Хелпикс

Главная

Контакты

Случайная статья





Fünftes Abenteuer



Merkwü rdiger Prozeß und ferneres weises, verstä ndiges Benehmen des Herrn Geheimen Hofrates Knarrpanti. Gedanken junger dichterischer Enthusiasten und schriftstellerischer Damen. Peregrinus' Betrachtungen ü ber sein Leben und Meister Flohs Gelehrsamkeit und Verstand. Seltene Tugend und Standhaftigkeit des Herrn Tyß. Unerwarteter Ausgang eines bedrohlichen tragischen Auftritts.

Der geneigte Leser erinnert sich, daß die Papiere des Herrn Peregrinus Tyß in Beschlag genommen wurden, um einer Tat, die nicht geschehen, nä her auf die Spur zu kommen. Beide, der Abgeordnete des Rats und der Geheime Hofrat Knarrpanti, hatten jede Schrift, jeden Brief, ja jedes Zettelchen, das vorgefunden (Wasch- und Kü chenzettel nicht ausgenommen) auf das genaueste durchgelesen, waren aber nun rü cksichts des Resultats ihrer Erforschung vö llig verschiedener Meinung.

Der Abgeordnete versicherte nä mlich, daß die Papiere auch nicht ein Wort enthielten, welches Bezug auf ein Verbrechen haben kö nne, wie es Peregrinus der Anklage nach begangen haben solle. Des Herrn Geheimen Hofrats Knarrpanti spä herisches Falkenauge hatte dagegen gar vieles in den Schriften des Herrn Peregrinus Tyß entdeckt, das ihn als einen hö chst gefä hrlichen Menschen darstellte. Peregrinus hatte sonst in seinen frü heren Jü nglingsjahren ein Tagebuch gehalten; in diesem Tagebuch gab es nun aber eine Menge verfä nglicher Stellen, die rü cksichts der Entfü hrung junger Frauenzimmer nicht allein auf seine Gesinnung ein sehr nachteiliges Licht warfen, sondern ganz klar nachwiesen, daß er dies Verbrechen schon ö fters begangen. —

So hieß es: »Es ist doch was Hohes, Herrliches um diese Entfü hrung! « — Ferner: »Doch hab' ich von allen die schö nste entfü hrt! « — Ferner: »Entfü hrt habe ich ihm diese Mariane, diese Philine, diese Mignon! « — Ferner: »Ich liebe diese Entfü hrungen. « — Ferner: »Entfü hrt sollte, muß te Julia werden, und es geschah wirklich, da ich sie auf einem einsamen Spaziergange im Walde von Vermummten ü berfallen und fortschleppen ließ. «

Auß er diesen ganz entscheidenden Stellen im Tagebuche fand sich auch noch der Brief eines Freundes vor, in dem es verfä nglicherweise hieß: »so mö cht'ich dich bitten, entfü hre ihm Friederiken, wo und wie du nur kannst. « Alle die erwä hnten Worte nebst hundert andern Phrasen, waren nur die Wö rter: Entfü hrung, entfü hren, entfü hrt darin enthalten, hatte der weise Knarrpanti nicht allein mit Rotstift dick unterstrichen, sondern noch auf einem besondern Blatte zusammengestellt, welches sich sehr hü bsch ausnahm und mit welcher Arbeit er ganz besonders zufrieden schien.

»Sehen Sie wohl«, sprach Knarrpanti zu dem Abgeordneten des Rats, »sehen Sie wohl, wertester Herr Kollege, habe ich es nicht gesagt? Der Peregrinus Tyß ist ein verruchter abscheulicher Mensch, ein wahrer Don Juan. Wer weiß, wo die unglü cklichen Schlachtopfer seiner Lü ste hingekommen sind, die Mariane, die Philine und wie sie alle heiß en mö gen. Es war die hö chste Zeit, daß dem Unwesen gesteuert wurde, sonst hä tte der gefä hrliche Mensch durch seine entfü hrerischen Umtriebe die gute Stadt Frankfurt in tausend Leid versetzen kö nnen. Was hat der Mensch schon nach seinen eignen Gestä ndnissen fü r Verbrechen begangen! — Sehen Sie diese Stelle, bester Herr Kollege, und urteilen Sie selbst, wie der Peregrinus das Entsetzliche im Schilde fü hrt. «

Die Stelle in dem Tagebuch, auf welche der weise Geheime Hofrat Knarrpanti den Abgeordneten des Rats aufmerksam machte, lautete: »Heute war ich leider mordfaul. « — Die Silbe mord war dreimal unterstrichen, und Knarrpanti meinte, ob jemand wohl verbrecherischere Gesinnungen an den Tag legen kö nne, als wenn er bedauere, heute keinen Mord verü bt zu haben!

Der Abgeordnete wiederholte seine Meinung, daß in den Papieren des Herrn Peregrinus Tyß auch nicht die leiseste Spur eines Verbrechens merkbar geworden. Knarrpanti schü ttelte unglä ubig den Kopf, und der Abgeordnete bat ihn, doch noch einmal jene Stellen, die er selbst als verdä chtig ausgezogen, anzuhö ren, wiewohl im bessern Zusammenhange.

Der geneigte Leser wird sich sehr bald von Knarrpantis sublimer Schlauheit ganz ü berzeugen. —

Der Abgeordnete schlug das verfä ngliche Tagebuch auf und las: »Heute sah ich im Theater Mozarts ›Entfü hrung aus dem Serail‹ zum zwanzigstenmal mit demselben Entzü cken. Es ist doch was Hohes, Herrliches um diese Entfü hrung. « Ferner: »Die Blumen, sie konnten mir alle gefallen, doch hab' ich von allen die schö nste entfü hrt. « Ferner: »Entfü hrt habe ich ihm diese Mariane, diese Philine, diese Mignon, denn zu sehr vertiefte er sich in diese Gestaltungen, fantasierte von dem alten Hartner und zankte mit Jarno. ›Wilhelm Meister‹ ist kein Buch fü r solche, die eben aus schwerer Nervenkrankheit erstehen. « Ferner: »Jü ngers ›Entfü hrung‹ ist ein artiges Lustspiel. Ich liebe diese Entfü hrungen, weil sie der Intrige ein besonderes Leben einhauchen. « Ferner: »Der zu wenig ü berdachte Plan brachte mich gewaltig in die Enge. Entfü hrt sollte, muß te Julia werden, und es geschah wirklich, da ich sie auf einem einsamen Spaziergange im Walde von Vermummten ü berfallen und fortschleppen ließ. Ich freute mich ungemein ü ber diese neue Idee, die ich breit genug ausfü hrte. Ü berhaupt war dies Trauerspiel ein gar drolliges Machwerk des begeisterten Knaben, und es tut mir leid, daß ich es ins Feuer geworfen. « — Der Brief lautete: »So oft siehst Du Friederiken in der Gesellschaft, Du Glü cklicher! Wahrscheinlich lä ß t Moritz niemanden heran und nimmt ihre ganze Aufmerksamkeit in Beschlag. Wä rst Du nicht so blö de, so weiberscheu, so mö cht' ich Dich bitten, entfü hre ihm Friederiken, wo und wie Du nur kannst. «

