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& Gelberg 1 страница



 

Roman


Mirjam Pressler, geboren 1940 in Darmstadt, besuchte die Hochschule fü r Bildende Kü nste in Frankfurt und lebt heute als freischaffende Autorin und Ü bersetzerin in Mü nchen. Im Programm Beltz & Gelberg erschienen u. a. die Romane Bitterschokolade (Oldenburger Jugendbuchpreis 1980), Kratzer im Lack, Novemberkatzen, Nickel Vogelpfeifer (Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis 1987), Wenn das Glü ck kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen (Deutscher Jugendliteraturpreis) sowie die Biographie ü ber Anne Frank Ich sehne mich so. Fü r ihr Ü bersetzerwerk wurde Mirjam Press­ler mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises 1994 ausge­zeichnet.


BELTZ

& Gelberg


Oldenburger Jugendbuchpreis 1980 Bitterschokolade wurde von Gabriele Presber verfilmt (25 Min., 16 mm).

Informationen ü ber FWU, Institut fü r Film und Bild,

Postfach 1261, D-82026 Grü nwald, Tel. 089/6497444, Fax 089/6497240;

E-mail: info-fwu@t-online. de

http: //www. FWU. de

Zu Bitterschokola. de gibt es ein Lehrerbegleitheft,

erhä ltlich gegen eine Schutzgebü hr von DM 3, -

Beltz Verlag, Postfach 100161, 69441 Weinheim

ISBN 3 407 99061 8

Gulliver Taschenbuch 403

© 1980, 1986 Beltz Verlag, Weinheim und Basel

Programm Beltz & Gelberg, Weinheim

Alle Rechte vorbehalten

Einband von Max Bartholl

unter Verwendung eines Fotos von Monika Paulick

Gesetzt nach der neuen Rechtschreibung

Gesamtherstellung Druckhaus Beltz, 69494 Hemsbach

Printed in Germany

ISBN 3 407 78403 l

21 22 23 03 02 01 00


»Eva«, sagte Herr Hochstein. Eva senkte den Kopf, griff nach ihrem Fü ller, schrieb. »Eva«, sagte Herr Hochstein noch einmal. Eva senkte den Kopf tiefer, griff nach Lineal und Bleistift, zeichnete die Pyramide. Sie hö rte ihn nicht. Sie wollte ihn nicht hö ren. Nicht aufstehen, nicht zur Tafel gehen. Jetzt hatte sie gewa­ckelt. Blind tastete sie nach dem Federmä ppchen, ließ ihre Finger ü ber die Gegenstä nde gleiten, harte Blei­stifte, ein kleiner, kantiger Metallspitzer, der Kugel­schreiber mit der abgebrochenen Klammer, aber kein Radiergummi. Sie nahm ihre Schultasche auf die Knie, suchte mit gesenktem Kopf. Man kann lange nach ei­nem Radiergummi wü hlen. Ein Radiergummi ist klein in einer Schultasche.

»Barbara«, sagte Herr Hochstein. In der dritten Rei­he erhob sich Babsi und ging zur Tafel. Eva schaute nicht auf. Aber sie wusste trotzdem, wie Babsi ging, mit schmalen, langen Beinen, mit dem kleinen Hintern in engen Jeans.

Eva fand den Radiergummi und hä ngte die Schulta­sche wieder an den Haken. Sie radierte die verwackelte Linie und zog sie neu.

»Gut hast du das gemacht, Barbara«, sagte Herr


Hochstein. Babsi kam durch den schmalen Gang zwi­schen den Bankreihen zurü ck und setzte sich. In ihr Stuhlrü cken hinein schrillte die Glocke.

Dritte Stunde Sport. Gekicher und Lachen im Um­kleideraum. Es wü rde ein heiß er Tag werden, es war jetzt schon heiß. Eva zog ihre schwarzen Leggings an, wie immer, und dazu ein schwarzes T-Shirt mit kurzen Ä rmeln. Sie gingen zum Sportplatz. Frau Madler pfiff und alle stellten sich in einer Reihe auf. Handball.

