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Tag 2: VersorgungTag 2: Versorgung Sechs Uhr. Wie an einem gewöhnlichen Morgen riss mich der Wecker viel zu früh aus der Traumwelt. Immerhin konnte ich trotz der vielen Unterbrechungen zumindest ein paar Stunden Schlaf finden. Doch irgendetwas war an diesem Morgen anders. Durch die schallgedämmten Scheiben der Fenster drang ein ungewöhnlicher, dumpfer Lärm. Ein völliges Durcheinander verschiedener Geräusche, die ich anfangs nicht wirklich zuordnen konnte. Aus dem Bett quälend stand ich auf, ging zum Fenster Richtung Straße und zog den Vorhang auf. Ich traute meinen Augen nicht, dachte ich sei im falschen Film. Was sich vor meinem Fenster abspielte, hätte direkt aus einem Hollywood Blockbuster von Roland Emmerich stammen können. Die Straßen verstopft von Blechlawinen. Auto an Auto, Lastwagen an Lastwagen. Es ging weder vor noch zurück, auch Einsatzkräfte wie Feuerwehr und Krankenwägen steckten fest. Entnervt ließen vielen Autofahrer ihren Frust durch willkürliche Hupkonzerte freien Lauf. Passanten belagerten die Geschäfte, obwohl die meisten davon nicht vor neun Uhr öffneten. Es bildeten sich tumultartige Menschentrauben. Kräfte der Polizei befanden sich überall auf den Straßen, jedoch ohne eine Chance, die aufgebrachte Menge zu beruhigen. Um der Kälte und dem über Nacht eingesetzten Schneefall zu trotzen, wurden sogar einige Mülltonnen in Brand gesteckt. Ich realisierte, dass etwas Schreckliches passiert sein musste und griff zur Fernbedienung meines Fernsehers. Egal welches Programm ich wählte, überall liefen Sondersendungen und es war von einem nationalen Notstand die Rede. Der Grippevirus sei viel aggressiver als angenommen hieß es und breitete sich über Nacht ungewöhnlich schnell aus. Krankenhäuser seien überfüllt, der Verkehr zusammengebrochen, öffentliche Verkehrsmittel können nicht mehr genutzt werden. Viele Menschen seien bereits gestorben, die Rede war von mehreren Hundert. Noch viel schlimmer traf mich die Nachricht, dass der Virus bereits in Kanada nachgewiesen wurde. Es war von der Möglichkeit die Rede, die Seuche könne sich zu einer weltweiten Pandemie entwickeln. Eine schreckliche Vorstellung. Die Regierung der Vereinigten Staaten rief den nationalen Notstand aus; man solle das Haus nach Möglichkeit nicht verlassen. Einzige Ausnahme: Die Versorgung mit lebensnotwendigen Ressourcen; allem voran Nahrung, Wasser und Hygieneartikel. Der Notstand erklärte das absurde Szenario, welches sich vor meinem Fenster abspielte. Ich musste schnell handeln und mich für die nächsten Tage mit allem Nötigen eindecken. Ich zog mich rasch um und begab mich auf die Straße. Nicht nur wegen der Kälte, doch vor allem zur Sicherheit legte ich mir noch einen Schal um den Hals, den ich im Handumdrehen in eine Art provisorischen Atemschutz verwandeln konnte. Auf der Straße bot sich mir dann ein Bild der Verwüstung. Die stark verunsicherten, panischen Menschenmassen verschafften sich gewaltsam Zugang zu den Lebensmittelläden. Sie schlugen Schaufenster ein; einige Schaufensterpuppen dienten dabei als Instrument der fortgeschrittenen Zerstörung. Die Läden wurden im Handumdrehen geplündert und ein jeder versuchte sich mit so vielen Notreserven wie möglich einzudecken. Auch ich musste zusehen, dass ich mich irgendwie für die nächsten Tage mit allem Notwendigen eindecken konnte; war mein Kühlschrank doch regelmäßig leer. Meine Priorität lag daher auf Nahrung, Wasser und Antibiotika. Doch trotz der noch recht frühen Morgenstunden schien ich zu spät zu kommen. Die großen Geschäfte in meiner Straße waren bereits leer geplündert. Ich wollte mein Glück daher bei einem kleinen Laden versuchen, den – so hoffte ich zumindest – die große Masse nicht kennen würde, da er etwas abseits in einer schmalen Seitengasse lag. Nach wenigen Minuten durch ein New York, das wie ein Kriegsschauplatz anmutete, erreichte ich die Gasse mit dem Markt. Ich sollte kein Glück haben. Der Laden war zwar nicht geplündert, jedoch abgeschlossen. Zudem verhinderten massive Gitterstäbe vor dem einzigen Schaufenster das gewaltsame Eindringen. Enttäuscht wollte ich meinen Streifzug auf der Suche nach Vorräten fortsetzen, da packte mich eine Hand hinterrücks an der Schulter. Erschrocken drehte ich mich um und blickte einem älteren Mann in sein erschöpft wirkendes, faltiges Gesicht und seine müden, glasigen Augen. Vorsichtshalber zog ich den Schal über Mund