Knarrpanti blieb dabei, daß selbst der Zusammenhang die Sache nicht bessere, da es eben arglistige Schlauheit der Verbrecher sei, solche Ä uß erungen so zu verhü llen, daß sie auf den ersten Blick fü r ganz indifferent, fü r ganz unschuldig gelten kö nnten. Als besonderen Beweis solcher Schlauheit machte der tiefsinnige Knarrpanti den Abgeordneten auf einen Vers aufmerksam, der in Peregrinus' Papieren vorkam und worin von einer endlosen Fü hrung des Schicksals die Rede war. Nicht wenig tat sich Knarrpanti auf die Sagazitä t zugute, mir der er sogleich herausgefunden, das das Wort Entfü hrung in jenem Verse getrennt worden, um es der Aufmerksamkeit und dem Verdacht zu entziehen. —

Der Rat wollte immer noch nicht auf ein weiteres Verfahren wider den Angeklagten Peregrinus Tyß eingehen, und die Rechtsverstä ndigen bedienten sich eines Ausdrucks, der schon deshalb hier stehen darf, weil er sich in dem Mä rchen vom Meister Floh wunderlich ausnimmt, das Wunderliche aber, darf das Wunderbare der eigentliche Schmuck des Mä rchens genannt werden, doch als ein angenehmer Schnö rkel nicht zu verwerfen ist. Sie sagten (nä mlich die Rechtsverstä ndigen), es fehle gä nzlich an einem Corpus delicti, der weise Rat Knarrpanti blieb aber fest dabei stehen, daß ihn das delictum den Henker was kü mmere, wenn er nur ein Corpus in die Faust bekä me, und das Corpus sei der gefä hrliche Entfü hrer und Mö rder, Herr Peregrinus Tyß. —

Der Herausgeber bittet den geneigten nicht rechtsverstä ndigen Leser, vorzü glich aber jede schö ne Leserin, sich diese Stelle von irgendeinem jungen Rechtsgelehrten erklä ren zu lassen. Besagter Rechtsgelehrter wird sich augenblicklich in die Brust werfen und beginnen: »In der Rechtssprache heiß t« usw.

Bloß den Vorfall in der Nacht, von dem die Zeugen gesprochen, hielt der Abgeordnete fü r einen Gegenstand, worü ber Herr Peregrinus Tyß wohl vernommen werden mü sse.

Peregrinus geriet in nicht geringe Verlegenheit, als er von dem Abgeordneten ü ber den Hergang der Sache befragt wurde. Er fü hlte, daß die ganze Erzä hlung, weiche er in keinem Umstande von der Wahrheit ab, eben deshalb den Stempel der Lü ge, wenigstens der hö chsten Unwahrscheinlichkeit tragen mü sse. Fü r ratsam fand er es daher, ganz zu schweigen und sich damit zu schü tzen, daß, sobald kein wirkliches bestimmtes Verbrechen feststehe, dessen man ihn beschuldige, er nicht nö tig zu haben glaube, ü ber einzelne Begebenheiten in seinem Leben Rede zu stehen. Knarrpanti f rohlockte ü ber diese Erklä rung des Angeklagten, durch die er seinen ganzen Verdacht bestä tigt fand. Er ä uß erte dem Abgeordneten ziemlich unverhohlen, daß er das Ding nicht recht anzugreifen wisse, und der Abgeordnete war hell und verstä ndig genug, einzusehen, daß eine Vernehmung, die Knarrpanti selbst besorgen wollte, dem Peregrinus keinen Nachteil bringen, sondern vielmehr der Sache den Ausschlag zu seinem Vorteil geben konnte.

Der scharfsinnige Knarrpanti hatte ü ber hundert Fragen in Bereitschaft, mit denen er dem Peregrinus zu Leibe ging und die in der Tat oft nicht leicht waren zu beantworten. Vorzü glich waren sie dahin gerichtet, zu erforschen, was Peregrinus sowohl im allgemeinen sein ganzes Leben hindurch als auch bei diesem, jenem besondern Anlaß, wie z. B. bei dem Aufschreiben der verdä chtigen Worte in seinen Papieren, gedacht habe.

Das Denken, meinte Knarrpanti, sei an und vor sich selbst schon eine gefä hrliche Operation und wü rde bei gefä hrlichen Menschen eben desto gefä hrlicher. — Ferner gab es solche verfä ngliche Fragen, wie z. B. wer der ä ltliche Mann im blauen Ü berrock und kurz geschnittenen Haaren gewesen sei, mit dem er sich am vierundzwanzigsten Mä rz des vergangenen Jahres mittags an der Wirtstafel ü ber die beste Art, den Rheinlachs zu bereiten, verstä ndigt habe? Ferner: ob er nicht selbst einsehe, daß all die geheimnisvollen Stellen in seinen Papieren mit Recht den Verdacht erweckten, daß das, was er niederzuschreiben unterlassen, noch viel Verdä chtigeres, ja ein vollkommenes Zugestä ndnis der Tat hä tte enthalten kö nnen?

Diese Art der Untersuchung, ja der Geheime Hofrat Knarrpanti selbst kam dem Peregrinus so seltsam vor, daß er begierig war, die Gedanken des spitzfindigen Schlaukopfs zu erkennen.

Er schnappte mit dem Daumen, und schnell setzte ihm der gehorsame Meister Floh das mikroskopische Glas in die Pupille.

Knarrpantis Gedanken lauteten ungefä hr: »Ich glaube selbst gar nicht, daß der junge Mann unsre Prinzessin, die schon vor mehreren Jahren mit einem landstreicherischen Komö dianten durchgegangen ist, entfü hrt hat, ja entfü hrt haben kann. Aber ich durfte die Gelegenheit nicht versä umen, zu meinem eignen Besten einen groß en Rumor zu machen. Mein kleiner Herr fing an gleichgü ltig gegen mich zu werden, und am Hofe nannte man mich einen langweiligen Trä umer, ja, man fand mich ö fters albern und fade, da doch keiner mir an Geist und Geschmack ü berlegen war, keiner von allen den kleinen Dienst, durch den man sich eben einschmeichelt bei dem Herrn, so gut verstand als ich. Half ich nicht selbst dem Kammerdiener des Fü rsten beim Stiefelputzen? Da kam ja die Entfü hrungsgeschichte wie eine Wohltat des Himmels. Mit der Nachricht, daß ich der entflohenen Prinzessin auf die Spur gekommen, erhob ich mich plö tzlich wieder zu dem Ansehen, das ich beinahe ganz verloren. Man findet mich wieder verstä ndig, weise, gewandt, und vorzü glich dem Herrn so treu ergeben, daß ich eine Stü tze des Staats zu nennen, auf der alles Wohl beruht.