»Alexandra und Susanne wä hlen die Mannschaft. «

Eva kauerte sich nieder, ö ffnete die Schleife an ihrem linken Turnschuh, zog den Schnü rsenkel heraus und fä delte ihn neu ein.

Alexandra sagte: »Petra. «

Susanne sagte: »Karin. «

Eva hatte den Schnü rsenkel durch die beiden unters­ten Lö cher geschoben und zog ihn gerade, sorgfä ltig zog sie die beiden Teile auf gleiche Lä nge.

»Karola. « - »Anna. « - »Ines. « - »Nina. « - »Kath-rin. «

Eva fä delte langsamer.

»Maxi. « - »Ingrid. « - »Babsi. « - »Monika. « - »Fran-ziska. « - »Christine. «

Eva begann mit der Schleife. Sie kreuzte die Bä nder und zog sie zusammen.

»Sabine Mü ller. « - »Lena. « - »Claudia. « - »Ruth. « -»Sabine Karl. «

Eva ließ das Band ü ber ihre Finger gleiten, legte die


Schleife und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefin­ger fest.

»Irmgard. « — »Maja. « - »Inge. « - »Ulrike. « - »Han­na. « - »Kerstin. «

Ich mü sste meine Turnschuhe mal wieder waschen, dachte Eva, sie haben es nö tig.

»Gabi. « - »Anita. « - »Agnes. « - »Eva. «

Eva zog die Schleife fest und erhob sich. Sie war in Alexandras Gruppe.

Eva schwitzte. Der Schweiß rann ihr von der Stirn ü ber die Augenbrauen, ü ber die Backen und manchmal sogar in die Augen. Immer wieder musste sie ihn mit dem Unterarm und dem Handrü cken wegwischen. Der Ball war hart und schwer, und die Finger taten ihr weh, wenn sie ihn einmal erwischte.

Auch die anderen hatten groß e Schweiß flecken unter den Armen, als die Stunde zu Ende war. Eva ging sehr langsam zum Umkleideraum, sie zog sich sehr langsam aus. Als sie sich ihr groß es Handtuch ü bergehä ngt hatte und die Tü r aufmachte, waren nur noch ein paar Mä dchen im Duschraum. Sie ging zur hintersten Du­sche, zu der in der Ecke. Nun beeilte sie sich, ließ das kalte Wasser ü ber Rü cken und Bauch laufen, nicht ü ber den Kopf, das Fö nen dauerte bei ihr zu lange. Mit den Hä nden klatschte sie sich Wasser ins Gesicht. Die Zementwand bekam dunkle Flecken, wo sie nass geworden war. Jetzt war Eva ganz allein im Dusch­raum. In aller Ruhe trocknete sie sich ab und hä ngte


sich das Handtuch wieder so ü ber die Schulter, dass es ihren Busen und ihren Bauch verdeckte. Im Umkleide-rauni war niemand mehr. Als sie sich gerade ihren Rock angezogen hatte, ö ffnete Frau Madler die Tü r. »Ach, Eva, du bist noch da. Bring mir doch nachher den Schlü ssel. «

Eva kreuzte die Arme vor ihrer Brust und nickte.   

Die groß e Pause hatte schon angefangen. Eva holte sich ihr Buch aus dem Klassenzimmer und ging in den Pausenhof. Sie drä ngte sich zwischen den Mä dchen hindurch bis zu ihrer Ecke am Zaun. Ihre Ecke! Sie setzte sich auf den Zementsockel des Zaunes und blä t­terte in ihrem Buch, suchte die Stelle, an der sie gestern Abend aufgehö rt hatte zu lesen. Neben ihr standen Lena, Babsi, Karola und Tine. Babsi war aber doch die Schö nste. Dass sie sich das traute, das enge, weiß e T-Shirt ü ber der nackten Brust!

Eva fand die Stelle im Buch. Ich betrachtete den To­ten, seine ausgezehrte Gestalt. Die Falten in seinem Gesicht, obwohl er hö chstens fü nfunddreiß ig sein mochte. Er war einen fü r die Indios typischen Tod ge­storben. An Entkrä ftung. Sie kauen Kokablä tter, um den Hunger zu unterdrü cken, und eines Tages fallen sie um und sind tot.