und Nase und schob den Unbekannten ein gutes Stück von mir weg. Er winkte ab, erklärte mir mit leiser Stimme, dass es der Besitzer des Ladens sei und aufgrund der Berichte in den Medien sein Geschäft vor der sicheren Plünderung bewahren wollte. Gerade als ich begann ihm meine Situation zu schildern, kamen drei zwielichtige Typen auf uns zu, kreisten den Mann und mich ein. Sie hatten unser Gespräch belauscht und forderten den älteren Herrn unmissverständlich auf, seinen Laden aufzusperren. Der Ladenbesitzer gab klar zu verstehen, dass er dieser Forderung nicht nachkommen würde. Ein großer Fehler. Einer der Drei holte aus und schlug dem Mann in die Magengrube. Begleitet von einem dumpfen Stöhnen ging dieser zu Boden und regte sich nicht mehr. Ich wollte die Typen beruhigen, doch keine zwei Sekunden später verpasste man mir einen Schlag auf den Hinterkopf, woraufhin ich ohnmächtig wurde. Wieder bei Bewusstsein, waren die drei Kerle zum Glück verschwunden, der Laden jedoch aufgeschlossen und geplündert. Schlimmer noch, der Ladenbesitzer lag regungslos neben mir auf dem Boden. Ich beugte mich mit brummenden Schädel über den Mann und versuchte ihn wach zu rütteln. Als ich ihn auf die Seite drehen wollte, bemerkte ich, dass ein Messer in seinem Rücken steckte. Er war tot. Die Kerle haben ihn einfach abgestochen. Ich war geschockt, bekam kaum Luft, fühlte mich wie abgeschnürt. Verzweifelt und trotz des Bewusstseins, dass man dem Mann nicht mehr helfen könne, versuchte ich via Handy einen Notruf abzusetzen. Keine Chance, das Netz war komplett überlastet, an eine stabile Verbindung war nicht zu denken. In diesem Moment realisierte ich, dass es nun um mehr als das Überstehen einiger schwieriger Tage ging; vielmehr stand das nackte Überleben auf dem Programm. Emotional war ich in diesem Moment völlig überfordert. Ich brauchte unbedingt Vorräte, auch wenn ich dabei gewisse Grenzen niemals überschreiten könnte. Bevor ich den Laden oder das, was davon noch übrig war, betrat, deckte ich den alten Mann noch mit seiner Jacke zu. Das war das Mindeste, was ich für ihn tun konnte. Dann widmete ich mich der Versorgung mit dem Nötigsten für die nächsten Tage. An der Wand im Markt hing eine Uhr; es war schon nach halb Zwei und ich somit einige Stunden bewusstlos gewesen. Zum Glück war mehr in den Regalen, als die drei Mörder hätten tragen können. Ich fand noch einige Flaschen Mineralwasser und genug Lebensmittel, um zumindest eine Woche über die Runden zu kommen. Leider ging ich im Hinblick auf die Antibiotika leer aus. Neben zweier Tragetaschen nahm ich auch noch einen Rucksack mit, sodass ich mich schwer bepackt auf den Nachhauseweg machen konnte. Leicht zu bewerkstelligen war der Rückweg definitiv nicht. Immer wieder baten mich verzweifelte Passanten, meine „Beute“ mit ihnen zu teilen, doch Mitgefühl konnte ich mir nach diesem verrückten Morgen nicht leisten. Ich sah die Verzweiflung in den Augen der Menschen, doch ich musste nun auch mal an mich denken und mein Überleben sichern. In meiner Wohnung angekommen wollte ich den Kühlschrank mit den Lebensmitteln füllen, doch was war das? Das Licht im Kühlschrank ging nicht an. Das typische Summen der Kühleinheit konnte ich auch nicht vernehmen. War etwa der Strom ausgefallen? In der Tat. Fernseher, Telefon, Herd, alles tot. Die Heizkörper waren nur noch lauwarm, die Zentralheizung ruhte. Und das alles bei dieser eisigen Kälte. Ein Glück hatte ich noch einen offenen Kamin im Wohnzimmer und genügend Holz für ein paar Tage. Nach einer warmen Mahlzeit aus der Dose, musste ich an meine Großeltern denken. Wie es ihnen wohl ginge? Waren sie gesund, hatten sie genug zu essen und waren sie überhaupt in Sicherheit? Diese Gedanken zermarterten mir den Kopf. Sie kurzfristig zu erreichen war jedenfalls unmöglich. Auf den Straßen war an ein Durchkommen nicht zu denken, ohne Strom keine Festnetzanrufe und das Mobilnetz war überlastet oder tot; genau wusste ich es nicht. Mein Smartphone hatte ich längst ausgeschaltet, hoffend dass der restliche Saft im Akku noch irgendwie nützlich werden könnte. Ich beschloss den angebrochenen Nachmittag im kuschelig warmen Nachtlager vor dem Kamin zu verbringen. Der Vormittag bot so viele schreckliche Erlebnisse, die es nun erst einmal zu verdauen galt. Vertieft in meine Gedanken und bei dem Versuch der Verarbeitung des Erlebten, schlief ich irgendwann ein.
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