Es wird, es kann aus der Sache gar nichts herauskommen, da die wirklich geschehene Entfü hrung dem Menschen nicht nachzuweisen ist, aber das tut gar nichts zur Sache. Eben deshalb will ich den jungen Mann recht arg quä len mit Kreuz- und Querfragen, soviel ich es nur vermag. Denn je mehr ich dies tue, je hö her wird mein Interesse fü r die Sache, mein reger Eifer fü r das Wohl meines Herrn gepriesen. Ich muß es nur dahin bringen, daß ich den jungen Mann ungeduldig mache und einige schnippische Antworten erpresse. Die streiche ich denn an mit einem tü chtigen Rotstift, begleite sie auch wohl mit einigen Bemerkungen, und ehe man sich's versieht, steht der Mann da in einem zweideutigen Licht, und aus dem Ganzen erhebt sich ein gehä ssiger Geist, der ihm Nachteil bringt und sogar solche unbefangene ruhige Leute, wie der Herr Abgeordnete da, wider ihn einnimmt. Gepriesen sei die Kunst, der gleichgü ltigsten Sache einen Anstrich von gehä ssiger Bedeutsamkeit zu geben. Es ist eine Gabe, die mir die Natur verlieh und vermö ge der ich mir meine Feinde vom Halse schaffe und selbst im besten Wohlsein bleibe. Ich muß lachen, daß der Rat wunder glaubt, wieviel mir an der wirklichen Ermittlung der Wahrheit gelegen ist, da ich doch nur mich selbst im Auge habe und die ganze Sache als ein Mittel betrachte, mich bei dem Herrn wichtig zu machen und so viel Beifall und Geld zu erobern als nur mö glich. Kommt auch nichts heraus, so sagt doch keiner, daß meine Bemü hungen unnü tz gewesen sind, es heiß t vielmehr, daß ich wohl recht hatte und durch die getroffenen Maß regeln wenigstens verhinderte, daß der schelmische Peregrinus Tyß die bereits entfü hrte Prinzessin hinterher noch wirklich entfü hrte. «Da Peregrinus auf diese Art die Gedanken des sublimen Hofrats durchschaute, so war es natü rlich, daß er sich in gehö riger Fassung erhielt und statt, wie Knarrpanti wollte, unruhig zu werden, durch gar geschickte Antworten Knarrpantis Scharfsinn zuschanden machte. Der Abgeordnete des Rats schien seine Freude daran zu haben. Diesem erzä hlte aber Peregrinus, nachdem Knarrpanti sein endloses Verhö r hauptsä chlich aus Mangel an Atem geschlossen, unaufgefordert mit wenigen Worten, daß die junge Dame, die er in jener Christnacht auf ihr ausdrü ckliches Verlangen in sein Haus getragen, niemand anders sei als die Nichte des optischen Kü nstlers Leuwenhoek, namens Dö rtje Elverdink, und daß diese sich jetzt bei ihrem Paten, dem Herrn Swammer, aufhalte, der bei ihm im Hause zur Miete wohne.

Man fand diese Angaben richtig, und der merkwü rdige Entfü hrungsprozeß war beendigt.

Knarrpanti drang zwar noch auf fernere Vernehmungen und las im Rat sein scharfsinniges Verhö rsprotokoll vor, dies Meisterstü ck erregte aber ein allgemeines schallendes Gelä chter. Man fand es denn auch sehr ratsam, daß der Herr Geheime Hofrat Knarrpanti Frankfurt verließ e und als Resultat seiner Bemü hungen, als Beweis seiner Sagazitä t, seines regen Diensteifers das bewundrungswü rdige Aktenstü ck seinem Herrn selbst ü berbringe. Der seltsame Entfü hrungsprozeß wurde zum Stadtgesprä ch, und der wü rdige Knarrpanti muß te zu seinem nicht geringen Verdruß bemerken, daß die Leute sich mit allen Zeichen des Ekels und Abscheus die Nasen zuhielten, wenn er vorü berging, und ihre Plä tze verließ en, wenn er sich an die Wirtstafel setzen wollte. Bald machte er sich fort aus der Stadt. So muß te aber Knarrpanti das Feld mit Schimpf und Schande rä umen, auf dem er Lorbeern zu sammeln gehofft hatte.

Das, was hier hintereinander fort erzä hlt worden war, hatte aber den Zeitraum von mehreren Tagen ausgefü llt, denn man mag nicht denken, daß Knarrpanti in geringer Zeit einen ziemlichen Folioband zusammenzuschreiben vermochte. Einem solchen Bande glich aber das merkwü rdige Verhö rsprotokoll. Knarrpantis tä gliche Quä lerei, sein albernes anmaß endes Betragen erregte in Peregrinus tiefen Unmut, der aber noch merklich durch die Ungewiß heit vermehrt wurde, in der er ü ber das Schicksal der Schö nsten schwebte.

Mit Blitzesschnelle hatte, wie es der geneigte Leser am Schlusse des vierten Abenteuers erfahren hat, George Pepusch die Kleine aus des verliebten Peregrinus Armen entfü hrt und diesen zurü ckgelassen, starr vor Erstaunen und Schreck.

Als Peregrinus, endlich zur Besinnung gekommen, aufsprang und dem rä uberischen Freunde nachsetzte, war alles ö de und still im Hause. Auf wiederholtes starkes Rufen pantoffelte die alte Aline aus dem entferntesten Zimmer heran und versicherte, von dem ganzen Vorfall auch nicht das mindeste bemerkt zu haben.

