Хелпикс

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Zweites Buch 1 страница



2.

 

Vorurtheil der Gelehrten. – Es ist ein richtiges Urtheil der Gelehrten, dass die Menschen aller Zeiten zu wissen glaubten, was gut und bö se, lobens‑ und tadelnswerth sei. Aber es ist ein Vorurtheil der Gelehrten, dass wir es jetzt besser wü ssten, als irgend eine Zeit.

 

3.

 

Alles hat seine Zeit. – Als der Mensch allen Dingen ein Geschlecht gab, meinte er nicht zu spielen, sondern eine tiefe Einsicht gewonnen zu haben: – den ungeheuren Umfang dieses Irrthums hat er sich sehr spä t und jetzt vielleicht noch nicht ganz eingestanden. – Ebenso hat der Mensch Allem, was da ist, eine Beziehung zur Moral beigelegt und der Welt eine ethische Bedeutung ü ber die Schulter gehä ngt. Das wird einmal ebenso viel und nicht mehr Werth haben, als es heute schon der Glaube an die Mä nnlichkeit oder Weiblichkeit der Sonne hat.

 

4.

 

Gegen die erträ umte Disharmonie der Sphä ren. – Wir mü ssen die viele falsche Grossartigkeit wieder aus der Welt schaffen, weil sie gegen die Gerechtigkeit ist, auf die alle Dinge vor uns Anspruch haben! Und dazu thut noth, die Welt nicht disharmonischer sehen zu wollen als sie ist!

 

5.

 

Seid dankbar. – Das grosse Ergebniss der bisherigen Menschheit ist, dass wir nicht mehr bestä ndige Furcht vor wilden Thieren, vor Barbaren, vor Gö ttern und vor unseren Trä umen zu haben brauchen.

 

6.

 

Der Taschenspieler und sein Widerspiel. – Das Erstaunliche in der Wissenschaft ist dem Erstaunlichen in der Kunst des Taschenspielers entgegengesetzt. Denn dieser will uns dafü r gewinnen, eine sehr einfache Causalitä t dort zu sehen, wo in Wahrheit eine sehr complicirte Causalitä t in Thä tigkeit ist. Die Wissenschaft dagegen nö thigt uns, den Glauben an einfache Causalitä ten gerade dort aufzugeben, wo Alles so leicht begreiflich scheint und wir die Narren des Augenscheins sind. Die» einfachsten «Dinge sind sehr complicirt, – man kann sich nicht genug darü ber verwundern!

 

7.

 

Um lernen des Raumgefü hls. – Haben die wirklichen Dinge oder die eingebildeten Dinge mehr zum menschlichen Glü ck beigetragen? Gewiss ist, dass die Weite des Raumes zwischen hö chstem Glü ck und tiefstem Unglü ck erst mit Hü lfe der eingebildeten Dinge hergestellt worden ist. Diese Art von Raumgefü hl wird folglich, unter der Einwirkung der Wissenschaft, immer verkleinert: so wie wir von ihr gelernt haben und noch lernen, die Erde als klein, ja das Sonnensystem als Punct zu empfinden.

 

8.

 

Transfiguration. – Die rathlos Leidenden, die verworren Trä umenden, die ü berirdisch Entzü ckten, – diess sind die drei Grade, in welche Raffael die Menschen eintheilt. So blicken wir nicht mehr in die Welt – und auch Raffael dü rfte es jetzt nicht mehr: er wü rde eine neue Transfiguration mit Augen sehen.

 

9.

 

