erste Stufe des» Guten«.

 

31.

 

Der Stolz auf den Geist. – Der Stolz des Menschen, der sich gegen die Lehre der Abstammung von Thieren strä ubt und zwischen Natur und Mensch die grosse Kluft legt, – dieser Stolz hat seinen Grund in einem Vorurtheil ü ber Das, was Geist ist: und dieses Vorurtheil ist verhä ltnissmä ssig jung. In der grossen Vorgeschichte der Menschheit setzte man Geist ü berall voraus und dachte nicht daran, ihn als Vorrecht des Menschen zu ehren. Weil man im Gegentheil das Geistige (nebst allen Trieben, Bosheiten, Neigungen) zum Gemeingut und folglich gemein gemacht hatte, so schä mte man sich nicht, von Thieren oder Bä umen abzustammen (die vornehmen Geschlechter glaubten sich durch solche Fabeln geehrt) und sah in dem Geiste Das, was uns mit der Natur verbindet, nicht was uns von ihr abscheidet. So erzog man sich in der Bescheidenheit, – und ebenfalls in Folge eines Vorurtheils.

 

32.

 

Der Hemmschuh. – Moralisch zu leiden und dann zu hö ren, dieser Art Leiden liege ein Irrthum zu Grunde, diess empö rt. Es giebt ja einen so einzigen Trost, durch sein Leiden eine» tiefere Welt der Wahrheit «zu bejahen, als alle sonstige Welt ist, und man will viel lieber leiden und sich dabei ü ber die Wirklichkeit erhaben fü hlen (durch das Bewusstsein, jener» tieferen Welt der Wahrheit «damit nahe zu kommen) als ohne Leid und dann ohne diess Gefü hl des Erhabenen sein. Somit ist es der Stolz und die gewohnte Art, ihn zu befriedigen, welche sich dem neuen Verstä ndniss der Moral entgegenstemmen. Welche Kraft wird man also anzuwenden haben, um diesen Hemmschuh zu beseitigen? Mehr Stolz? Einen neuen Stolz?

 

33.

 

Die Verachtung der Ursachen, der Folgen und der Wirklichkeit. – Jene bö sen Zufä lle, welche eine Gemeinde treffen, plö tzliche Wetter oder Unfruchtbarkeiten oder Seuchen, leiten alle Mitglieder auf den Argwohn, dass Verstö sse gegen die Sitte begangen sind oder dass neue Gebrä uche erfunden werden mü ssen, um eine neue dä monische Gewalt und Laune zu beschwichtigen. Diese Art Argwohn und Nachdenken geht somit gerade der Ergrü ndung der wahren natü rlichen Ursachen aus dem Wege, sie nimmt die dä monische Ursache als die Voraussetzung. Hier ist die eine Quelle der erblichen Verkehrtheit des menschlichen Intellects: und die andere Quelle entspringt daneben, indem man ebenso grundsä tzlich den wahren natü rlichen Folgen einer Handlung ein viel geringeres Augenmerk schenkte, als den ü bernatü rlichen (den sogenannten Strafen und Gnaden der Gottheit). Es sind zum Beispiel bestimmte Bä der fü r bestimmte Zeiten vorgeschrieben: man badet, nicht um rein zu werden, sondern weil es vorgeschrieben ist. Man lernt nicht die wirklichen Folgen der Unreinlichkeit fliehen, sondern das vermeintliche Missfallen der Gö tter an der Versä umniss eines Bades. Unter dem Drucke aberglä ubischer Angst argwö hnt man, es mü sse sehr viel mehr mit diesem Abwaschen der Unreinlichkeit auf sich haben, man legt zweite und dritte Bedeutungen hinein, man verdirbt sich den Sinn und die Lust am Wirklichen und hä lt diess zuletzt, nur insofern es Symbol sein kann, noch fü r werthvoll. So verachtet der Mensch im Banne der Sittlichkeit der Sitte erstens die Ursachen, zweitens die Folgen, drittens die Wirklichkeit, und spinnt alle seine hö heren Empfindungen (der Ehrfurcht, der Erhabenheit, des Stolzes, der Dankbarkeit, der Liebe) an eine eingebildete Welt an: die sogenannte hö here Welt. Und noch jetzt sehen wir die Folge: wo das Gefü hl eines Menschen sich erhebt, da ist irgendwie jene eingebildete Welt im Spiel. Es ist traurig: aber einstweilen mü ssen dem wissenschaftlichen Menschen alle hö heren Gefü hle verdä chtig sein, so sehr sind sie mit Wahn und Unsinn verquickt. Nicht dass sie es an sich oder fü r immer sein mü ssten: aber gewiss wird von allen allmä hlichen Reinigungen, welche der Menschheit bevorstehen, die Reinigung der hö heren Gefü hle eine der allmä hlichsten sein.