Peregrinus wollte ü ber Dö rtjes Verlust beinahe auß er sich geraten. Meister Floh ließ sich aber vernehmen mit trö stenden Worten. »Ihr wiß t«, sprach er mit einem Ton, der dem Hoffnungslosesten Zutrauen einflö ß en muß te, »Ihr wiß t ja noch garnicht, teurer Herr Peregrinus Tyß, ob die schö ne Dö rtje Elverdink Euer Haus wirklich verlassen hat. Soviel ich mich auf solche Dinge verstehe, ist sie gar nicht weit; mir ist's, als wittere ich ihre Nä he. Doch wollt Ihr meinem freundschaftlichen Rat vertrauen und ihn befolgen, so ü berlaß t die schö ne Dö rtje ihrem Schicksal. Glaubt mir, die Kleine ist ein wetterwendisches Ding; mag es sein, daß es, wie Ihr mir gesagt habt, Euch jetzt wirklich gut geworden ist, wie lange wird es dauern, und sie versetzt Euch in solch Trü bsal und Leid, daß Ihr Gefahr lauft, darü ber den Verstand zu verlieren wie die Distel Zeherit. Noch einmal sage ich es Euch, gebt Euer einsames Leben auf. Ihr werdet Euch besser dabei befinden. Was fü r Mä dchen habt Ihr denn schon kennen gelernt, daß Ihr die Dö rtje fü r die schö nste achtet; welchem Weibe habt Ihr Euch denn schon genä hert mit freundlichen Liebesworten, daß Ihr glaubt, nur Dö rtje kö nne Euch lieben. Geht, geht, Peregrinus, die Erfahrung wird Euch eines Bessern ü berzeugen. Ihr seid ein ganz hü bscher stattlicher Mann, und ich mü ß te nicht so verstä ndig und scharfsinnig sein, als es der Meister Floh wirklich ist, wenn ich nicht voraussehen sollte, daß Euch das Glü ck der Liebe noch lachen wird auf eine ganz andere Weise, als Ihr es wohl jetzt vermutet. « —

Peregrinus hatte dadurch, daß er an ö ffentliche Ö rter ging, bereits die Bahn gebrochen, und es wurde ihm nun weniger schwer, Gesellschaften zu besuchen, denen er sich sonst entzogen. Meister Floh tat ihm dabei mit dem mikroskopischen Glase vortreffliche Dienste, und Peregrinus soll wä hrend der Zeit ein Tagebuch gehalten und die wunderlichsten ergö tzlichsten Kontraste zwischen Worten und Gedanken, wie sie ihm tä glich aufstieß en, aufgezeichnet haben. Vielleicht findet der Herausgeber des seltsamen Mä rchens, Meister Floh geheiß en, kü nftig Gelegenheit, manches weiterer Mitteilung Wü rdige aus diesem Tagebuch ans Licht zu fö rdern; hier wü rde es nur die Geschichte aufhalten und darum dem geneigten Leser eben nicht willkommen sein. So viel kann gesagt werden, daß manche Redensarten mit den dazugehö renden Gedanken stereotypisch wurden, wie z. B. »Ich erbitte mir Ihren gü tigen Rat«, lautet in Gedanken: »Er ist albern genug, zu glauben, daß ich wirklich in einer Sache, die lä ngst beschlossen, seinen Rat verlange, und das kitzelt ihn! « — »Ich vertraue Ihnen ganz! « — »Ich weiß ja lä ngst, daß du ein Spitzbube bist« usw. Endlich darf auch noch bemerkt werden, daß manche Leute doch den Peregrinus mit seinen mikroskopischen Beobachtungen in groß e Verlegenheit setzten. Das waren nä mlich die jungen Mä nner, die ü ber alles in den hö chsten Enthusiasmus geraten und sich in einen brausenden Strom der prä chtigsten Redensarten ergieß en konnten. Unter diesen schienen am tiefsten und herrlichsten junge Dichter zu sprechen, die von lauter Fantasie und Genialitä t strotzten und vorzü glich von Damen viel Anbetung erleiden muß ten. Ihnen reihten sich schriftstellerische Frauen an, die alle Tiefen des Seins hienieden sowie alle echt philosophische, das Innerste durchdringende Ansichten der Verhä ltnisse des sozialen Lebens, wie man zu sagen pflegt, recht am Schnü rchen hatten und mit prä chtigen Worten herzusagen wuß ten wie eine Festtagspredigt. — Kam es dem Peregrinus wunderbar vor, daß die Silberfaden aus Gamahehs Gehirn herausrankten in ein unentdeckbares Etwas, so erstaunte er nicht weniger darü ber, was er im Gehirn der erwä hnten Leute wahrnahm. Er sah zwar das seltsame Geflecht von Adern und Nerven, bemerkte aber zugleich, daß diese, gerade wenn die Leute ü ber Kunst und Wissenschaft, ü ber die Tendenzen des hö hern Lebens ü berhaupt ganz ausnehmend herrlich sprachen, gar nicht eindrangen in die Tiefe des Gehirns, sondern wieder zurü ckwuchsen, so daß von deutlicher Erkennung der Gedanken gar nicht die Rede sein konnte. Er teilte seine Bemerkung dem Meister Floh mit, der wie gewö hnlich in einer Falte des Halstuchs saß. Meister Floh meinte, daß das, was Peregrinus fü r Gedanken halte, gar keine wä ren, sondern nur Worte, die sich vergeblich mü hten, Gedanken zu werden.

Erlustigte sich nun Herr Peregrinus Tyß in der Gesellschaft auf mannigfache Weise, so ließ auch sein treuer Begleiter, Meister Floh, viel von seinem Ernste nach und bewies sich als ein kleiner schalkischer Lü stling, als ein aimable roué. Keinen schö nen Hals, keinen weiß en Nacken eines Frauenzimmers konnte er nä mlich sehen, ohne bei der ersten Gelegenheit sich aus seinem Schlupfwinkel hervor und auf den einladenden Sitz zu schwingen, wo er jeder Nachstellung gespitzter Finger geschickt zu entgehen wuß te. Dies Manoeuvre umfaß te ein doppeltes Interesse. Einmal fand er selbst seine Lust daran, dann wollte er aber auch Peregrinus' Blicke auf Schö nheiten ziehn, die Dö rtjes Bild verdunkeln sollten. Dies schien aber ganz vergebliche Mü he zu sein, denn keine einzige der Damen, denen sich Peregrinus ohne alle Scheu mit voller Unbefangenheit nä herte, kam ihm so gar hü bsch und anmutig vor, als seine kleine Prinzessin. Weshalb aber auch nun vollends seine Liebe zur Kleinen festhielt, war, daß bei keiner er Worte und Gedanken so zu seinen Gunsten ü bereinstimmend fand als bei ihr. Er glaubte sie nimmermehr lassen zu kö nnen, und erklä rte dies unverhohlen. Meister Floh ä ngstigte sich nicht wenig.

Peregrinus bemerkte eines Tages, daß die alte Aline schalkisch vor sich hinlä chelte, ö fter als sonst Tabak schnupfte, sich rä usperte, undeutliches Zeug murmelte, kurz, in ihrem ganzen Wesen tat wie jemand, der etwas auf dem Herzen hat und es gern los sein mö chte. Dabei erwiderte sie auf alles: »Ja! — man kann das nicht wissen, man muß das abwarten! « — mochten nun diese Redensarten passen oder nicht. »Sage«, rief Peregrinus endlich voll Ungeduld, »sage Sie es nur lieber gleich heraus, Aline, was es wieder gibt, ohne so um mich herumzuschleichen mit geheimnisvollen Mienen. «

»Ach«, rief die Alte, indem sie die dü rren Fä uste zusammenschlug, »ach, das herzige allerliebste Zuckerpü ppchen, das zarte liebe Ding! «

»Wen meint Sie denn«, unterbrach Peregrinus die Alte verdrieß lich.

