Хелпикс

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& Gelberg 3 страница



»Ich kann nicht gut rennen«, wehrte Eva ab.

»Du musst ein bisschen abnehmen, dann kannst du auch besser rennen. «

Eva zuckte zusammen, ließ aber ihre Hand in seiner.

»Ich habe vier Brü der und drei Schwestern«, sagte Michel.

»Das sind ja acht Kinder! Um Gottes willen! «

»Das sagt jeder, der es hö rt«, sagte Michel. »Als ob das ein Verbrechen wä re. «

»Nein, so nicht. Aber es ist doch selten, dass eine Familie so viele Kinder hat. Wir sind zwei, mein klei­ner Bruder und ich. «

»So schlimm ist es auch wieder nicht, acht Kinder. Da, wo ich wohne, haben die meisten Leute mehrere


Kinder. Es gibt sogar eine Familie, die haben zwö lf. Bei uns sind nur noch sechs zu Hause, meine Schwes­ter ist verheiratet und mein Bruder ist bei der Bundes­wehr. Es ist also nicht so schlimm. Nur Geld haben wir nicht viel. Also Taschengeld habe ich noch nie be­kommen. «

»Macht dir das nichts aus? «

»Doch, natü rlich. Aber ich trage jeden Donnerstag den Stadtanzeiger aus, die Arbeit habe ich von meinem Bruder geerbt, nicht von dem bei der Bundeswehr, von Frank, der ist im ersten Lehrjahr. Dafü r kriege ich im­mer zwanzig Mark. Morgen habe ich wieder Geld. Gehst du am Samstag mit mir ins Kino? «

»Ja, gern. «

»Morgen kann ich nicht, wegen dem Anzeiger. Hast du am Freitag Zeit? «

Eva schü ttelte den Kopf. »Freitags habe ich Klavier­stunde. Auß erdem muss ich zu Hause helfen beim Put-

zen. «

Michel grinste. »Bei uns wird auch freitags geputzt. Und samstags ist schon wieder der grö ß te Verhau. «

Es war spä t geworden. In der Straß enbahn, diesmal mit Karte und gestempelt, nachdem sie drei Haltestel­len weit gelaufen waren, dachte Eva an den Krach, den sie zu Hause bekommen wü rde. Unbehaglich rutschte sie hin und her.

»Musst du pinkeln? «, fragte Michel.

Eva schaute sich erschrocken um. »Nein«, flü sterte


 




sie. »Aber es ist schon gleich halb acht. Ich kriege Krach zu Hause. «

»Mit fü nfzehn noch? Meine Schwester hat mit sech­zehn geheiratet. «

»Du kennst meinen Vater nicht«, sagte Eva.

»Sie hat heiraten mü ssen«, sagte Michel.


Eva ö ffnete die Wohnungstü r.

»Eva? «, rief die Mutter aus der Kü che.

»Ja. «

Die Mutter kam heraus und trocknete sich die Hä n­de an der Schü rze ab. »Da bist du ja endlich. Wo hast du nur so lange gesteckt? Wir haben schon gegessen. Der Papa ist bö se. Du weiß t doch, dass wir alle um halb sieben da sein sollen. «

»Damit er was zum Kommandieren hat. «

»Sei nicht frech. «

Eva zuckte mit den Schultern, zuckte die Mutter weg, das Nö rgeln, hä tte Watte in den Ohren haben mö gen, nichts mehr hö ren, Mutter in der hellblauen Schü rze, mit den Wasserflecken darauf, Mutter, die sie mit groß en Augen ansah, porzellanblauen, waschblau­en, verwaschenen Augen. Michels Schwester hatte mit sechzehn geheiratet. »Ich bin kein kleines Kind mehr«, sagte Eva.

Das sagte sie auch zu ihrem Vater, der schon vor dem Fernsehapparat saß, tief in den Sessel gerutscht, die Fü ß e auf einem Stuhl, neben sich auf dem Couch­tisch Zigaretten und Aschenbecher.

»Ich bin kein kleines Kind mehr«, sagte sie.


 



 



Der Vater schaute sie misstrauisch an. »Wo warst du denn? «

»Spazieren am Fluss. «

»Allein? «

Eva zö gerte. »Mit einer Freundin«, sagte sie.