 

34.

 

Moralische Gefü hle und moralische Begriffe. – Ersichtlich werden moralische Gefü hle so ü bertragen, dass die Kinder bei den Erwachsenen starke Neigungen und Abneigungen gegen bestimmte Handlungen wahrnehmen und dass sie als geborene Affen diese Neigungen und Abneigungen nachmachen; im spä teren Leben, wo sie sich voll von diesen angelernten und wohl geü bten Affecten finden, halten sie ein nachträ gliches Warum, eine Art Begrü ndung, dass jene Neigungen und Abneigungen berechtigt sind, fü r eine Sache des Anstandes. Diese» Begrü ndungen «aber haben weder mit der Herkunft, noch dem Grade des Gefü hls bei ihnen Etwas zu thun: man findet sich eben nur mit der Regel ab, dass man als vernü nftiges Wesen Grü nde fü r sein Fü r und Wider haben mü sse, und zwar angebbare und annehmbare Grü nde. Insofern ist die Geschichte der moralischen Gefü hle eine ganz andere, als die Geschichte der moralischen Begriffe. Erstere sind mä chtig vor der Handlung, letztere namentlich nach der Handlung, angesichts der Nö thigung, sich ü ber sie auszusprechen.

 

35.

 

Gefü hle und deren Abkunft von Urtheilen. – »Vertraue deinem Gefü hle! «– Aber Gefü hle sind nichts Letztes, Ursprü ngliches, hinter den Gefü hlen stehen Urtheile und Werthschä tzungen, welche in der Form von Gefü hlen (Neigungen, Abneigungen) uns vererbt sind. Die Inspiration, die aus dem Gefü hle stammt, ist das Enkelkind eines Urtheils – und oft eines falschen! – und jedenfalls nicht deines eigenen! Seinem Gefü hle vertrauen – das heisst seinem Grossvater und seiner Grossmutter und deren Grosseltern mehr gehorchen als den Gö ttern, die in uns sind: unserer Vernunft und unserer Erfahrung.

 

36.

 

Eine Narrheit der Pietä t mit Hintergedanken. – Wie! die Erfinder der uralten Culturen, die ä ltesten Verfertiger der Werkzeuge und Messschnü re, der Wagen und Schiffe und Hä user, die ersten Beobachter der himmlischen Gesetzmä ssigkeit und der Regeln des Einmaleins, – sie seien etwas unvergleichlich Anderes und Hö heres, als die Erfinder und Beobachter unserer Zeiten? Die ersten Schritte hä tten einen Werth, dem alle unsere Reisen und Weltumsegelungen im Reiche der Entdeckungen nicht gleichkä men? So klingt das Vorurtheil, so argumentirt man fü r die Geringschä tzung des gegenwä rtigen Geistes. Und doch liegt auf der Hand, dass der Zufall ehemals der grö sste aller Entdecker und Beobachter und der wohlwollende Einblä ser jener erfinderischen Alten war, und dass bei der unbedeutendsten Erfindung, die jetzt gemacht wird, mehr Geist, Zucht und wissenschaftliche Phantasie verbraucht wird, als frü her in ganzen Zeitlä uften ü berhaupt vorhanden war.

 

37.