»Ich war gestern in der Disko. Mit Johannes, dem Sohn von Dr. Braun. «

»Mensch, Babsi, das ist ja toll. Wie ist der denn so, so aus der Nä he? «


»Prima. Und tanzen kann der! «

Eva las weiter in »Warum zeigst du der Welt das Licht? « Vom schlanken Schlemmer bis hin zur Holly­woodkur fiel mir alles ein. Von der Vernichtung der Ü berproduktion in der EWG bis zu den Appetithem­mern, die in den Schaufenstern der Apotheken ange­priesen werden.

»Seid ihr mit seinem Auto gefahren? «

»Natü rlich. «

»Mein Bruder ist mit ihm in einer Klasse. «

Er hatte Hunger, ich wusste es. Auch ich hatte Hun­ger, und ich konnte meine Rö cke nur mehr mit Sicher­heitsnadeln daran hindern, mir am Kö rper herunterzu­rutschen. Ich machte die natü rlichste Abmagerungskur der Welt. Ich hatte wenig zu essen.

Die Mä dchen kicherten. Eva konnte nichts mehr verstehen, sie flü sterten jetzt. Franziska setzte sich ne­ben Eva.

»Was liest du denn? «

Eva klappte das Buch zu, den noch nicht gelesenen Teil zwischen Ringfinger und Mittelfinger haltend.

»Warum zeigst du der Welt das Licht? «, las Franzis­ka laut. »Ich kenne es auch. Gefä llt es dir? «

Eva nickte. »Es ist spannend. Und manchmal trau­rig. «

»Magst du traurige Bü cher? «

»Ja. Ich finde, wenn ein Buch gut sein soll, muss man wenigstens einmal weinen kö nnen beim Lesen. «



»Ich weine eigentlich nie beim Lesen. Aber im Kino, wenn es traurig ist, weine ich sehr schnell. «

»Bei mir ist es umgekehrt. Im Kino weine ich nie, aber beim Lesen oft. Ich gehe aber auch selten ins Kino. «

»Wir kö nnten doch mal zusammen gehen. Magst du? «

Eva zuckte mit den Schultern. »Kö nnten wir. «

Wann weinte sie? Welche Stellen in Bü chern waren es, die sie zum Weinen brachten? Eigentlich immer Worte wie Liebe, Streicheln, Vertrauen, Einsamkeit, richtig kitschige Worte. Eva betrachtete Karola und Lena. Lena hatte den Arm um Karola gelegt, sehr be­sitzergreifend, sehr selbstbewusst. So, genau so, hatte Karola frü her den Arm um sie gelegt. Eva kannte das Gefü hl von Wä rme, das man fü hlt, wenn man von je­mand anders den Arm um die Schulter gelegt be­kommt, so ganz offen, vor allen anderen, so selbstver­stä ndlich. Es tat weh, das zu sehen. Wussten denn die, die das taten, die ihre Vertrautheit miteinander de­monstrierten, nicht, wie weh das den anderen tat? De­nen, die niemand hatten, die allein waren, ohne Nä he, ohne jemanden, den man unbefangen anfassen konnte, wenn man wollte.

Eva stand auf. »Ich hole mir noch einen Tee«, sagte sie. Sie wollte Franziska nicht verletzen, die Einzige, von der sie begrü ß t wurde, wenn sie morgens in die Klasse kam.


Eva kam immer spä t, im letzten Moment. An der Ecke Friedrichstraß e/Elisabethstraß e war eine Nor­maluhr, dort wartete sie immer, bis es vier Minuten vor acht war, um ja nicht zu frü h anzukommen, um dem morgendlichen > Weiß t-du-gestern-habe-ich< zu entge­hen.

Der Tee schmeckte schal und sü ß lich. Er war nur heiß.