»Das nä chste Mal bist du um sieben zurü ck, verstan­den? «

Eva biss in einen Apfel. »Ja«, antwortete sie mü r­risch. »Andere aus meiner Klasse dü rfen heimkommen, wann sie wollen. «

»Das kann schon sein. Aber bei uns ist das anders. Ich will nicht, dass du dich abends irgendwo rum­treibst. Solange du zu Hause bist und ich die Verant­wortung habe, richtest du dich nach dem, was ich sage. «

Eva biss wieder in den Apfel und ließ sich auf den freien Sessel fallen. »Was gibt's im Fernsehen? «

Wetten, dass...

Eva ging in ihr Zimmer. Sie konnte lange nicht ein­schlafen an diesem Abend. Es war sehr schwü l.

Am nä chsten Morgen in der Pause sagte Eva zu Fran-ziska: »Das tut mir Leid, das mit dem Englisch-Test gestern. «

»Nicht so schlimm, meine Note kann es nicht ver­sauen. «

»Ich habe es nicht wegen dir nicht weitergegeben. «

»Ich weiß. «


»Was weiß t du? «

»Karola hat gesagt, du wä rst immer noch eifersü ch­tig, weil Lena ihre Freundin ist. «

Eva taten die Finger weh, so fest presste sie das Buch. »So toll ist sie ja nun auch wieder nicht, dass ich ihr so lange nachweinen wü rde. «

Sie schlug ihr Buch auf und fing an zu lesen. Fran-ziska blieb neben ihr auf dem Sockel des Zaunes sit­zen. »Warst du sehr sauer damals? «

War sie sauer gewesen? Nein, nicht sauer. Sauer war nicht das richtige Wort. Enttä uscht war sie gewesen, verletzt, traurig. Eine Art trauriges Staunen hatte sie empfunden, dass es so etwas gab, dass es ihr passieren musste, dass sie plö tzlich dastand mit ihren Gefü hlen fü r Karola und dass Karola diese Gefü hle nicht mehr brauchte. Nein, sauer war sie nicht gewesen. Traurig war sie gewesen und es hatte sehr wehgetan.

Aber das ging niemand etwas an, am wenigsten Franziska. Eva merkte, wie ihr die Trä nen in die Au­gen stiegen. Sie senkte den Kopf. Doch Franziska hatte es schon gesehen. Sie legte ihr den Arm um die Schul­ter. Am liebsten hä tte Eva den Arm abgeschü ttelt, aber sie traute sich nicht. So saß en sie, bis das Klingelzei­chen ertö nte.

An diesem Mittag aß Eva Krabbensalat im Park.

Abends, im Bett, dachte Eva wieder daran, an Franzis-kas Arm auf ihrer Schulter, an die Hand, die ihr ü ber


 



 



den Oberarm gestreichelt hatte, sie dachte an Michel, der seine Hand auf ihre Brust gelegt hatte. Sie dachte an Erika und Karola, vor allem an Karola. Und da musste sie wieder weinen. Sie vergrub ihren Kopf in das Kissen und biss sich auf die Lippen, um nicht laut zu schreien.

Ihr Gesicht im Kissen war heiß, sie legte sich auf die Seite, drehte das Kissen, um eine kü hle Stelle fü r ihre heiß e Backe zu finden.

Ich leide, dachte sie. So ist leiden und eigentlich sollte ich froh sein. Ich habe Michel kennen gelernt und Franziska sitzt neben mir. Warum leide ich? Das andere ist schon so lange her, warum kann ich es nicht vergessen?

Langsam wurden ihre Schluchzer leiser, sanfter, der Druck auf ihrem Bauch ließ nach, fast trö stlich war das Weinen jetzt.

Eva schlief ein.

Als sie aufwachte, war es lange nach Mitternacht. Sie knipste die Nachttischlampe an. Sie fü hlte sich ver­schwitzt und pappig und sehr traurig. Es war immer noch ziemlich heiß in ihrem Zimmer. Natü rlich, sie hatte vergessen, das Fenster aufzumachen. Deshalb war es auch so stickig hier. Sie ö ffnete vorsichtig das Fenster. Es klemmte immer ein bisschen. Sie erschrak bei dem knarzenden Gerä usch, das sehr laut klang in der Stille der Nacht.

Sie atmete tief durch. Die Luft war lau und die


Sterne standen sehr hoch am Himmel. Hinter den Dä ­chern kroch schon der hellgraue Schimmer der Mor­gendä mmerung.