Begriff der Sittlichkeit der Sitte. – Im Verhä ltniss zu der Lebensweise ganzer Jahrtausende der Menschheit leben wir jetzigen Menschen in einer sehr unsittlichen Zeit: die Macht der Sitte ist erstaunlich abgeschwä cht und das Gefü hl der Sittlichkeit so verfeinert und so in die Hö he getragen, dass es ebenso gut als verflü chtigt bezeichnet werden kann. Desshalb werden uns, den Spä tgeborenen, die Grundeinsichten in die Entstehung der Moral schwer, sie bleiben uns, wenn wir sie trotzdem gefunden haben, an der Zunge kleben und wollen nicht heraus: weil sie grob klingen! Oder weil sie die Sittlichkeit zu verleumden scheinen! So zum Beispiel gleich der Hauptsatz: Sittlichkeit ist nichts Anderes (also namentlich nicht mehr! ), als Gehorsam gegen Sitten, welcher Art diese auch sein mö gen; Sitten aber sind die herkö mmliche Art zu handeln und abzuschä tzen. In Dingen, wo kein Herkommen befiehlt, giebt es keine Sittlichkeit; und je weniger das Leben durch Herkommen bestimmt ist, um so kleiner wird der Kreis der Sittlichkeit. Der freie Mensch ist unsittlich, weil er in Allem von sich und nicht von einem Herkommen abhä ngen will: in allen ursprü nglichen Zustä nden der Menschheit bedeutet» bö se «so viel wie» individuell«, »frei«, »willkü rlich«, »ungewohnt«, »unvorhergesehen«, »unberechenbar«. Immer nach dem Maassstab solcher Zustä nde gemessen: wird eine Handlung gethan, nicht weil das Herkommen sie befiehlt, sondern aus anderen Motiven (zum Beispiel des individuellen Nutzens wegen), ja selbst aus eben den Motiven, welche das Herkommen ehemals begrü ndet haben, so heisst sie unsittlich und wird so selbst von ihrem Thä ter empfunden: denn sie ist nicht aus Gehorsam gegen das Herkommen gethan worden. Was ist das Herkommen? Eine hö here Autoritä t, welcher man gehorcht, nicht weil sie das uns Nü tzliche befiehlt, sondern weil sie befiehlt. – Wodurch unterscheidet sich diess Gefü hl vor dem Herkommen von dem Gefü hl der Furcht ü berhaupt? Es ist die Furcht vor einem hö heren Intellect, der da befiehlt, vor einer unbegreiflichen unbestimmten Macht, vor etwas mehr als Persö nlichem, – es ist Aberglaube in dieser Furcht. – Ursprü nglich gehö rte die ganze Erziehung und Pflege der Gesundheit, die Ehe, die Heilkunst, der Feldbau, der Krieg, das Reden und Schweigen, der Verkehr unter einander und mit den Gö ttern in den Bereich der Sittlichkeit: sie verlangte, dass man Vorschriften beobachtete, ohne an sich als Individuum zu denken. Ursprü nglich also war Alles Sitte, und wer sich ü ber sie erheben wollte, musste Gesetzgeber und Medicinmann und eine Art Halbgott werden: das heisst, er musste Sitten machen, – ein furchtbares, lebensgefä hrliches Ding! – Wer ist der Sittlichste? Einmal Der, welcher das Gesetz am hä ufigsten erfü llt: also, gleich dem Brahmanen, das Bewusstsein desselben ü berallhin und in jeden kleinen Zeittheil trä gt, sodass er fortwä hrend erfinderisch ist in Gelegenheiten, das Gesetz zu erfü llen. Sodann Der, der es auch in den schwersten Fä llen erfü llt. Der Sittlichste ist Der, welcher am meisten der Sitte opfert: welches aber sind die grö ssten Opfer? Nach der Beantwortung dieser Frage entfalten sich mehrere unterschiedliche Moralen; aber der wichtigste Unterschied bleibt doch jener, welcher die Moralitä t der hä ufigsten Erfü llung von der der schwersten Erfü llung trennt. Man tä usche sich ü ber das Motiv jener Moral nicht, welche die schwerste Erfü llung der Sitte als Zeichen der Sittlichkeit fordert! Die Selbstü berwindung wird nicht ihrer nü tzlichen Folgen halber, die sie fü r das Individuum hat, gefordert, sondern damit die Sitte, das Herkommen herrschend erscheine, trotz allem individuellen Gegengelü st und Vortheil: der Einzelne soll sich opfern, – so heischt es die Sittlichkeit der Sitte. – Jene Moralisten dagegen, welche wie die Nachfolger der sokratischen Fusstapfen die Moral der Selbstbeherrschung und Enthaltsamkeit dem Individuum als seinen eigensten Vortheil, als seinen persö nlichsten Schlü ssel zum Glü ck an's Herz legen, machen die Ausnahme – und wenn es uns anders erscheint, so ist es, weil wir unter ihrer Nachwirkung erzogen sind: sie alle gehen eine neue Strasse unter hö chlichster Missbilligung aller Vertreter der Sittlichkeit der Sitte, – sie lö sen sich aus der Gemeinde aus, als Unsittliche, und sind, im tiefsten Verstande, bö se. Ebenso erschien einem tugendhaften Rö mer alten Schrotes jeder Christ, welcher» am ersten nach seiner eigenen Seligkeit trachtete«, – als bö se. – ü berall, wo es eine Gemeinde und folglich eine Sittlichkeit der Sitte giebt, herrscht auch der Gedanke, dass die Strafe fü r die Verletzung der Sitte vor Allem auf die Gemeinde fä llt: jene ü bernatü rliche Strafe, deren Aeusserung und Grä nze so schwer zu begreifen ist und mit so aberglä ubischer Angst ergrü ndet wird. Die Gemeinde kann den Einzelnen anhalten, dass er den nä chsten Schaden, den seine That im Gefolge hatte, am Einzelnen oder an der Gemeinde wieder gut mache, sie kann auch eine Art Rache am Einzelnen dafü r nehmen, dass durch ihn, als angebliche Nachwirkung seiner That, sich die gö ttlichen Wolken und Zorneswetter ü ber der Gemeinde gesammelt haben, – aber sie empfindet die Schuld des Einzelnen doch vor Allem als ihre Schuld und trä gt dessen Strafe als ihre Strafe –: die Sitten sind locker geworden, so klagt es in der Seele eines Jeden, wenn solche Thaten mö glich sind. «Jede individuelle Handlung, jede individuelle Denkweise erregt Schauder; es ist gar nicht auszurechnen, was gerade die seltneren, ausgesuchteren, ursprü nglicheren Geister im ganzen Verlauf der Geschichte dadurch gelitten haben mü ssen, dass sie immer als die bö sen und gefä hrlichen empfunden wurden, ja dass sie sich selber so empfanden. Unter der Herrschaft der Sittlichkeit der Sitte hat die Originalitä t jeder Art ein bö ses Gewissen bekommen; bis diesen Augenblick ist der Himmel der Besten noch dadurch verdü sterter, als er sein mü sste.