»Ei«, sprach diese schmunzelnd weiter, »ei, wen sollt ich denn anders meinen als unsere liebe Prinzeß hier unten bei Herrn Swammer, Ihre liebe Braut, Herr Tyß. «

»Weib«, fuhr Peregrinus auf, »unglü ckliches Weib, sie ist hier, hier im Hause, und das sagst du mir erst jetzt? «

»Wo sollte«, erwiderte die Alte, ohne im mindesten aus ihrer behaglichen Ruhe zu kommen, »wo sollte die Prinzeß auch wohl anders sein als hier, wo sie ihre Mutter gefunden hat. «

»Wie«, rief Peregrinus, »was sagt Sie, Aline? «

»Ja«, sprach die Alte, indem sie den Kopf erhob, »ja, Aline, das ist mein rechter Name, und wer weiß, was in kurzer Zeit, vor Ihrer Hochzeit, noch alles an das Tageslicht kommen wird. «

Ohne sich an Peregrinus' Ungeduld, der sie bei allen Engeln und Teufeln beschwor, doch nur zu reden, zu erzä hlen, auch nur im mindesten zu kehren, nahm die Alte gemä chlich Platz in einem Lehnstuhl, zog die Dose hervor, nahm eine groß e Prise und bewies dann dem Peregrinus sehr umstä ndlich mit vielen Worten, daß es keinen grö ß ern, schä dlicheren Fehler gä be als die Ungeduld.

»Ruhe«. so sprach sie. »Ruhe. mein Sö hnchen. ist dir vor allen Dingen nö tig, denn sonst lä ufst du Gefahr, alles zu verlieren in dem Augenblick, als du es gewonnen zu haben glaubst. Ehe du ein Wö rtchen von mir hö rst, muß t du dich dort still hinsetzen wie ein artiges Kind und mich beileibe nicht in meiner Erzä hlung unterbrechen. «

Was blieb dem Peregrinus ü brig, als der Alten zu gehorchen, die, sowie Peregrinus Platz genommen, Dinge vorbrachte, die wunderlich und seltsam genug anzuhö ren waren.

So wie die Alte erzä hlte, hatten die beiden Herren, nä mlich Swammerdamm und Leuwenhoek, sich in dem Zimmer noch recht tü chtig herumgebalgt und dabei entsetzlich gelä rmt und getobt. Dann war es zwar stille geworden, ein dumpfes Ä chzen hatte indessen die Alte befü rchten lassen, daß einer von beiden auf den Tod verwundet. Als nun aber die Alte neugierig durch das Schlü sselloch kuckte, gewahrte sie ganz etwas anderes, als sie geglaubt. Swammerdamm und Leuwenhoek hatten den George Pepusch erfaß t und strichen und drü ckten ihn mit ihren Fä usten so, daß er immer dü nner und dü nner wurde, worü ber er denn so ä chzte, wie es die Alte vernommen. Zuletzt, als Pepusch so dü nn geworden wie ein Distelstengel, versuchten sie, ihn durch das Schlü sselloch zu drü cken. Der arme Pepusch hing schon mit dem halben Leibe heraus auf den Flur, als die Alte entsetzt von dannen floh. Bald darauf vernahm die Alte ein lautes schallendes Gelä chter und gewahrte, wie Pepusch in seiner natü rlichen Gestalt von den beiden Magiern ganz friedlich zum Hause hinausgefü hrt wurde. In der Tü re des Zimmers stand die schö ne Dö rtje und winkte die Alte hinein. Sie wollte sich putzen und hatte dabei die Hü lfe der Alten nö tig.

Die Alte konnte gar nicht genug von der groß en Menge Kleider reden, die die Kleine aus allerlei Schrä nken herbeigeholt und ihr gezeigt und von denen eins immer reicher und prä chtiger gewesen als das andere. Dann versicherte die Alte auch, daß wohl nur eine indische Prinzessin solch Geschmeide besitzen kö nne als die Kleine, die Augen tä ten ihr noch weh von dem blendenden Gefunkel.

Die Alte erzä hlte weiter, wie sie mit dem lieben Zuckerkinde wä hrend des Ankleidens dies und jenes gesprochen, wie sie an den seligen Herrn Tyß, an das schö ne Leben, das sonst im Hause gefü hrt worden, gedacht und wie sie zuletzt auf ihre verstorbene Verwandten gekommen.

»Sie wissen«, so sprach die Alte, »Sie wissen, lieber Herr Tyß, daß mir nichts ü ber meine selige Frau Muhme, die Kattundruckerfrau geht. Sie war in Mainz und ich glaube gar, auch in Indien gewesen und konnte franzö sisch beten und singen. Habe ich dieser Frau Muhme den unchristlichen Namen Aline zu verdanken, so will ich ihr das gern im Grabe verzeihen, da ich, was die feine Lebensart, die Manierlichkeit, den Verstand, die Worte hü bsch zu setzen, allein von ihr profitiert habe. Als ich nun recht viel von der Frau Muhme erzä hlte, fragte die kleine Prinzessin nach meinen Eltern, Groß eltern und immer so weiter und weiter in die Familie hinein. Ich schü ttete mein Herz aus, ich sprach ganz ohne Rü ckhalt davon, daß meine Mutter beinahe ebenso schö n gewesen sei als ich, wiewohl ich sie in Ansehung der Nase ü bertreffe, die vom Vater abstamme und ü berhaupt nach der Form in der Familie gebrä uchlich sei, schon seit Menschengedenken. Da kam ich denn auch auf die Kirchweihe zu reden, als ich den Deutschen tanzte mit dem Sergeanten Hä berpiep und die himmelblauen Strü mpfe angezogen hatte mit den roten Zwickeln. — Nun! lieber Gott, wir sind alle schwache, sü ndige Menschen. — Doch, Herr Tyß, Sie sollten nun selbst gesehen haben, wie die kleine Prinzeß, die erst gekickert und gelacht hatte, daß es eine Lust war, immer stiller und stiller wurde und mich anstarrte mit solchen seltsamen Blicken, daß mir in der Tat ganz graulich zumute wurde. — Und, denken Sie sich, Herr Tyß, plö tzlich, ehe ich mir's versehen, liegt die kleine Prinzeß vor mir auf den Knien und will mir durchaus die Hand kü ssen und ruft: ›Ja, du bist es, nun erst erkenne ich dich, ja du bist es selbst! ‹ — Und als ich nun ganz erstaunt frage, was das heiß en soll -«