Was fü r ein Sommer, dachte Eva.

Im Haus gegenü ber war noch Licht, im ersten Stock, in der Wohnung der alten Grabers. Sie lebten mit ihrer auch schon ä ltlichen Tochter zusammen, die man fast nie sah. Morgens huschte sie zur Arbeit und kam ge­gen fü nf zurü ck, mit Einkaufstü ten in beiden Hä nden. Die alten Grabers saß en immer, wenn es das Wetter er­laubte, auf dem Balkon und schauten hinunter auf die Straß e. Eva war schon oft aufgefallen, dass sie kaum miteinander redeten. Fast unbeweglich saß en sie da und starrten hinunter. Im letzten Sommer hatte der alte Graber einen Schlaganfall gehabt. Er war vom Notarzt mit Blaulicht und Sirene in die Klinik gefahren wor­den. Viele Wochen lang saß die alte Frau allein auf dem Balkon. Beim Einkaufen, als Eva darauf wartete, dass die Metzgersfrau ihr das Gulasch schnitt, hatte sie eine Frau sagen hö ren: »Die Grabers kö nnen froh sein, dass sie eine so gute Tochter haben. Wo gibt es denn so etwas noch, heutzutage! «

Michels Schwester hatte mit sechzehn Jahren heira­ten mü ssen!

Eva ü berlegte, wer von den Grabers wohl noch wach war um diese Zeit. Die »gute Tochter«? Oder ging es dem alten Graber wieder schlecht? In diesem Moment ging das Licht aus. Wahrscheinlich war nur


 



 



einer auf dem Klo gewesen oder hatte sich eine Klei­nigkeit zu essen gemacht.

Eva war sehr hungrig. Sie schlich sich in die Kü che. Gerade als sie sich bequem hingesetzt hatte und einen Joghurt lö ffelte, ging hinter ihr die Kü chentü r auf. Er­schrocken fuhr sie herum. Es war ihre Mutter. Sie sah etwas verquollen aus, blinzelte im hellen Licht und fuhr sich mit dem Handrü cken ü ber die Augen.

»Ich habe dich gehö rt, und weil ich nicht schlafen konnte, dachte ich, wir kö nnten vielleicht eine Tasse Tee miteinander trinken. «

Eva nickte. Die Mutter ließ den Wasserkessel voll laufen und stellte ihn auf die Herdplatte. »Hast du Hunger? Soll ich dir ein Spiegelei machen? «

»Ja, bitte. «

Die Mutter hantierte schnell und geschickt am Herd. Wie anders sie nachts aussah. So gefä llt sie mir eigent­lich viel besser, ü berlegte Eva.

Dann stand der Teller mit dem Spiegelei vor ihr, weiß, mit gelbem Dotter, fast orangefarben war der Dotter, die Mutter streute immer noch etwas roten Paprika drauf, »fü r's Auge, das Auge isst mit«, und um den knusprigen Rand herum floss die braune Butter.

»Hier, Eva, nimm noch ein Stü ck Weiß brot. «

Eva fing an zu essen. Die Mutter stellte noch die Teekanne und zwei Tassen auf den Tisch. Ü ber die Ga­bel mit Ei hinweg, die sie gerade zum Mund fü hrte, lä ­chelte Eva sie an. Die Mutter lä chelte unsicher zurü ck.


Sie saß en da und schauten sich an. In diesem Moment ging die Tü r auf. Eva drehte sich um. Ihr Vater stand da, mit wirren Haaren, die Schlafanzugjacke war nicht ganz zugeknö pft und ließ einen Teil seiner haarigen Brust frei. Eva drehte ihm schnell wieder den Rü cken zu.

»Was macht ihr denn da? «

»Wir konnten nicht schlafen. « Die Mutter schaute zum Vater hin. Ihr Gesicht war ausdruckslos.

»Ist gut«, murmelte der Vater. »Aber komm bald wieder ins Bett. « Die Tü r klappte zu.