 

10.

 

Gegenbewegung zwischen Sinn der Sittlichkeit und Sinn der Causalitä t. – In dem Maasse, in welchem der Sinn der Causalitä t zunimmt, nimmt der Umfang des Reiches der Sittlichkeit ab: denn jedesmal, wenn man die nothwendigen Wirkungen begriffen hat und gesondert von allen Zufä llen, allem gelegentlichen Nachher (post hoc) zu denken versteht, hat man eine Unzahl phantastischer Causalitä ten, an welche als Grundlagen von Sitten bisher geglaubt wurde, zerstö rt – die wirkliche Welt ist viel kleiner, als die phantastische – und jedesmal ist ein Stü ck Angstlichkeit und Zwang aus der Welt verschwunden, jedesmal auch ein Stü ck Achtung vor der Autoritä t der Sitte: die Sittlichkeit im Grossen hat eingebü sst. Wer sie dagegen vermehren will, muss zu verhü ten wissen, dass die Erfolge controlirbar werden.

 

11.

 

Volksmoral und Volksmedicin. ‑ An der Moral, welche in einer Gemeinde herrscht, wird fortwä hrend und von Jedermann gearbeitet: die Meisten bringen Beispiele ü ber Beispiele fü r das behauptete Verhä ltniss von Ursache und Folge, Schuld und Strafe hinzu, bestä tigen es als wohlbegrü ndet und mehren seinen Glauben: Einige machen neue Beobachtungen ü ber Handlungen und Folgen und ziehen Schlü sse und Gesetze daraus: die Wenigsten nehmen hie und da Anstoss und lassen den Glauben an diesen Puncten schwach werden. – Alle aber sind einander gleich in der gä nzlich rohen, unwissenschaftlichen Art ihrer Thä tigkeit; ob es sich um Beispiele, Beobachtungen oder Anstö sse handelt, ob um den Beweis, die Bekrä ftigung, den Ausdruck, die Widerlegung eines Gesetzes, – es ist werthloses Material und werthlose Form, wie Material und Form aller Volksmedicin. Volksmedicin und Volksmoral gehö ren zusammen und sollten nicht mehr so verschieden abgeschä tzt werden, wie es immer noch geschieht: beides sind die gefä hrlichsten Scheinwissenschaften.