Eva stand vor dem Schaufenster des Feinkostladens Schneider. Sie hatte sich dicht an die Schaufensterschei­be gestellt, damit sie ihr Bild im Glas nicht sehen musste, eine verzerrte, verschwommene Eva. Sie wollte das nicht sehen. Sie wusste auch so, dass sie zu fett war. Jeden Tag, fü nfmal in der Woche, konnte sie sich mit anderen vergleichen. Fü nf Vormittage, an denen sie gezwungen war zuzuschauen, wie die anderen in ihren engen Jeans herumliefen. Nur sie war so fett. Sie war so fett, dass keiner sie anschauen mochte. Als sie elf oder zwö lf Jahre alt gewesen war, hatte es damit ange­fangen, dass sie immer Hunger hatte und nie satt wur­de. Und jetzt, mit fü nfzehn, wog sie einhundertvier-unddreiß ig Pfund. Siebenundsechzig Kilo, und sie war nicht besonders groß.

Und auch jetzt hatte sie Hunger, immer hatte sie nach der Schule Hunger. Mechanisch zä hlte sie die Geldstü cke in ihrem Portemonnaie. Vier Mark fü nf-undachtzig hatte sie noch. Der Heringssalat kostete


 




zwei Mark hundert Gramm. Im Laden war es kü hl nach der sengenden Hitze drauß en. Bei dem Geruch nach Essen wurde ihr fast schwindelig vor Hunger.

»Zweihundert Gramm Heringssalat mit Mayonnaise, bitte«, sagte sie leise zu der Verkä uferin, die gelang­weilt hinter der Theke stand und sich trä ge am Ohr kratzte. Es schien einen Moment zu dauern, bis sie ka­pierte, was Eva wollte. Doch dann nahm sie den Finger von ihrem Ohr und griff nach einem Plastikbecher. Sie lö ffelte die Heringsstü ckchen und die Gurkenscheiben hinein, klatschte noch einen Lö ffel Mayonnaise darauf und stellte den Becher auf die Waage. »Vier Mark«, sagte sie gleichgü ltig.

Hastig legte Eva das Geld auf den Tisch, nahm den Becher und verließ gruß los den Laden. Die Verkä ufe­rin fuhr fort, sich am Ohr zu kratzen.

Drauß en war es wieder heiß, die Sonne knallte vom Himmel. Wie kann es nur im Juni so warm sein, dachte Eva. Der Becher in ihrer Hand war kalt. Sie beschleu­nigte ihre Schritte, sie rannte fast, als sie den Park be­trat. Ü berall auf den Bä nken saß en Leute in der Sonne, Mä nner hatten sich die Hemden ausgezogen, Frauen die Rö cke bis weit ü ber die Knie hochgeschoben, da­mit auch ihre Beine braun wü rden. Eva ging langsam an den Bä nken vorbei. Schauten ihr die Leute nach? Redeten sie ü ber sie? Lachten sie darü ber, dass ein jun­ges Mä dchen so fett sein konnte?

Sie war an den Bü schen angekommen, die die Bank-


reihe von dem Spielplatz trennten. Schnell drü ckte sie sich zwischen zwei Weiß dornhecken hindurch. Die Zweige schlugen hinter ihr wieder zusammen.

Hier war sie ungestö rt, hier konnte sie keiner sehen. Sie ließ die Schultasche von der Schulter gleiten und kauerte sich auf den Boden. Das Gras kitzelte ihre nackten Beine. Sie hob den Deckel von dem Becher und legte ihn neben sich auf den Boden. Einen Mo­ment lang starrte sie den Becher andä chtig an, die graurosa Heringsstü ckchen in der fetten, weiß en Mayonnaise. An einem Fischstü ck sah man noch die blausilberne Haut. Sie nahm dieses Stü ck vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger und steckte es dann in den Mund. Kü hl war es und sä uerlich scharf. Sie schob es langsam mit der Zunge hin und her, bis sie auch deutlich den dä mpfenden, fetten Geschmack der Mayonnaise spü rte. Dann fing sie an zu kauen und zu schlucken, griff wieder mit den Fingern in den Becher und stopfte die Heringe in den Mund. Den letzten Rest der Sauce schabte sie mit dem Zeigefinger heraus. Seufzend erhob sie sich, als der Becher leer war, und warf ihn unter einen Busch. Dann nahm sie ihre Schul­tasche wieder ü ber ihre Schulter und glä ttete mit den Hä nden ihren Rock. Sie fü hlte sich traurig und mü de.