Eva wartete eine Weile. Dann sagte sie: »Ich war mit einem Jungen am Fluss. «

»Das habe ich mir gedacht, weil du noch nie so lange weg warst. Ist es ein netter Junge? «

»Ja, er ist sehr nett. «

»Der Papa meint, ich sollte mal mit dir reden, dich vor den Mä nnern warnen. «

»Aufzuklä ren brauchst du mich nicht mehr. Ich weiß das alles. «

Die Mutter wurde rot. »So habe ich das nicht ge­meint. Aber die Jungen sind manchmal aufdringlich, und ein Mä dchen, das was auf sich hä lt... «

»Mama, ich weiß, was ich zu tun habe. «

»Na ja«, die Mutter seufzte. »Ich habe ja auch dem Papa gesagt, jeder muss seine Erfahrungen selbst ma­chen. Ich habe auch nicht auf meine Mutter gehö rt, da­mals, habe ich gesagt. «


 




Eva lachte. »Ich glaube, du bist mü de. Du fä ngst schon an zu reden wie die Oma. «

»Da ist aber was dran, glaub mir das. Ich habe mir auch alles anders vorgestellt. « Die Mutter sah traurig aus.

»Du solltest dir eine Stelle suchen oder sonst irgend­was, damit du mal hier aus dem Haus herauskommst und nicht nur zur Schmidhuber. «

»Und der Haushalt? Du weiß t doch, wie dein Vater ist. «

»Papa ist nur so, weil du dir alles gefallen lä sst. «

Die Mutter antwortete nicht. Als die Tassen leer wa­ren, rä umte sie den Tisch ab. Eva stand auf. Die Mutter legte den Arm um sie. »Gute Nacht, mein Mä dchen, schlaf gut! «

Eva drü ckte sich an sie. Die Mutter streichelte ihr ü ber den Rü cken und die Haare.

»Gute Nacht, Mama. «


Eva stand im Badezimmer vor dem Spiegel. Zum Glü ck gab es in der ganzen Wohnung keinen groß en Spiegel auß er dem auf der Innenseite einer Tü r des Schlafzimmerschrankes. Eva ging ganz nah an den Spiegel, so nah, dass sie mit ihrer Nase das Glas be­rü hrte. Sie starrte sich in die Augen, graugrü n waren ihre Augen, dunkelgrau gesä umte Iris, grü nliche, stern­fö rmige Maserung. Ihr wurde schwindelig. Sie trat ei­nen Schritt zurü ck und sah wieder ihr Gesicht, um­rahmt von Odolflaschen und Zahnbü rsten, rot, blau, grü n und gelb. Mutters Lippenstift lag da. Eva nahm ihn und malte ein groß es Herz um dieses Gesicht im Spiegel. Sie lachte und beugte sich vor zu diesem Ge­sicht, das so fremd war und so vertraut. »Du bist gar nicht so ü bel«, sagte sie. Das Gesicht im Spiegel lä ­chelte. »Du bist Eva«, sagte sie. Das Gesicht im Spiegel formte einen Kussmund. Die Nase war ein bisschen zu lang. »Das ist Evas Nase«, sagte Eva. Sie ö ffnete ihren Pferdeschwanz, ließ die Haare auf die Schultern fallen, lange Haare, lockig, fast kraus. Sie zog sich mit dem Kamm einen Scheitel in der Mitte, kä mmte die Haare mehr nach vorn. So war es richtig. Wü rde es Michel gefallen? Sie schob ihre Lippen etwas vor, warf sie auf,


 



 



nur ein bisschen, und senkte die Lider. Schö n verrucht sah sie jetzt aus, fast wie eine Schauspielerin in einer Il­lustrierten. Sie schminkte sich die Lippen. Sie machte es langsam, ganz vorsichtig, und biss dann auf ein Tempotaschentuch, drü ckte die Lippen auf dem Papier zusammen, wie sie es bei der Mutter gesehen hatte.

Es klopfte an die Tü r. »Wer ist denn drin? « Das war Berthold.

»Ich. «

»Mach schnell, ich muss dringend. «

Eva griff nach der Klopapierrolle, riss einige Blä tter ab und wischte das Herz weg. Dann erst ö ffnete sie die Tü r.

»Wie siehst du denn aus? «, fragte Berthold.

Eva fiel zum ersten Mal auf, dass er wie ihr Vater sprach.

»Gefallt es dir nicht? «

»Nein. Du siehst aus wie ein Zirkuspferd. «

Eva lachte. »Mir gefä llt es. Mir gefä llt es sogar sehr gut. «

»Warte nur, bis Papa dich so sieht. «

Aber der Vater sah sie nicht. Er schlief noch, hielt sein Samstagnachmittag-Schlä fchen, machte sein Ni­ckerchen, das meistens bis zur Sportschau dauerte.