 

12.

 

Die Folge als Zuthat. – Ehemals glaubte man, der Erfolg einer That sei nicht eine Folge, sondern eine freie Zuthat – nä mlich Gottes. Ist eine grö ssere Verwirrung denkbar! Man musste sich um die That und um den Erfolg besonders bemü hen, mit ganz verschiedenen Mitteln und Praktiken!

 

13.

 

Zur neuen Erziehung des Menschengeschlechts. – Helft, ihr Hü lfreichen und Wohlgesinnten, doch an dem Einen Werke mit, den Begriff der Strafe, der die ganze Welt ü berwuchert hat, aus ihr zu entfernen! Es giebt kein bö seres Unkraut! Nicht nur in die Folgen unserer Handlungsweisen hat man ihn gelegt – und wie schrecklich und vernunftwidrig ist schon diess, Ursache und Wirkung als Ursache und Strafe zu verstehen! – aber man hat mehr gethan und die ganze reine Zufä lligkeit des Geschehens um ihre Unschuld gebracht, mit dieser verruchten Interpretationskunst des Straf‑ Begriffs. Ja, man hat die Tollheit so weit getrieben, die Existenz selber als Strafe empfinden zu heissen, – es ist, als ob die Phantasterei von Kerkermeistern und Henkern bisher die Erziehung des Menschengeschlechts geleitet hä tte!

 

14.

 