Die Alte stockte, und als Peregrinus in sie drang, doch nur weiter zu reden, nahm sie ganz ernst und bedä chtig eine groß e Prise und sprach: »Wirst es zeitig genug erfahren, mein Sö hnchen, was sich nun weiter begab. Jedes Ding hat seine Zeit und seine Stunde! «

Peregrinus wollte eben noch schä rfer in die Alte dringen, ihm mehr zu sagen, als diese in ein gellendes Gelä chter ausbrach. Peregrinus mahnte sie mit finstrem Gesicht daran, daß sein Zimmer eben nicht der Ort sei, wo sie mit ihm Narrenspossen treiben dü rfe. Doch die Alte schien, beide Fä uste in die Seiten stemmend, ersticken zu wollen. Die brennend rote Farbe des Antlitzes ging ü ber in ein angenehmes Kirschbraun, und Peregrinus stand im Begriff, der Alten ein volles Glas Wasser ins Gesicht zu gieß en, als sie zu Atem kam und die Sprache wiedergewann. »Soll«, sprach sie, »soll man nicht lachen ü ber das kleine nä rrische Ding. — Nein, solche Liebe gibt es gar nicht mehr auf Erden! — Denken Sie sich, Herr Tyß -« die Alte lachte aufs neue, dem Peregrinus wollte die Geduld ausgehen. Endlich brachte er dann mit Mü he heraus, daß die kleine Prinzeß in dem Wahn stehe, daß er, Herr Peregrinus Tyß, durchaus die Alte heiraten wolle, und daß sie, die Alte, ihr aufs feierlichste versprechen mü ssen, seine Hand auszuschlagen. —

Dem Peregrinus war es, als sei er in ein bö ses Hexenwesen verflochten, und es wurde ihm so unheimlich zumute, daß ihm selbst die alte ehrliche Aline ein gespenstiges Wesen bedü nken wollte, dem er nicht schnell genug entfliehen kö nne.

Die Alte ließ ihn nicht fort, weil sie ihm noch ganz geschwind etwas vertrauen mü sse, was die kleine Prinzeß angehe.

»Es ist«, sprach die Alte vertraulich, »es ist nun gewiß, daß Ihnen, lieber Herr Peregrinus, der schö ne leuchtende Glü cksstern aufgegangen, aber es bleibt nun Ihre Sache, sich den Stern gü nstig zu erhalten. Als ich der Kleinen beteuerte, daß Sie ganz erstaunlich in sie verliebt und weit entfernt wä ren, mich heiraten zu wollen, meinte sie, daß sie sich nicht eher davon ü berzeugen und Ihnen ihre schö ne Hand reichen kö nne, bis Sie ihr einen Wunsch gewä hrt, den sie schon lange im tiefsten Herzen trage. Die Kleine behauptet, Sie hä tten einen kleinen allerliebsten Negerknaben bei sich aufgenommen, der aus ihrem Dienst entlaufen; ich habe dem zwar widersprochen, sie behauptet aber, der Bube sei so winzig klein, daß er in einer Nuß schale wohnen kö nne. Diesen Knaben nun -«

»Daraus wird nichts«, fuhr Peregrinus, der lä ngst wuß te, wo die Alte hinauswollte, heftig auf und verließ stü rmisch Zimmer und Haus.

Es ist eine alte hergebrachte Sitte, daß der Held der Geschichte, ist er von heftiger Gemü tsbewegung ergriffen, hinauslä uft in den Wald oder wenigstens in das einsam gelegene Gebü sch. Die Sitte ist darum gut, weil sie im Leben wirklich herrscht. Hiernach konnt' es sich aber mit Herrn Peregrinus Tyß nicht anders begeben, als daß er von seinem Hause auf dem Roß markt aus so lange in einem Strich fortrannte, bis er die Stadt hinter sich und ein nahegelegenes Gebü sch erreicht hatte. Da es ferner in einer romanhaften Historie keinem Gebü sch an rauschenden Blä ttern, seufzenden, lispelnden Abendlü ften, murmelnden Quellen, geschwä tzigen Bä chen usw. fehlen darf, so ist zu denken, daß Peregrinus das alles an seinem Zufluchtsorte fand. Auf einen bemoosten Stein, der zur Hä lfte im spiegelhellen Bache lag, dessen Wellen krä uselnd um ihn her plä tscherten, ließ sich Peregrinus nieder, mit dem festen Vorsatz, die seltsamen Abenteuer des Augenblicks ü berdenkend, den Ariadnen-Faden zu suchen und zu finden, der ihm den Rü ckweg aus dem Labyrinth der wunderlichsten Rä tsel zeigen sollte.

Es mag wohl sein, daß das in abgemessenen Pausen wiederkehrende Geflü ster der Bü sche, das eintö nige Rauschen der Gewä sser, das gleichmä ß ige Klappern einer entfernten Mü hle bald sich als Grundton gestaltet, nach dem sich die Gedanken zü geln und formen, so daß sie nicht mehr ohne Rhythmus und Takt durcheinanderbrausen, sondern zu deutlicher Melodie werden. So kam denn auch Peregrinus, nachdem er einige Zeit sich an dem anmutigen Orte befunden, zu ruhiger Betrachtung.

»In der Tat«, sprach Peregrinus zu sich selbst, »ein fantastischer Mä rchenschreiber kö nnte nicht tollere, verwirrtere Begebenheiten ersinnen, als ich sie in dem geringen Zeitraum von wenigen Tagen wirklich erlebt habe. — Die Anmut, das Entzü cken, die Liebe selbst kommt dem einsiedlerischen Misogyn entgegen, und ein Blick, ein Wort reicht hin, Flammen in seiner Brust anzufachen, deren Marter er scheute, ohne sie zu kennen! Aber Ort, Zeit, die ganze Erscheinung des fremden, verfü hrerischen Wesens ist so geheimnisvoll, daß ein seltsamer Zauber sichtbarlich einzugreifen scheint, und nicht lange dauert es, so zeigt ein kleines, winziges, sonst verachtetes Tier Wissenschaft, Verstand, ja eine wunderbare magische Kraft. Und dieses Tier spricht von Dingen, die allen gewö hnlichen Begriffen unerfaß lich sind, auf eine Weise, als sei das alles nur das tausendmal wiederholte Gestern und Heute des gemeinen Lebens hinter der Bratenschü ssel und der Weinflasche. «