»Gefä llt es dir, Mama? «

Die Mutter zö gerte. »Ganz anders siehst du aus«, sagte sie. »Ein bisschen wild. «

Eva nahm ihren blauen Regenmantel. Sie war froh


ü ber das schlechte Wetter, mit dem Mantel sah sie

nicht so dick aus. »Tschü ss, Mama. «

»Viel Spaß, Kind. Und vergiss nicht, um zehn Uhr. « »Ja, ja«, sagte Eva und zog leise die Tü r hinter sich

zu. Der Vater schlief.

Michel hatte sie erstaunt angesehen. »Siehst gut aus. «

Dann saß en sie in einem Cafe und tranken Cola. Eva mochte Cola eigentlich gar nicht so besonders. Michel hatte bestellt, ohne sie zu fragen.

»Normalerweise bin ich samstags immer im Freizeit­heim«, sagte er. Er trug ein weiß es Hemd, fast bis zum Nabel offen, und eine dunkelblaue Kordjacke. Richtig ordentlich sah er aus.

»Was macht ihr da, im Freizeitheim? «

»Alles Mö gliche. Samstags tanzen wir meistens. Ein paar von den Jungen machen eine irre Musik. « Michel sah ganz stolz aus. »Einer von ihnen ist mein Freund. Er spielt E-Gitarre. «

»Grü ß dich, Eva«, sagte jemand. Eva sah auf. Vor ihr stand Tine.

»Grü ß dich«, sagte Eva.

Tine sah Michel neugierig an. Sie blieb einfach ste­hen und schaute Michel an. Der Junge neben ihr, ein schlaksiger, dü nner mit langen, blonden Haaren, legte den Arm um sie und wollte sie weiterziehen. »Komm endlich. Ich habe Durst. «


 




Tine fragte: »Ist das dein Freund? « Aber sie schaute Eva nicht an dabei.

»Wenn du nichts dagegen hast«, antwortete Michel.

»Tschü ss«, rief Tine und verschwand, von dem Langhaarigen gezogen, im hinteren Teil des Cafes.

»Wie die dich angesehen hat. «

»Wer war das? «

»Ein Mä dchen aus meiner Klasse. «

»Genierst du dich nicht mit mir? «

Eva war verblü fft. »Wieso denn? «

»Na ja, weil ich ja nur in die Hauptschule geh, ich bin ja nichts Besonderes. «

Nichts Besonderes, dachte Eva. Die Hauptschule sieht man nicht, aber meinen dicken Hintern sieht je­der.

Laut sagte sie: »Du solltest das nicht so wichtig neh­men. Es ist doch eigentlich egal, in welche Schule je­mand geht. Es sagt noch nicht einmal was darü ber aus, wie intelligent man ist. «

»Das sagst du so«, antwortete Michel. »Ich bin noch nie mit einem Mä dchen gegangen, das im Gymnasium ist. Ein bisschen komisch ist das schon. «

»Ist denn an mir was anders? «

»Viel. «

»Was denn?...

»Ich weiß nicht. Viel halt. «

Eva hä tte gern gefragt: »Bin ich besser? « Sie hä tte gern gewusst, genau gewusst, was Michel mit den


anderen gemacht hatte. War er auch mit ihnen »am Fluss« gewesen? Aber die Fragen blieben in ihrem Bauch, die Angst davor, was er antworten kö nnte, schob die gedachten und vorgeformten Worte in ihren Bauch zurü ck, bevor sie noch den Mund aufmachen konnte.

Wieder war es still zwischen ihnen. Und wieder dachte Eva: Ist es das, was ich mir vorgestellt hatte, das, woran ich schon so oft gedacht habe? Und sie dachte: So ist das also zwischen Jungen und Mä dchen, dass man nicht weiß, was man sagen soll, wenn man ei­gentlich so viel sagen mö chte.

Sie bestellten sich noch eine Cola.

Spä ter, im Kino, nahm Michel Evas Hand. Seine Hand war ein bisschen rauh und ein bisschen mager, ganz anders als Karolas.

Der Cowboy ritt durch die Prä rie, ritt mitten hinein in einen roten Cinemascope-Technicolor-Sonnenunter-gang und Michel streichelte ihre Hand. Eva hielt ganz still. Sie hielt so still, dass sie fast nicht atmen konnte.