Bedeutung des Wahnsinns in der Geschichte der Moralitä t. – Wenn trotz jenem furchtbaren Druck der» Sittlichkeit der Sitte«, unter dem alle Gemeinwesen der Menschheit lebten, viele Jahrtausende lang vor unserer Zeitrechnung und in derselben im Ganzen und Grossen fort bis auf den heutigen Tag (wir selber wohnen in der kleinen Welt der Ausnahmen und gleichsam in der bö sen Zone): – wenn, sage ich, trotzdem neue und abweichende Gedanken, Werthschä tzungen, Triebe immer wieder herausbrachen, so geschah diess unter einer schauderhaften Geleitschaft: fast ü berall ist es der Wahnsinn, welcher dem neuen Gedanken den Weg bahnt, welcher den Bann eines verehrten Brauches und Aberglaubens bricht. Begreift ihr es, wesshalb es der Wahnsinn sein musste? Etwas in Stimme und Gebä rde so Grausenhaftes und Unberechenbares wie die dä monischen Launen des Wetters und des Meeres und desshalb einer ä hnlichen Scheu und Beobachtung Wü rdiges? Etwas, das so sichtbar das Zeichen vö lliger Unfreiwilligkeit trug, wie die Zuckungen und der Schaum des Epileptischen, das den Wahnsinnigen dergestalt als Maske und Schallrohr einer Gottheit zu kennzeichnen schien? Etwas, das dem Trä ger eines neuen Gedankens selber Ehrfurcht und Schauder vor sich und nicht mehr Gewissensbisse gab und ihn dazu trieb, der Prophet und Mä rtyrer desselben zu werden? – Wä hrend es uns heute noch immer wieder nahe gelegt wird, dass dem Genie, anstatt eines Kornes Salz, ein Korn Wahnwurz beigegeben ist, lag allen frü heren Menschen der Gedanke viel nä her, dass ü berall, wo es Wahnsinn giebt, es auch ein Korn Genie und Weisheit gä be, – etwas» Gö ttliches«, wie man sich zuflü sterte. Oder vielmehr: man drü ckte sich krä ftig genug aus. »Durch den Wahnsinn sind die grö ssten Gü ter ü ber Griechenland gekommen, «sagte Plato mit der ganzen alten Menschheit. Gehen wir noch einen Schritt weiter: allen jenen ü berlegenen Menschen, welche es unwiderstehlich dahin zog, das Joch irgend einer Sittlichkeit zu brechen und neue Gesetze zugeben, blieb, wenn sie nicht wirklich wahnsinnig waren, Nichts ü brig, als sich wahnsinnig zu machen oder zu stellen – und zwar gilt diess fü r die Neuerer auf allen Gebieten, nicht nur auf dem der priesterlichen und politischen Satzung. ‑ selbst der Neuerer des poetischen Metrums musste durch den Wahnsinn sich beglaubigen. (Bis in viel mildere Zeiten hinein verblieb daraus den Dichtern eine gewisse Convention des Wahnsinns: auf welche zum Beispiel Solon zurü ckgriff, als er die Athener zur Wiedereroberung von Salamis aufstachelte. ) –»Wie macht man sich wahnsinnig, wenn man es nicht ist und nicht wagt, es zu scheinen? «diesem entsetzlichen Gedankengange haben fast alle bedeutenden Menschen der ä lteren Civilisation nachgehangen; eine geheime Lehre von Kunstgriffen und diä tetischen Winken pflanzte sich darü ber fort, nebst dem Gefü hle der Unschuld, ja Heiligkeit eines solchen Nachsinnens und Vorhabens. Die Recepte, um bei den Indianern ein Medicinmann, bei den Christen des Mittelalters ein Heiliger, bei den Grö nlä ndern ein Angekok, bei den Brasilianern ein Paje zu werden, sind im Wesentlichen die selben: unsinniges Fasten, fortgesetzte geschlechtliche Enthaltung, in die Wü ste gehen oder auf einen Berg oder eine Sä ule steigen, oder» sich auf eine bejahrte Weide setzen, die in einen See hinaussieht «und schlechterdings an Nichts denken, als Das, was eine Verzü ckung und geistige Unordnung mit sich bringen kann. Wer wagt es, einen Blick in die Wildniss bitterster und ü berflü ssigster Seelennö the zu thun, in welchen wahrscheinlich gerade die fruchtbarsten Menschen aller Zeiten geschmachtet haben! Jene Seufzer der Einsamen und Verstö rten zu hö ren: »Ach, so gebt doch Wahnsinn, ihr Himmlischen! Wahnsinn, dass ich endlich an mich selber glaube! Gebt Delirien und Zuckungen, plö tzliche Lichter und Finsternisse, schreckt mich mit Frost und Gluth, wie sie kein Sterblicher noch empfand, mit Getö se und umgehenden Gestalten, lasst mich heulen und winseln und wie ein Thier kriechen: nur dass ich bei mir selber Glauben finde! Der Zweifel frisst mich auf, ich habe das Gesetz getö dtet, das Gesetz ä ngstigt mich wie ein Leichnam einen Lebendigen: wenn ich nicht mehr bin als das Gesetz, so bin ich der Verworfenste von Allen. Der neue Geist, der in mir ist, woher ist er, wenn er nicht von euch ist? Beweist es mir doch, dass ich euer bin; der Wahnsinn allein beweist es mir. «Und nur zu oft erreichte diese Inbrunst ihr Ziel zu gut: in jener Zeit, in welcher das Christenthum am reichsten seine Fruchtbarkeit an Heiligen und Wü sten‑ Einsiedlern bewies und sich dadurch selber zu beweisen vermeinte, gab es in Jerusalem grosse Irrenhä user fü r verunglü ckte Heilige, fü r jene, welche ihr letztes Korn Salz daran gegeben hatten.

 

15.

 

Die ä ltesten Trostmittel. – Erste Stufe: der Mensch sieht in jedem ü bel befinden und Missgeschick Etwas, wofü r er irgend jemand Anderes leiden lassen muss, – dabei wird er sich seiner noch vorhandenen Macht bewusst, und diess trö stet ihn. Zweite Stufe: der Mensch sieht in jedem Ü belbefinden und Missgeschick eine Strafe, das heisst die Sü hnung der Schuld und das Mittel, sich vom bö sartigen Zauber eines wirklichen oder vermeintlichen Unrechtes loszumachen. Wenn er dieses Vortheils ansichtig wird, welchen das Unglü ck mit sich bringt, so glaubt er einen Anderen nicht mehr dafü r leiden lassen zu mü ssen, – er sagt sich von dieser Art Befriedigung los, weil er nun eine andere hat.

 

16.