 





Eva klingelte unten am Hauseingang, zweimal kurz. Das tat sie immer. Ihre Mutter drehte dann die Platte des Elektroherdes an, auf dem das Mittagessen zum Aufwä rmen stand. Wenn Eva nach Hause kam, hatten ihre Mutter und ihr Bruder bereits gegessen. Berthold war erst zehn und ging noch in die Grundschule um die Ecke.

Diesmal war das Essen noch nicht fertig. Es gab Pfannkuchen mit Apfelmus und Pfannkuchen machte ihre Mutter immer frisch. »Schö n knusprig mü ssen sie sein. Aufgewä rmt sind sie wie Waschlappen. «

»Wo ist Berthold? «, fragte Eva, als sie sich an den Tisch setzte. Irgendetwas musste man ja sagen.

»Schon lang im Schwimmbad. Er hat hitzefrei. «

»Das mü sste uns auch mal passieren«, sagte Eva. »Aber bei uns ist es ja angeblich kü hl genug in den Rä umen. «

Die Mutter hatte die Pfanne auf die Herdplatte ge­stellt. Es zischte laut, als sie einen Schö pflö ffel Teig in das heiß e, brutzelnde Fett goss. »Was hast du heute vor? «, fragte sie und wendete den Pfannkuchen. Eva lö ffelte sich Apfelmus in eine Glasschü ssel und begann zu essen. Von dem Geruch des heiß en Fettes wurde


ihr ü bel. »Ich mag keine Pfannkuchen, Mama«, sagte sie.

Die Mutter hielt einen Moment inne, stand da, den Bratenwender mit dem darü ber hä ngenden Pfannku­chen in der Hand, und sah ihre Tochter erstaunt an. »Wieso? Bist du krank? «

»Nein. Ich mag heute nur keine Pfannkuchen. «

»Aber sonst isst du Pfannkuchen doch so gern. «

»Ich habe nicht gesagt, dass ich Pfannkuchen nicht gern esse. Ich habe gesagt, ich mag heute keinen. «

»Das versteh ich nicht. Wenn du sie doch sonst im­mer gern gegessen hast...! «

»Heute nicht. «

Die Mutter wurde bö se. »Ich stell mich doch nicht bei dieser Hitze hin und koche und dann willst du nichts essen. « Klatsch! Der Pfannkuchen lag auf Evas Teller. »Dabei habe ich extra auf dich gewartet. « Die Mutter ließ wieder Teig in die Pfanne laufen. »Eigent­lich wollte ich schon um zwei bei Tante Renate sein. «

»Warum bist du nicht gegangen? Ich bin doch kein kleines Kind mehr. «

Die Mutter wendete den nä chsten Pfannkuchen. »Das sagst du so. Und wenn ich nicht aufpasse, kriegst du nichts Gescheites in den Magen. «

Mechanisch bedeckte Eva den Pfannkuchen mit Ap­felmus. Da war auch schon der Zweite. »Aber jetzt langt es, Mama«, bat Eva.

Die Mutter hatte die Pfanne vom Herd genommen


 




und zog sich eine frische Bluse an. »Ich habe im Kauf­hof einen schö nen karierten Stoff gefunden, ganz billig, sechs Mark achtzig der Meter. Renate hat mir verspro­chen, dass sie mir ein Sommerkleid macht. «

»Du kannst doch selbst schon so gut nä hen«, sagte Eva. »Wozu musst du immer noch zur Schmidhuber? «

»Sag nicht immer > die Schmidhuber<. Sag > Tante Re­naten«

»Sie ist nicht meine Tante. «

»Aber sie ist meine Freundin. Und sie mag dich. Sie hat schon viele schö ne Sachen fü r dich gemacht. «

Das stimmte. Sie nä hte immer wieder Kleider und Rö cke fü r Eva, und sie konnte ja nichts dafü r, dass Eva in diesen Kleidern unmö glich aussah. Eva sah in allen Kleidern unmö glich aus.

»Was machst du heute Nachmittag? «, fragte die Mutter.