»Bin ich dem Schwungrad zu nahe gekommen, das finstre unbekannte Mä chte treiben, und hat es mich erfaß t in seinen Schwingungen? Sollte man nicht glauben, man mü sse ü ber derlei Dinge, wenn sie das Leben durchschneiden, den Verstand verlieren? — Und doch befinde ich mich ganz wohl dabei; ja, es fä llt mir gar nicht sonderlich mehr auf, daß ein Flohkö nig sich in meinen Schutz begeben und dafü r ein Geheimnis anvertraut hat, das mir das Geheimnis der innern Gedanken erschließ t und so mich ü ber allen Trug des Lebens erhebt. — Wohin wird, kann aber das alles fü hren? Wie, wenn hinter dieser wunderlichen Maske eines Flohs ein bö ser Dä mon stä ke, der mich verlocken wollte ins Verderben, der darauf ausginge, mir alles Liebesglü ck, das in Dö rtjes Besitz mir erblü hen kö nnte, zu rauben auf schnö de Weise? — Wä r' es nicht besser, sich des kleinen Ungetü ms gleich zu entledigen? «

»Das war«, unterbrach Meister Floh das Selbstgesprä ch des Peregrinus, »das war ein sehr unf einer Gedanke, Herr Peregrinus Tyß! Glaubt Ihr, daß das Geheimnis, welches ich Euch anvertraute, ein geringes ist? Kann Euch dies Geschenk nicht als das entscheidendste Kennzeichen meiner aufrichtigen Freundschaft gelten? Schä mt Euch, daß Ihr so miß trauisch seid! Ihr verwundert Euch ü ber den Verstand, ü ber die Geisteskraft eines winzigen, sonst verachteten Tierchens, und das zeugt, nehmt es mir nicht ü bel, wenigstens von der Beschrä nktheit Eurer wissenschaftlichen Bildung. Ich wollte, Ihr hä ttet, was die denkende, sich willkü rlich bestimmende Seele der Tiere betrifft, den griechischen Philo oder wenigstens des Hieronymi Rorarii Abhandlung: ›quod animalia bruta ratione utantur melius homine‹ oder dessen ›oratio pro muribus‹ gelesen. Oder Ihr wü ß tet, was Lipsius und der groß e Leibniz ü ber das geistige Vermö gen der Tiere gedacht haben, oder Euch wä re bekannt, was der gelehrte tiefsinnige Rabbi Maimonides ü ber die Seele der Tiere gesagt hat. Schwerlich wü rdet Ihr dann mich meines Verstandes halber fü r einen bö sen Dä mon halten oder gar die geistige Vernunftmasse nach der kö rperlichen Extension abmessen wollen. Ich glaube, am Ende habt Ihr Euch zur scharfsinnigen Meinung des spanischen Arztes Gomez Pereira hingeneigt, der in den Tieren nichts weiter findet als kü nstliche Maschinen ohne Denkkraft, ohne Willensfreiheit, die sich willkü rlos, automatisch bewegen. Doch nein, fü r so abgeschmackt will ich Euch nicht halten, guter Herr Peregrinus Tyß, und fest daran glauben, daß Ihr lä ngst durch meine geringe Person eines Bessern belehrt seid. — Ich weiß ferner nicht recht, was Ihr Wunder nennt, schä tzbarster Herr Peregrinus, oder auf welche Weise Ihr es vermö get, die Erscheinungen unseres Seins, die wir eigentlich wieder nur selbst sind, da sie uns und wir sie wechselseitig bedingen, in wunderbare und nicht wunderbare zu teilen. Verwundert Ihr Euch ü ber etwas deshalb, weil es Euch noch nicht geschehen ist, oder weil Ihr den Zusammenhang von Ursache und Wirkung nicht einzusehen wä hnt, so zeugt das nur von der natü rlichen oder angekrä nkelten Stumpfheit Eures Blicks, der Eurem Erkenntnisvermö gen schadet. Doch — nehmt es nicht ü bel, Herr Tyß — das Drolligste bei der Sache ist, daß Ihr Euch selbst spalten wollt in zwei Teile, von denen einer die sogenannten Wunder erkennt und willig glaubt, der andere dagegen sich ü ber diese Erkenntnis, ü ber diesen Glauben gar hö chlich verwundert. Ist es Euch wohl jemals aufgefallen, daß Ihr an die Bilder des Traums glaubt? «

»Ich«, unterbrach Peregrinus den kleinen Redner, »ich bitt' Euch, bester Mann! wie mö get Ihr doch vom Traume reden, der nur von irgendeiner Unordnung in unserm kö rperlichen oder geistigen Organismus herrü hrt. «

Meister Floh schlug bei diesen Worten des Herrn Peregrinus Tyß ein ebenso feines als hö hnisches Gelä chter auf. »Armer«, sprach er hierauf zu dem etwas bestü rzten Peregrinus, »armer Herr Tyß, so wenig erleuchtet ist Euer Verstand, daß Ihr nicht das Alberne solcher Meinungen einsehet? Seit der Zeit, daß das Chaos zum bildsamen Stoff zusammengeflossen — es mag etwas lange her sein — formt der Weltgeist alle Gestaltungen aus diesem vorhandenen Stoff, und aus diesem geht auch der Traum mit seinen Gebilden hervor. Skizzen von dem, was war oder vielleicht noch sein wird, sind diese Gebilde, die der Geist schnell hinwirft zu seiner Lust, wenn ihn der Tyrann, Kö rper genannt, seines Sklavendienstes entlassen. Doch es ist hier weder Ort noch Zeit, Euch zu widerlegen und eines Bessern ü berzeugen zu wollen; es wü rde vielleicht auch von gar keinem Nutzen sein. Nur eine einzige Sache mö cht' ich Euch noch entdecken. «

»Sprecht«, rief Peregrinus, »sprecht oder schweigt, lieber Meister, tut das, was Euch am geratensten dü nkt; denn ich sehe genugsam ein, daß Ihr, seid Ihr auch noch so klein, doch unendlich mehr Verstand und tiefe Kenntnis habt. Ihr zwingt mich zum unbedingten Vertrauen, unerachtet ich Eure verblü mten Redensarten nicht ganz verstehe. «

»So vernehmt«, nahm Meister Floh wieder das Wort, »so vernehmt denn, daß Ihr in die Geschichte der Prinzessin Gamaheh verflochten seid, auf ganz besondere Weise. Swammerdamm und Leuwenhoek, die Distel Zeherit und der Egelprinz, ü berdem aber noch der Genius Thetel, alle streben nach dem Besitz der schö nen Prinzessin, und ich selbst muß gestehen, daß leider meine alte Liebe erwacht und ich Tor genug sein konnte, meine Herrschaft mit der holden Treulosen zu teilen. Doch Ihr, Ihr, Herr Peregrinus, seid die Hauptperson, ohne Eure Einwilligung kann die schö ne Gamaheh niemanden angehö ren. Wollt Ihr den eigentlichen tiefem Zusammenhang der Sache, den ich selbst nicht weiß, erfahren, so mü ß t Ihr mit Leuwenhoek darü ber sprechen, der alles herausgebracht hat und gewiß manches Wort fallen lassen wird, wenn Ihr Euch die Mü he nehmen wollt und es versteht, ihn gehö rig auszuforschen. «

Meister Floh wollte in seiner Rede fortfahren, als ein Mensch in voller Furie aus dem Gebü sch hervor und auf den Peregrinus losstü rzte.