 

Erster Satz der Civilisation. – Bei rohen Vö lkern giebt es eine Gattung von Sitten, deren Absicht die Sitte ü berhaupt zu sein scheint: peinliche und im Grunde ü berflü ssige Bestimmungen (wie zum Beispiel die unter den Kamtschadalen, niemals den Schnee von den Schuhen mit dem Messer abzuschaben, niemals eine Kohle mit dem Messer zu spiessen, niemals ein Eisen in's Feuer zu legen – und der Tod trifft Den, welcher in solchen Stü cken zuwiderhandelt! ), die aber die fortwä hrende Nä he der Sitte, den unausgesetzten Zwang, Sitte zu ü ben, fortwä hrend im Bewusstsein erhalten: zur Bekrä ftigung des grossen Satzes, mit dem die Civilisation beginnt: jede Sitte ist besser, als keine Sitte.

 

17.

 

Die gute und die bö se Natur. – Erst haben die Menschen sich in die Natur hineingedichtet: sie sahen ü berall sich und Ihresgleichen, nä mlich ihre bö se und launenhafte Gesinnung, gleichsam versteckt unter Wolken, Gewittern, Raubthieren, Bä umen und Krä utern: damals erfanden sie die» bö se Natur«. Dann kam einmal eine Zeit, da sie sich wieder aus der Natur hinausdichteten, die Zeit Rousseau's: man war einander so satt, dass man durchaus einen Weltwinkel haben wollte, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual: man erfand die» gute Natur«.

 

18.

 