»Ich weiß noch nicht. Hausaufgaben. «

»Du kannst doch nicht immer nur lernen, Kind. Du musst doch auch mal deinen Spaß haben. In deinem Alter war ich schon lä ngst mit Jungen verabredet. «

»Mama, bitte, verschon mich. «

»Ich meine es doch nur gut mit dir. Fü nfzehn Jahre alt und sitzt zu Hause rum wie ein Trauerkloß. «

Eva stö hnte laut.

»Gut, gut. Ich weiß ja, dass du dir von mir nichts sa­gen lä sst. Mö chtest du vielleicht einmal ins Kino ge­hen? Soll ich dir Geld geben? « Die Mutter ö ffnete das


Portemonnaie und legte zwei Fü nfmarkstü cke auf den Tisch. »Das brauchst du mir nicht zurü ckzugeben. «

»Danke, Mama. «

»Ich gehe jetzt. Vor sechs komme ich nicht zurü ck. «

Eva nickte, aber die Mutter sah es schon nicht mehr, die Wohnungstü r war hinter ihr zugefallen.

Eva atmete auf. Die Mutter und ihre Schmidhuber! Eva konnte die Schmidhuber nicht ausstehen. > Tante Renate<! Eva vermied die direkte Anrede. Sie wunderte sich immer wieder, wie leicht Berthold das > Tante Re-nate< sagte und sich ü ber den Kopf streicheln ließ. »Sie mag Kinder so gern. Es ist ihr grö ß ter Kummer, dass sie selbst keine bekommen kann«, hatte die Mutter ge­sagt. Von dem Kummer merkt man aber nicht viel, hatte Eva gedacht.

»Na, Eva, was macht die Schule? Hast du schon ei­nen Freund? « Hihi-Gekicher in dem runden Gesicht, volle, rot gemalte Lippen ü ber weiß en Zä hnen und runde Arme, die sich um Eva legen wollten. Und ein tiefer Ausschnitt, der den Schatten zwischen den hoch­geschnü rten Brü sten sehen ließ. »Man kann ruhig zei­gen, was man hat, nicht wahr, Marianne? « Und Evas Mutter hatte beifä llig genickt. Sie nickte immer beifä l­lig, wenn die Schmidhuber etwas sagte. Eva fand, dass die Hä lfte der Menschheit mit einem Busen herumlief und dass es keinen Grund gab, sich darauf was einzu­bilden und ihn besonders zur Schau zu stellen.

Eva ging in ihr Zimmer. Sie legte eine Kassette von


 




Leonard Cohen ein und drehte den Lautsprecher auf volle Stä rke. Das konnte sie nur machen, wenn ihre Mutter nicht da war. Sie legte sich auf ihr Bett. Die tie­fe, heisere Stimme erfü llte mit ihren trä gen Liedern das Zimmer und vibrierte auf Evas Haut.

Sie ö ffnete die Nachttischschublade. Es stimmte, da war wirklich noch eine Tafel Schokolade. Sie ließ sich wieder auf das Bett fallen und wickelte mit behutsa­men Bewegungen die Schokolade aus dem Silberpapier. Es war ein Glü ck, dass ihr Zimmer nach Osten lag. Die Schokolade war weich, aber nicht geschmolzen. Sie brach einen Riegel ab, teilte ihn noch einmal und schob sich die beiden Stü ckchen m den Mund. Zartbit­ter! Zart-zä rtlich, bitter-bitterlich. Zä rtlich streicheln, bitterlich weinen. Eva steckte schnell noch ein Stü ck in den Mund und streckte sich aus. Die Arme unter dem Nacken verschrä nkt, das rechte Knie angezogen und den linken Unterschenkel quer darü ber gelegt, lag sie da und betrachtete ihren nackten linken Fuß. Wie zier­lich er doch war im Vergleich zu ihren unfö rmigen Waden und Oberschenkeln. Sie ließ den Fuß leicht auf- und abwippen und bewunderte die Form der Ze­hennä gel. Halbmondfö rmig, dachte sie.