 

Falsche Schlü sse aus der Nü tzlichkeit. – Wenn man die hö chste Nü tzlichkeit einer Sache bewiesen hat, so ist damit auch noch kein Schritt zur Erklä rung ihres Ursprungs gethan: das heisst, man kann mit der Nü tzlichkeit niemals die Nothwendigkeit der Existenz verstä ndlich machen. Aber gerade das umgekehrte Urtheil hat bisher geherrscht – und bis in die Gebiete der strengsten Wissenschaft hinein. Hat man nicht selbst in der Astronomie die (angebliche) Nü tzlichkeit in der Anordnung der Satelliten (das durch die grö ssere Entfernung von der Sonne abgeschwä chte Licht anderweitig zu ersetzen, damit es den Bewohnern der Gestirne nicht an Licht mangele) fü r den Endzweck ihrer Anordnung und fü r die Erklä rung ihrer Entstehung ausgegeben? Wobei man sich der Schlü sse des Columbus erinnern wird. ‑ die Erde ist fü r den Menschen gemacht, also, wenn es Lä nder giebt, mü ssen sie bewohnt sein. »Ist es wahrscheinlich, dass die Sonne auf Nichts scheine und dass die nä chtlichen Wachen der Sterne an pfadlose Meere und menschenleere Lä nder verschwendet werden? »

 

38.

 

Die Triebe durch die moralischen Urtheile umgestaltet. – Der selbe Trieb entwickelt sich zum peinlichen Gefü hl der Feigheit, unter dem Eindruck des Tadels, den die Sitte auf diesen Trieb gelegt hat: oder zum angenehmen Gefü hl der Demuth, falls eine Sitte, wie die christliche, ihn sich an's Herz gelegt und gut geheissen hat. Das heisst: es hä ngt sich ihm entweder ein gutes oder ein bö ses Gewissen an! An sich hat er, wie jeder Trieb, weder diess noch ü berhaupt einen moralischen Charakter und Namen, noch selbst eine bestimmte begleitende Empfindung der Lust oder Unlust: er erwirbt diess Alles erst, als seine zweite Natur, wenn er in Relation zu schon auf gut und bö se getauften Trieben tritt, oder als Eigenschaft von Wesen bemerkt wird, welche vom Volke schon moralisch festgestellt und abgeschä tzt sind. – So haben die ä lteren Griechen anders ü ber den Neid empfunden, als wir; Hesiod zä hlt ihn unter den Wirkungen der guten, wohlthä tigen Eris auf, und es hatte nichts Anstö ssiges, den Gö ttern etwas Neidisches zuzuerkennen: begreiflich bei einem Zustande der Dinge, dessen Seele der Wettstreit war; der Wettstreit aber war als gut festgestellt und abgeschä tzt. Ebenfalls waren die Griechen von uns verschieden in der Abschä tzung der Hoffnung – man empfand sie als blind und tü ckisch; Hesiod hat das Stä rkste ü ber sie in einer Fabel angedeutet, und zwar etwas so Befremdendes, dass kein neuerer Erklä rer es verstanden hat, – denn es geht wider den modernen Geist, welcher vom Christenthum her an die Hoffnung als eine Tugend zu glauben gelernt hat. Bei den Griechen dagegen, welchen der Zugang zum Wissen der Zukunft nicht gä nzlich verschlossen schien und denen in zahllosen Fä llen eine Anfrage um die Zukunft zur religiö sen Pflicht gemacht wurde, wo wir uns mit der Hoffnung begnü gen, musste wohl, Dank allen Orakeln und Wahrsagern, die Hoffnung etwas degradirt werden und in's Bö se und Gefä hrliche hinabsinken. – Die Juden haben den Zorn anders empfunden, als wir, und ihn heilig gesprochen: dafü r haben sie die dü stere Majestä t des Menschen, mit welcher verbunden er sich zeigte, unter sich in einer Hö he gesehen, die sich ein Europä er nicht vorzustellen vermag; sie haben ihren zornigen heiligen Jehovah nach ihren zornigen heiligen Propheten gebildet. An ihnen gemessen, sind die grossen Zü rner unter den Europä ern gleichsam Geschö pfe aus zweiter Hand.

 

39.