Michel hatte sie nach Hause gebracht, genau um zehn Uhr hatte sie die Wohnungstü r aufgeschlossen. »Bist du das, Eva? «, hatte die Mutter aus dem Wohnzimmer gerufen.

»Ja, ich. «

Im Wohnzimmer sagte der Nachrichtensprecher: »Beim heutigen Nebeleinbruch haben auf Bayerns


 




 

Straß en mindestens acht Menschen den Tod gefun­den. « Stimmt, heute Morgen war es neblig gewesen.

Eva ging ins Badezimmer und riegelte hinter sich ab. Sie stü tzte sich mit den Hä nden auf das kalte Porzellan des Waschbeckens und schaute in den Spiegel. Sie be­trachtete ihren Mund. Von der Schminke war nicht viel ü brig, ein kleiner, verwischter Rest im Mundwinkel. Sie sah aus wie sonst. Sie wunderte sich darü ber, dass er keine Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen hatte. Er. Michel.

Sie nahm die Zahnbü rste in die Hand, drü ckte Zahn­pasta darauf, zö gerte und spü lte die Zahnpasta wieder ab. Heute nicht. Sie wollte die Erinnerung nicht weg­waschen.

Dann band sie sich die Haare wieder zusammen und ging ins Bett. Die Mutter, neugierig, verschwö rensch, ö ffnete die Tü r und fragte: »Na? «

»Schö n war's«, antwortete Eva. »Aber ich bin jetzt mü de. Ich will schlafen. «

Eva stieg die Treppe hinauf, unendlich viele Stufen hatte die Treppe. Oben stand Michel und schaute zu ihr herunter. Oder war es Karola? Karolas Kö rper mit Michels Gesicht? Als sie nä her kam, die Beine schlepp­ten schon, zerfiel Karola-Michel, zerfiel in kaleido­skopartige Stü ckchen. Eva schloss die Augen. Auf Hä nden und Fü ß en kroch sie weiter die Treppe hinauf. Endlich wagte sie, die Augen wieder zu ö ffnen. Dort

 

oben stand Michel, viel weiter oben jetzt. Er hatte ihr den Rü cken zugedreht. »Michel«, rief sie. »Michel! « Er drehte sich um. »Komm nicht«, sagte er mit einer ganz fremden Stimme. »Geh zurü ck oder ich werde dich erstechen. « Jetzt erst sah Eva, dass er in der Hand einen Sä bel trug. Die Klinge blitzte, als er ihn langsam hochhob. Eva schrie, drehte sich um und wollte die Treppe hinunterlaufen. Aber vor ihr war nur ein Loch, ein gä hnendes, graues, endloses Loch. Das gibt es doch nicht, dachte Eva. Eine Treppe kann doch nicht plö tz­lich weg sein. Da fiel sie in das Loch, ein endloses Fal­len war das. Die Angst drü ckte ihr die Luft ab und er­stickte ihren Schrei. Das Blut hä mmerte in ihrem Kopf, und in dem Moment, als sie dachte, jetzt, jetzt schlage ich auf, jetzt werde ich sterben, jetzt, jetzt, in diesem Moment wachte sie auf, merkte, dass sie in ih­rem Bett lag, und fing vor Erleichterung an zu weinen. Im Kü hlschrank war noch eine Schü ssel Pudding. Schokoladenpudding.

 


 

Sonntag. Eva hasste diese Sonntage, die immer glei­chen Sonntage, die sich fast nur durch Regen, Sonne, Schnee und Wind unterschieden und gelegentlich durch einen Kinobesuch. Sie hasste sie noch mehr als die Wochentage, an denen sie wenigstens die Hoffnung haben konnte, dass irgendetwas passierte, dass jemand mit ihr sprach oder dass Franziska ihre Hand auf ihren Arm legte und ihr etwas erzä hlte. Sonntag, das hieß Lernen, um die Langeweile zu ü bertö nen, englische Vokabeln gegen das Gedudel von Bayern drei, mathe­matische Gleichungen gegen den rü lpsenden Sonntags­frieden.

Zum Frü hstü ck saß die Familie um den Tisch, um die dampfende Kaffeekanne und den Sonntagskuchen. Mutter im geblü mten Morgenrock, steif, Nylon, dun­kelrote Rö schen auf rosa Grund, und der Vater, noch nicht rasiert, mit dunkelblauem Bademantel ü ber dem Schlafanzug, blauweiß gestreift.