Die Moral des freiwilligen Leidens. – Welcher Genuss ist fü r Menschen im Kriegszustande jener kleinen, stets gefä hrdeten Gemeinde, wo die strengste Sittlichkeit waltet, der hö chste? Also fü r kraftvolle, rachsü chtige, feindselige, tü ckische, argwö hnische, zum Furchtbarsten bereite, und durch Entbehrung und Sittlichkeit gehä rtete Seelen? Der Genuss der Grausamkeit: so wie es auch zur Tugend einer solchen Seele in diesen Zustä nden gerechnet wird, in der Grausamkeit erfinderisch und unersä ttlich zu sein. An dem Thun des Grausamen erquickt sich die Gemeinde und wirft einmal die Dü sterkeit der bestä ndigen Angst und Vorsicht von sich. Die Grausamkeit gehö rt zur ä ltesten Festfreude der Menschheit. Folglich denkt man sich auch die Gö tter erquickt und festlich gestimmt, wenn man ihnen den Anblick der Grausamkeit anbietet, – und so schleicht sich die Vorstellung in die Welt, dass das freiwillige Leiden, die selbsterwä hlte Marter einen guten Sinn und Werth habe. Allmä hlich formt die Sitte in der Gemeinde eine Praxis gemä ss dieser Vorstellung: man wird bei allem ausschweifenden Wohlbefinden von nun an misstrauischer und bei allen schweren schmerzhaften Zustä nden zuversichtlicher; man sagt sich: es mö gen wohl die Gö tter ungnä dig wegen des Glü cks und gnä dig wegen unseres Leidens auf uns sehen, – nicht etwa mitleidig! Denn das Mitleiden gilt als verä chtlich und einer starken, furchtbaren Seele unwü rdig; – aber gnä dig, weil sie dadurch ergö tzt und guter Dinge werden: denn der Grausame geniesst den hö chsten Kitzel des Machtgefü hls. So kommt in den Begriff des» sittlichsten Menschen «der Gemeinde die Tugend des hä ufigen Leidens, der Entbehrung, der harten Lebensweise, der grausamen Kasteiung, – nicht, um es wieder und wieder zu sagen, als Mittel der Zucht, der Selbstbeherrschung, des Verlangens nach individuellem Glü ck, – sondern als eine Tugend, welche der Gemeinde bei den bö sen Gö ttern einen guten Geruch macht und wie ein bestä ndiges Versö hnungsopfer auf dem Altare zu ihnen empordampft. Alle jene geistigen Fü hrer der Vö lker, welche in dem trä gen fruchtbaren Schlamm ihrer Sitten Etwas zu bewegen vermochten, haben ausser dem Wahnsinn auch die freiwillige Marter nö thig gehabt, um Glauben zu finden – und zumeist und zuerst, wie immer, den Glauben an sich selber! Je mehr gerade ihr Geist auf neuen Bahnen gieng und folglich von Gewissensbissen und Ä ngsten gequä lt wurde, um so grausamer wü theten sie gegen das eigene Fleisch, das eigene Gelü ste und die eigene Gesundheit, – wie um der Gottheit einen Ersatz an Lust zu bieten, wenn sie vielleicht um der vernachlä ssigten und bekä mpften Gebrä uche und der neuen Ziele willen erbittert sein sollte. Glaube man nicht zu schnell, dass wir jetzt von einer solchen Logik des Gefü hls uns vö llig befreit hä tten! Die heldenhaftesten Seelen mö gen sich darü ber mit sich befragen. Jeder kleinste Schritt auf dem Felde des freien Denkens, des persö nlich gestalteten Lebens ist von jeher mit geistigen und kö rperlichen Martern erstritten worden: nicht nur das Vorwä rts‑ Schreiten, nein! vor Allem das Schreiten, die Bewegung, die Verä nderung hat ihre unzä hligen Mä rtyrer nö thig gehabt, durch die langen pfadsuchenden und grundlegenden Jahrtausende hindurch, an welche man freilich nicht denkt, wenn man, wie gewohnt, von» Weltgeschichte«, von diesem lä cherlich kleinen Ausschnitt des menschlichen Daseins redet; und selbst in dieser sogenannten Weltgeschichte, welche im Grunde ein Lä rm um die letzten Neuigkeiten ist, giebt es kein eigentlich wichtigeres Thema, als die uralte Tragö die von den Mä rtyrern, die den Sumpf bewegen wollten. Nichts ist theurer erkauft, als das Wenige von menschlicher Vernunft und vom Gefü hle der Freiheit, welches' jetzt unseren Stolz ausmacht. Dieser Stolz aber ist es, dessentwegen es uns jetzt fast unmö glich wird, mit jenen ungeheuren Zeitstrecken der» Sittlichkeit der Sitte«, zu empfinden, welche der» Weltgeschichte «vorausliegen, als die wirkliche und entscheidende Hauptgeschichte, welche den Charakter der Menschheit festgestellt hat: wo das Leiden als Tugend, die Grausamkeit als Tugend, die Verstellung als Tugend, die Rache als Tugend, die Verleugnung der Vernunft als Tugend, dagegen das Wohlbefinden als Gefahr, die Wissbegier als Gefahr, der Friede als Gefahr, das Mitleiden als Gefahr, das Bemitleidetwerden als Schimpf, die Arbeit als Schimpf, der Wahnsinn als Gö ttlichkeit, die Verä nderung als das Unsittliche und Verderbenschwangere in Geltung war! – Ihr meint, es habe sich Alles diess geä ndert, und die Menschheit mü sse somit ihren Charakter vertauscht haben? Oh, ihr Menschenkenner, lernt euch besser kennen!

 

19.

 

Sittlichkeit und Verdummung. – Die Sitte reprä sentirt die Erfahrungen frü herer Menschen ü ber das vermeintlich Nü tzliche und Schä dliche, – aber das Gefü hl fü r die Sitte (Sittlichkeit) bezieht sich nicht auf jene Erfahrungen als solche, sondern auf das Alter, die Heiligkeit, die Indiscutabilitä t der Sitte. Und damit wirkt diess Gefü hl dem entgegen, dass man neue Erfahrungen macht und die Sitten corrigirt: das heisst, die Sittlichkeit wirkt der Entstehung neuer und besserer Sitten entgegen: sie verdummt.

 

20.