 

Das Vorurtheil vom» reinen Geiste«. – Ü berall, wo die Lehre von der reinen Geistigkeit geherrscht hat, hat sie mit ihren Ausschweifungen die Nervenkraft zerstö rt: sie lehrte den Kö rper geringschä tzen, vernachlä ssigen oder quä len, und um aller seiner Triebe willen den Menschen selber quä len und geringschä tzen; sie gab verdü sterte, gespannte, gedrü ckte Seelen, – welche noch ü berdiess glaubten, die Ursache ihres Elend‑ Gefü hls zu kennen und sie vielleicht heben zu kö nnen! » Im Kö rper muss sie liegen! erblü ht immer noch zu sehr! «– so schlossen sie, wä hrend thatsä chlich derselbe gegen seine fortwä hrende Verhö hnung durch seine Schmerzen Einsprache ü ber Einsprache erhob. Eine allgemeine, chronisch gewordene Ü bernervositä t war endlich das Loos jener tugendhaften Reingeistigen: die Lust lernten sie nur noch in der Form der Ekstase und anderer Vorlä ufer des Wahnsinns kennen – und ihr System kam auf seine Spitze, als es die Ekstase als das hohe Ziel des Lebens und als den verurtheilenden Maassstab fü r alles Irdische nahm.

 

40.

 

Das Grü beln ü ber Gebrä uche. – Zahllose Vorschriften der Sitte, einem einmaligen seltsamen Vorkommniss flü chtig abgelesen, wurden sehr schnell unverstä ndlich; es liess sich ihre Absicht ebenso wenig mit Sicherheit ausrechnen wie die Strafe, welche der Ü bertretung folgen werde; selbst ü ber die Folge der Ceremonien blieb Zweifel; – aber indem man darü ber hin und her rieth, wuchs das Object eines solchen Grü belns an Werth, und gerade das Absurdeste eines Gebrauches gieng zuletzt in die heiligste Heiligkeit ü ber. Man denke nicht gering von der hier in Jahrtausenden aufgewendeten Kraft der Menschheit und am wenigsten von der Wirkung dieses Grü belns ü ber Gebrä uche! Wir sind hier auf der ungeheuren Ü bungsstä tte des Intellectes angelangt, – nicht nur dass hier die Religionen ausgesponnen und fortgesponnen werden: hier ist die wü rdige, obschon schauerliche Vorwelt der Wissenschaft, hier wuchs der Dichter, der Denker, der Arzt, der Gesetzgeber! Die Angst vor dem Unverstä ndlichen, welches in zweideutiger Weise von uns Ceremonien forderte, gieng allmä hlich in den Reiz des Schwerverstä ndlichen ü ber, und wo man nicht zu ergrü nden wusste, lernte man schaffen.

 

41.

 

Zur Werthbestimmung der vita contemplativa. – Vergessen wir als Menschen der vita contemplativa nicht, welche Art von Ü bel und Unsegen durch die verschiedenen Nachwirkungen der Beschaulichkeit auf die Menschen der vita activa gekommen ist, – kurz, welche Gegenrechnung die vita activa uns zu machen hat, wenn wir allzu stolz mit unseren Wohlthaten uns vor ihr brü sten. Erstens: die sogenannten religiö sen Naturen, welche der Zahl nach unter den Contemplativen ü berwiegen und folglich ihre gemeinste Species abgeben, haben zu allen Zeiten dahin gewirkt, den praktischen Menschen das Leben schwer zu machen und es ihnen womö glich zu verleiden: den Himmel verdü stern, die Sonne auslö schen, die Freude verdä chtigen, die Hoffnungen entwerthen, die thä tige Hand lä hmen, – das haben sie verstanden, ebenso wie sie fü r elende Zeiten und Empfindungen ihre Trö stungen, Almosen, Handreichungen und Segenssprü che gehabt haben. Zweitens: die Kü nstler, etwas seltener als die Religiö sen, aber doch immer noch eine hä ufige Art von Menschen der vita contemplativa, sind als Personen zumeist unleidlich, launisch, neidisch, gewaltsam, unfriedlich gewesen: diese Wirkung ist von den erheiternden und erhebenden Wirkungen ihrer Werke in Abzug zu bringen. Drittens: die Philosophen, eine Gattung, in der sich religiö se und kü nstlerische Krä fte beisammen vorfinden, doch so, dass etwas Drittes, das Dialektische, die Lust am Demonstriren, noch daneben Platz hat, sind die Urheber von Ü beln nach der Weise der Religiö sen und der Kü nstler gewesen und haben noch dazu durch ihren dialektischen Hang vielen Menschen Langeweile gemacht; doch war ihre Zahl immer sehr klein. Viertens: die Denker und die wissenschaftlichen Arbeiter; sie waren selten auf Wirkungen aus, sondern gruben sich still ihre Maulwurfslö cher. So haben sie wenig Verdruss und Unbehagen gemacht und oft als Gegenstand des Spottes und Gelä chters sogar, ohne es zu wollen, den Menschen der vita activa das Leben erleichtert. Zuletzt ist die Wissenschaft doch etwas sehr Nü tzliches fü r Alle geworden: wenn dieses Nutzens halber jetzt sehr viele zur vita activa Vorherbestimmte sich einen Weg zur Wissenschaft bahnen, im Schweisse ihres Angesichts und nicht ohne Kopfzerbrechen und Verwü nschungen, so trä gt doch an solchem Ungemach die Schaar der Denker und wissenschaftlichen Arbeiter keine Schuld; es ist» selbstgeschaffene Pein«.