»Einen guten Kuchen hat unsere Mama wieder ge-backen«, sagte der Vater und die Mutter schaute auf ih­ren Teller und antwortete: »Ein bisschen braun ist er geworden. Ich hä tte den Herd fü nf Minuten eher aus­machen sollen. « Oder sie sagte: »Die Kä sefü llung ist

 

 

ein bisschen zu feucht. Die Unterhitze im Herd funk­tioniert nicht mehr so richtig. «

»Nein, Marianne«, widersprach der Vater. »Der Ku­chen ist wirklich gut. Nicht wahr, Kinder? «

Eva und Berthold stopften den Kuchen in sich hi­nein und murmelten mit vollem Mund »besonders gut«, wie jeden Sonntag.

Um halb zwö lf Aufbruch der ganzen Familie zum Mittagessen bei Oma. »Wir halten das Familienleben hoch«, hatte die Mutter zur Schmidhuber gesagt. »Ich sage immer, es gibt nichts Wichtigeres fü r Kinder als ein gutes Familienleben. Und dazu gehö rt, dass wir je­den Sonntag bei den Eltern meines Mannes zu Mittag essen. « Und die Schmidhuber hatte genickt und gesagt, wenn alle Familien so intakt waren, gä be es weniger Jugendkriminalitä t. Eva hä tte am liebsten laut ge-

schrien.

Alle waren ordentlich angezogen und gekä mmt. Fin­gernä gelkontrolle. Evas Fingernä gel waren immer sehr kurz geschnitten, bis zur Fingerkuppe musste sie sie herunterschneiden, um die zerbissenen und zerfransten Rä nder wieder glatt zu bekommen.

Berthold, mü rrisch, schlecht gelaunt, erwischte noch schnell eine Ohrfeige, sonntags, beim Aufbruch, weil er lieber Fuß ball gespielt hä tte drü ben in den Anlagen, mit seinen Freunden, und es nicht schaffte, wortlos zu verzichten, schweigend seinen Wunsch zu unter­drü cken.

 

                                            

 

»Aber Fritz, doch nicht am Sonntag! «, sagte die Mutter.

»Wenn er es aber verdient hat! «, antwortete der Vater.

Bei schö nem Wetter gingen sie zu Fuß, nur wenn es regnete, nahmen sie das Auto. »Das tut gut nach einer Woche im Bü ro«, sagte der Vater und dehnte seine Schultern, ging mit federnden Schritten, ein stattlicher Mann, durch die sonntä glich leeren Straß en. Von der Anlage drü ben hö rte man das Geschrei der Buben: »Toooor! « Berthold drehte den Kopf zur Seite. Auf seiner Backe sah man noch die rö tlichen Spuren der Ohrfeige.

Eva trottete hinter den anderen her. Sie ging nicht gern zur Oma. Noch nie war sie gern zur Oma gegan­gen.

Sie erinnerte sich noch genau, wie das damals war, als sie bei Oma gewesen war. Als Mama im Kranken­haus gewesen war. »Evachen hier« und »Evachen da« und der Geruch von Putzmitteln ü berall. »Rä um auf, Evachen. Ein braves Mä dchen isst seinen Teller leer. Ein braves Mä dchen rä umt seine Spielsachen weg. Ein braves Mä dchen gibt der Oma ein Kü sschen. « Eva hatte nur noch auf den Vater gewartet.

Sie war schon fü nf gewesen bei Bertholds Geburt, sie erinnerte sich an die Freude des Vaters, die laute, aufgeregte Stimme. »Stellt euch vor, ein Junge! Es ist tatsä chlich ein Junge. « Das Lachen des Vaters war an-

 

ders, ganz anders als das Lachen, das er fü r Eva hatte. Sie hatte zu ihm gehen wollen, sich in seine Arme wer­fen, hatte den ganzen Tag schon darauf gewartet, dass er kommen wü rde, der Vater, dass er sie auf seine Knie heben wü rde, hatte darauf gewartet, dass er sie kitzeln wü rde, bis sie kreischen mü sste vor Lachen, bis ihr Bauch hart wü rde und fast wehtä te, aber nur fast. Auf diese schmale Kippe zwischen Lust und Schmerz hatte sie gewartet.