 

Freithä ter und Freidenker. – Die Freithä ter sind im Nachtheil gegen die Freidenker, weil die Menschen sichtbarer an den Folgen von Thaten, als von Gedanken leiden. Bedenkt man aber, dass diese wie jene ihre Befriedigung suchen und dass den Freidenkern schon ein Ausdenken und Aussprechen von verbotenen Dingen diese Befriedigung giebt, so ist in Ansehung der Motive Alles eins: und in Ansehung der Folgen wird der Ausschlag sogar gegen den Freidenker sein, vorausgesetzt, dass man nicht nach der nä chsten und grö bsten Sichtbarkeit – das heisst: nicht wie alle Welt urtheilt. Man hat viel von der Verunglimpfung wieder zurü ckzunehmen, mit der die Menschen alle Jene bedacht haben, welche durch die That den Bann einer Sitte durchbrachen, – im Allgemeinen heissen sie Verbrecher. Jeder, der das bestehende Sittengesetz umwarf, hat bisher zuerst immer als schlechter Mensch gegolten: aber wenn man, wie es vorkam, hinterher es nicht wieder aufzurichten vermochte und sich damit zufrieden gab, so verä nderte sich das Prä dicat allmä hlich; – die Geschichte handelt fast nur von diesen schlechten Menschen, welche spä ter gutgesprochen worden sind!

 

21.

 

«Erfü llung des Gesetzes. « – Im Falle, dass die Befolgung einer moralischen Vorschrift doch ein anderes Resultat ergiebt, als versprochen und erwartet wird, und den Sittlichen nicht das verheissene Glü ck, sondern wider Erwarten Unglü ck und Elend trifft, so bleibt immer die Ausflucht des Gewissenhaften und Ä ngstlichen ü brig: »es ist Etwas in der Ausfü hrung versehen worden. «Im allerschlimmsten Falle wird eine tief leidende und zerdrü ckte Menschheit sogar decretiren» es ist unmö glich, die Vorschrift gut auszufü hren, wir sind durch und durch schwach und sü ndhaft und der Moralitä t im innersten Grunde nicht fä hig, folglich haben wir auch keinen Anspruch auf Glü ck und Gelingen. Die moralischen Vorschriften und Verheissungen sind fü r bessere Wesen, als wir sind, gegeben. »

 

22.

 

Werke und Glaube. – Immer noch wird durch die protestantischen Lehrer jener Grundirrthum fortgepflanzt: dass es nur auf den Glauben ankomme und dass aus dem Glauben die Werke nothwendig folgen mü ssen. Diess ist schlechterdings nicht wahr, aber klingt so verfü hrerisch, dass es schon andere Intelligenzen, als die Luther's (nä mlich die des Sokrates und Plato) bethö rt hat: obwohl der Augenschein aller Erfahrungen aller Tage dagegen spricht. Das zuversichtlichste Wissen oder Glauben kann nicht die Kraft zur That, noch die Gewandtheit zur That geben, es kann nicht die Ü bung jenes feinen, vieltheiligen Mechanismus ersetzen, welche vorhergegangen sein muss, damit irgend Etwas aus einer Vorstellung sich in Action verwandeln kö nne. Vor Allem und zuerst die Werke! Das heisst Ü bung, Ü bung, Ü bung! Der dazu gehö rige» Glaube «wird sich schon einstellen, – dessen seid versichert!

 

23.

 

Worin wir am feinsten sind. – Dadurch, dass man sich viele Tausend Jahre lang die Sachen (Natur, Werkzeuge, Eigenthum jeder Art) ebenfalls belebt und beseelt dachte, mit der Kraft zu schaden und sich den menschlichen Absichten zu entziehen, ist das Gefü hl der Ohnmacht unter den Menschen viel grö sser und viel hä ufiger gewesen, als es hä tte sein mü ssen: man hatte ja nö thig, sich der Sachen ebenso zu versichern, wie der Menschen und Thiere, durch Gewalt, Zwang, Schmeichelei, Verträ ge, Opfer, – und hier ist der Ursprung der meisten aberglä ubischen Gebrä uche, das heisst eines erheblichen, vielleicht ü berwiegenden und trotzdem vergeudeten und unnü tzen Bestandtheils aller von Menschen bisher geü bten Thä tigkeit! – Aber weil das Gefü hl der Ohnmacht und der Furcht so stark und so lange fast fortwä hrend in Reizung war, hat sich das Gefü hl der Macht in solcher Feinheit entwickelt, dass es jetzt hierin der Mensch mit der delicatesten Goldwage aufnehmen kann. Es ist sein stä rkster Hang geworden; die Mittel, welche man entdeckte, sich dieses Gefü hl zu schaffen, sind beinahe die Geschichte der Cultur.



  

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