 

42.

 

Herkunft der vita contemplativa. – In rohen Zeiten, wo die pessimistischen Urtheile ü ber Mensch und Welt herrschen, ist der Einzelne im Gefü hle seiner vollen Kraft immer darauf aus, jenen Urtheilen gemä ss zu handeln, also die Vorstellung in Action zu ü bersetzen, durch Jagd, Raub, Ü berfall, Misshandlung und Mord, eingerechnet die blä sseren Abbilder jener Handlungen, wie sie innerhalb der Gemeinde allein geduldet werden. Lä sst seine Kraft aber nach, fü hlt er sich mü de oder krank oder schwermü thig oder ü bersä ttigt und in Folge davon zeitweilig wunsch‑ und begierdenlos, so ist er da ein verhä ltnissmä ssig besserer, das heisst weniger schä dlicher Mensch, und seine pessimistischen Vorstellungen entladen sich dann nur noch in Worten und Gedanken, zum Beispiel ü ber den Werth seiner Genossen oder seines Weibes oder seines Lebens oder seiner Gö tter, – seine Urtheile werden bö se Urtheile sein. In diesem Zustande wird er zum Denker und Vorausverkü nder, oder er dichtet an seinem Aberglauben weiter und sinnt neue Gebrä uche aus, oder er spottet seiner Feinde –: was er aber auch erdenkt, alle Erzeugnisse < seines Geistes> mü ssen seinen Zustand wiederspiegeln, also die Zunahme der Furcht und der Ermü dung, die Abnahme seiner Schä tzung des Handelns und Geniessens; der Gehalt dieser Erzeugnisse muss dem Gehalte dieser dichterischen, denkerischen, priesterlichen Stimmungen entsprechen; das bö se Urtheil muss darin regieren. Spä ter nannte man alle Die, welche andauernd thaten, was frü her der Einzelne in jenem Zustande that, welche also bö se urtheilten, melancholisch und thatenarm lebten, Dichter oder Denker oder Priester oder Medicinmä nner –: man wü rde solche Menschen, weil sie nicht genug handelten, gerne gering geschä tzt und aus der Gemeinde gestossen haben; aber es gab eine Gefahr dabei, – sie waren dem Aberglauben und der Spur gö ttlicher Krä fte nachgegangen, man zweifelte nicht daran, dass sie ü ber unbekannte Mittel der Macht gebö ten. Diess ist die Schä tzung, in der das ä lteste Geschlecht contemplativer Naturen lebte, – genau so weit verachtet, als sie nicht gefü rchtet wurden! In solcher vermummter Gestalt, in solchem zweideutigen Ansehen, mit einem bö sen Herzen und oft mit einem geä ngstigten Kopfe ist die Contemplation zuerst auf der Erde erschienen, zugleich schwach und furchtbar, im Geheimen verachtet und ö ffentlich mit aberglä ubischer Ehrerbietung ü berschü ttet! Hier, wie immer, muss es heissen: pudenda origo!



  

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