Ihre Mutter hatte dicke Ballen an den Fü ß en, breite Plattfü ß e hatte sie, richtig hä ssliche Fü ß e, mit nach der Mitte eingebogenen Zehen. Eva ekelte sich vor den Fü ­ß en ihrer Mutter, vor allem im Sommer, wenn die Mutter Riemensandalen trug und die rö tlich verfä rbten


Beulen seitlich zwischen den schmalen Lederriemchen herausquollen.

Eva griff wieder nach der Schokolade. Leonard Co­hen sang: »She was takmg her body so brave und so free, if I am to remember, it's a fine memory. « Auto­matisch ü bersetzte sie in Gedanken: Sie trug ihren Kö rper so tapfer und frei, wenn ich mich erinnern soll: Es ist eine schö ne Erinnerung.

Der Geschmack der Schokolade wurde bitter in ih­rem Mund. Nicht zartbitter, sondern unangenehm bit­ter. Herb. Brennend. Schnell schluckte sie sie hinuner. Ich dü rfte keine Schokolade essen. Ich bin sowieso viel zu fett. Sie nahm sich vor, zum Abendessen nichts zu essen, auß er vielleicht einem kleinen Joghurt. Aber der bittere Geschmack in ihrem Mund blieb. »She was ta-king her body so brave and so free! « Sie, die Frau, von der Leonard Cohen sang, hatte sicher einen schö nen Kö rper, so wie Babsi, einen mit kleinen Brü sten und schmalen Schenkeln. Aber wieso nannte er sie dann tapfer? Als ob es tapfer wä re, sich zu zeigen, wenn man schö n war!

»Du bist wirklich zu dick«, hatte die Mutter neulich wieder gesagt. »Wenn du so weitermachst, passt du bald nicht mehr in normale Grö ß en. «

Der Vater hatte gegrinst. »Lass nur«, hatte er gesagt, »es gibt Mä nner, die haben ganz gern was in der Hand. « Dazu hatte er eine anzü gliche Handbewegung gemacht.


 




Eva war rot geworden und aufgestanden.

»Aber Fritz«, hatte die Mutter gesagt, »mach doch nicht immer solche Bemerkungen vor dem Kind. «

Das »Kind« hatte wü tend die Tü r hinter sich zuge­knallt.

Die Mutter war ihr in das Zimmer nachgekommen. »Sei doch nicht immer so empfindlich, Eva. Der Vater meint das doch nicht so. «

Aber Eva hatte ihr nicht geantwortet. Sie hatte wort­los und demonstrativ ihre Schulsachen auf dem Schreibtisch ausgebreitet. Die Mutter hatte noch eine Weile unschlü ssig an der Tü r herumgestanden und war dann gegangen.

Mä nner haben ganz gern was in der Hand, dachte Eva bö se. Als ob ich dazu da wä re, damit irgendein Mann was in der Hand hat.

Sie machte den Kassettenrecorder aus. Leonard Co-hens Stimme verstummte.

Eva war unruhig. Sie stand unschlü ssig in ihrem Zimmer und blickte sich um. Lesen? Nein. Aufgaben machen? Nein. Klavier spielen? Nein. Was blieb ei­gentlich noch? Spazieren gehen. Bei der Hitze! Viel­leicht doch noch schwimmen? Das war bei diesem Wetter keine schlechte Idee. Trotzdem war sie noch unentschlossen. Einerseits war das Wasser schon ver­lockend, aber andrerseits genierte sie sich immer im Badeanzug. Einen Bikini trug sie nie.

Im Mai hatte sie sich einen Badeanzug gekauft, einen


ganz teuren. Vater hatte eine Gehaltserhö hung bekom­men. Vergnü gt hatte er seine Brieftasche herausgezo­gen, schweinsledern, naturfarben, ein Weihnachtsge­schenk von der Oma, und Eva einen Hunderter in die Hand gedrü ckt. »Da, kauf dir was Schö nes. «

»Einen Badeanzug«, hatte die Mutter gesagt. »Du brauchtest einen Badeanzug. «

Eva stand am nä chsten Tag in der Kabine, ganz dicht vor dem Spiegel, und hä tte am liebsten vor Verzweif­lung geheult. She was taking her body so brave and so free. Eva hatte Angst gehabt, die Verkä uferin kö nnte den Vorhang zur Seite schieben und sie so sehen.