Und dann war er da und er sah sie nicht. »Ein Jun­ge«, sagte er. »Stellt euch vor, es ist ein Junge. « Eva war noch einen Schritt auf ihn zugegangen, hatte die Arme nach ihm ausgestreckt. Er hatte sie nicht be­merkt. »Und was fü r einer. Acht Pfund wiegt er. «

Die Oma hatte die Hä nde zusammengeschlagen, na so was, endlich ein Junge, war an den Kü chenschrank gegangen, hatte die obere Tü r aufgemacht, die Glastü r, an die Eva damals noch nicht drankam, die Oma hatte sich gereckt und eine Flasche herausgeholt. Der Rock war ihr hochgerutscht und Eva hatte den Wulst gese­hen, diesen Strumpfwulst ü ber Omas Knien. Sie rollte die Strü mpfe immer ü ber den Knien zu einem Wulst, der dann mit einem Gummiband gehalten wurde. Ü ber dem braunen Wollstrick waren Omas Beine sehr weiß, wie Hefeteig sah die Haut aus, wie der Teig, der in ei­ner Schü ssel unter einem sauberen weiß en Kü chen­handtuch blasig aufgegangen war.

Sie hatten am Kü chentisch gesessen, der Vater hatte

das kleine Glä schen ein paar Mal leer getrunken, die Oma hatte ihm nachgeschenkt, der Vater hatte mit ro­tem Gesicht gelacht, ja, ein Junge, und die Oma hatte gesagt: »Das war auch damals, bei deiner Geburt, eine Freude, das kannst du dir gar nicht vorstellen«, und hatte dem Vater die Hä nde getä tschelt.

Und Eva hatte dabeigestanden und die Tischdecke angestarrt, blauweiß e Karos, Eva hatte angefangen, sie zu zä hlen, die Karos, bis zehn konnte sie zä hlen da­mals. Auf einem weiß en Karo war ein grü ner Fleck ge­wesen, Spinat vom Mittagessen. »Spinat ist gesund«, hatte Oma gesagt. Eva mochte keinen Spinat.

»Berthold soll er heiß en. «

Eva war ganz leise hinü bergegangen in das Schlaf­zimmer, hatte sich m Omas Bett gelegt, die riesige, weiß e Zudecke ü ber sich gezogen, weiß mit eingestick­tem Monogramm, EM, E, weil Oma Elfriede hieß, und M, weil sie, bevor sie den Opa heiratete, Mü ller gehei­ß en hatte.

Eva setzte automatisch einen Fuß vor den anderen. Sie ging nicht gern spazieren. Nach einer halben Stunde fing der Vater auch noch an zu drä ngeln: »Los, Kinder, ein bisschen schneller! Wir wollen Oma doch nicht warten lassen. «

Eva war schon wieder ganz verschwitzt und wischte sich mit einem Tempotaschentuch ü ber das heiß e Ge­sicht. Endlich waren sie da, an den alten Wohnblocks.

Oma und Opa wohnten im Hinterhaus, im ersten Stock. Eva mochte diese dü stere Wohnung nicht, hatte sie noch nie gemocht. Alles war mit Mö beln voll ge­stellt, ü berall hingen Fotos an den Wä nden.

»Das ist deine Tante Adelheid. Die ist nach Amerika ausgewandert. Sie hat ihren Mann in Deutschland ken­nen gelernt, er war hier stationiert, ein guter Mann. Schau, drei Kinder hat sie. «

Und Eva schaute das Foto an, eine krä ftige Frau un­ter einem bunten Weihnachtsbaum, der Mann und die Kinder standen neben ihr.

»Jeden Monat schreibt sie einen Brief«, sagte die Oma und wischte sich mit dem Schü rzenzipfel ü ber die Augen. »Jeden Monat schreibt sie. «

»Ja, ja, Mutter«, sagte der Vater und legte ihr den Arm um die Schulter. »Ist schon gut, Mutter. «

»Ach Gott, die Gans«, rief die Oma und watschelte in die Kü che.

Gans bei der Hitze, dachte Eva. Sie stand am Vertiko und betrachtete die Fotos ihres Vaters, die da in schmalen Goldrä hmchen aufgereiht waren: Vater am ersten Schultae, ein dicklicher Junge mit einem dunk-



  

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