»Ha! « schrie George Pepusch — das war der Mensch — mit wilden Gebä rden; »ha, treuloser verrä terischer Freund! — Treffe ich dich? — treffe ich dich in der verhä ngnisvollen Stunde? — Auf denn, durchbohre diese Brust, oder falle von meiner Hand! «

Damit riß Pepusch ein Paar Pistolen aus der Tasche, gab ein Pistol dem Peregrinus in die Hand, und stellte sich mit dem andern in Positur, indem er rief: »Schieß e, feige Memme! «

Peregrinus stellte sich, versicherte aber, daß nichts ihn zu dem heillosen Wahnsinn bringen wü rde, sich mit seinem einzigen Freunde in einen Zweikampf einzulassen, ohne die Ursache auch nur zu ahnen. Wenigstens wü rde er in keinem Fall den Freund zuerst mö rderisch angreifen.

Da schlug aber Pepusch ein wildes Gelä chter auf, und in dem Augenblick schlug auch die Kugel aus dem Pistol, das Pepusch abgedrü ckt, durch den Hut des Peregrinus. Dieser starrte, ohne den Hut, der zur Erde gefallen, aufzuheben, den Freund an in tiefem Schweigen. Pepusch nä herte sich dem Peregrinus bis auf wenige Schritte und murmelte dann dumpf: »Schieß e! «

Da drü ckte Peregrinus das Pistol schnell ab in die Luft. Laut aufheulend wie ein Rasender, stü rzte George Pepusch nun an die Brust des Freundes und schrie mit herzzerschneidendem Ton: »Sie stirbt — sie stirbt aus Liebe zu dir, Unglü cklicher! — Eile — rette sie — du kannst es! rette sie fü r dich, und mich laß untergehen in wilder Verzweiflung! « —

Pepusch rannte so schnell von dannen, daß Peregrinus ihn sogleich aus dem Gesicht verloren hatte.

Schwer fiel es aber nun dem Peregrinus aufs Herz, daß des Freundes rasendes Beginnen durch irgend etwas Entsetzliches veranlaß t sein mü sse, das sich mit der holden Kleinen begeben. Schnell eilte er nach der Stadt zurü ck.

Als er in sein Haus trat, kam ihm die Alte entgegen und jammerte laut, daß die arme schö ne Prinzeß plö tzlich auf das heftigste erkrankt sei und wohl sterben werde; der alte Herr Swammer sei eben selbst nach dem berü hmtesten Arzt gegangen, den es in Frankfurt gebe.

Den Tod im Herzen, schlich Peregrinus in Herrn Swammers Zimmer, das ihm die Alte geö ffnet. Da lag die Kleine, blaß, erstarrt wie eine Leiche auf dem Sofa, und Peregrinus spü rte erst dann ihren leisen Atem, als er niedergekniet sich ü ber sie hinbeugte. Sowie Peregrinus die eiskalte Hand der Armen faß te, spielte ein schmerzliches Lä cheln um ihre bleichen Lippen, und sie lispelte: »Bist du es, mein sü ß er Freund? — Kommst du her, noch einmal die zu sehen, die dich so unaussprechlich liebt? — Ach! die eben deshalb stirbt, weil sie ohne dich nicht zu atmen vermag! «

Peregrinus, ganz aufgelö st im herbsten Weh, ergoß sich in Beteurungen seiner zä rtlichsten Liebe und wiederholte, daß nichts in der Welt ihm so teuer sei, um es nicht der Holden zu opfern. Aus den Worten wurden Kü sse, aber in diesen Kü ssen wurden wiederum wie Liebeshauch Worte vernehmbar.

»Du weiß t«, so mochten diese Worte lauten, »du weiß t, mein Peregrinus, wie sehr ich dich liebe. Ich kann dein sein, du mein, ich kann gesunden auf der Stelle, erblü ht wirst du mich sehen in frischem jugendlichem Glanz wie eine Blume, die der Morgentau erquickt und die nun freudig das gesenkte Haupt emporhebt — aber — gib mir den Gefangenen heraus, mein teurer, geliebter Peregrinus, sonst siehst du mich vor deinen Augen vergehen in namenloser Todesqual! — Peregrinus — ich kann nicht mehr — es ist aus -«

Damit sank die Kleine, die sich halb aufgerichtet hatte, in die Kissen zurü ck, ihr Busen wallte wie im Todeskampf stü rmisch auf und nieder, blauer wurden die Lippen, die Augen schienen zu brechen. — In wilder Angst griff Peregrinus nach der Halsbinde, doch von selbst sprang Meister Floh auf den weiß en Hals der Kleinen, indem er mit dem Ton des tiefsten Schmerzes rief: »Ich bin verloren! « Peregrinus streckte die Hand aus, den Meister zu fassen; plö tzlich war es aber, als hielte eine unsichtbare Macht seinen Arm zurü ck, und ganz andere Gedanken als die, welche ihn bis jetzt erfü llt, gingen ihm durch den Kopf. »Wie«, dachte er, »weil du ein schwacher Mensch bist, der sich hingibt in toller Leidenschaft, der im Wahnsinn aufgeregter Begier das fü r Wahrheit nimmt, was doch nur lü gnerischer Trug sein kann, darum willst du den treulos verraten, dem du deinen Schutz zugesagt? Darum willst du ein freies harmloses Vö lklein in Fesseln ewiger Sklaverei schmieden, darum den Freund, den du als den einzigen befunden, dessen Worte mit den Gedanken stimmen, rettungslos verderben? — Nein — nein, ermanne dich, Peregrinus! — lieber den Tod leiden als treulos sein! «

»Gib — den — Gefangenen — ich sterbe! « — So stammelte die Kleine mit verlö schender Stimme.

»Nein«, rief Peregrinus, indem er in heller Verzweiflung die Kleine in die Arme faß te, »nein — nimmermehr, aber laß mich mit dir sterben! «

In dem Augenblick ließ sich ein durchdringender harmonischer Laut hö ren, als wü rden kleine Silberglö ckchen angeschlagen; Dö rtje, plö tzlich frischen Rosenschimmer auf Lipp' und Wangen, sprang auf vom Sofa und hü pfte, in ein konvulsivisches Gelä chter ausbrechend, im Zimmer umher. Sie schien vom Tarantelstich getroffen.

Entsetzt betrachtete Peregrinus das unheimliche Schauspiel, und ein Gleiches tat der Arzt, der ganz versteinert in der Tü re stehen blieb und dem Herrn Swammer, der ihm folgen wollte, den Eingang versperrte.



  

© helpiks.su При использовании или копировании материалов прямая ссылка на сайт обязательна.