»Passt Ihnen der Anzug oder soll ich ihn eine Num­mer grö ß er bringen? «

Es war eine peinliche Erinnerung. Auch jetzt noch, in der Erinnerung, fü hlte Eva die Scham und ihre eige­ne Unbeholfenheit.

»Scheiß e«, sagte sie laut in ihr Zimmer.

Sie packte ihr Badezeug und ließ die Tü r hinter sich ins Schloss fallen. Tü renschmeiß en, das tat sie gern, das war eigentlich das Einzige, das sie tat, wenn sie sauer war. Was hä tte sie auch sonst tun sollen? Schrei­en? Wenn man schon wie ein Trampel aussah, sollte man nichts tun, um aufzufallen. Im Gegenteil.


 




Als Eva aus dem Haus trat, schlug ihr die Hitze entge­gen, flimmerte ü ber den Asphalt der Straß e und brannte in ihren Augen. Fast bedauerte sie es schon, nicht in ihrem kü hlen, ruhigen Zimmer geblieben zu sein. Sie nahm den Weg durch den Park. Er war zwar ein bisschen lä nger, aber wenn sie unter den Bä umen ging, war die Hitze erträ glicher.

Die Parkbä nke waren ziemlich leer um diese Zeit. Sie kam an den Bü schen vorbei, hinter denen sie ihren Heringssalat gegessen hatte. Sie betrachtete den Kies auf dem Weg. Er war gelblich braun und auch ihre nackten Zehen waren schon von einer gelblich braunen Staubschicht ü berzogen. Da rempelte sie mit jemand zusammen, stolperte und fiel.

»Hoppla! «, hö rte sie. »Hast du dir wehgetan? «

Sie hob den Kopf. Vor ihr stand ein Junge, vielleicht in ihrem Alter, und streckte ihr die Hand entgegen. Verblü fft griff sie danach und ließ sich von ihm beim Aufstehen helfen. Dann bü ckte er sich und reichte ihr das Handtuch mit dem Badeanzug, das auf den Boden gefallen war. Sie rollte es wieder zusammen.

»Danke. «

Ihr Knie war aufgeschü rft und brannte.


»Komm«, sagte der Junge. »Wir gehen rü ber zum Brunnen. Da kannst du dir dein Knie abwaschen. «

Eva schaute auf den Boden. Sie nickte. Der Junge lachte. »Na los, komm schon. « Er nahm ihre Hand und sie humpelte neben ihm her zum Brunnenrand.

»Ich heiß e Michel. Eigentlich Michael, aber alle sa­gen Michel zu mir. Und du? «

»Eva. « Sie schaute ihn von der Seite an. Er gefiel ihr.

»Eva. « Er dehnte das »e« ganz lang und grinste.

Sie war durcheinander und das Grinsen des Jungen machte sie bö se. »Da gibt es nichts zu lachen«, fauchte sie. »Ich weiß selbst, wie komisch das ist, wenn ein Elefant wie ich auch noch Eva heiß t. «

»Du spinnst ja«, sagte Michel. »Ich habe dir doch gar nichts getan. Wenn es dir nicht passt, kann ich ja wieder gehen. «

Aber er ging nicht.

Dann saß Eva auf dem Brunnenrand. Sie hatte ihre Sandalen ausgezogen und stellte ihre nackten Fü ß e in das seichte Wasser. Michel stand im Brunnen drin, schö pfte mit der hohlen Hand Wasser und ließ es ü ber ihr Knie rinnen. Es brannte und lief als brä unlich bluti­ge Soß e an ihrem Schienbein hinunter.

»Zu Hause solltest du dir ein Pflaster draufmachen. «

Sie nickte.

Michel stakte frö hlich im Brunnen herum. Eva musste lachen. »Eigentlich wollte ich ja ins Schwimm­bad. Aber der Brunnen tut's auch. «


 




»Und kostet nichts«, sagte Michel.

Eva stampfte ins Wasser, dass es hoch aufspritzte. Sie bü ckte sich und sprengte sich Wasser in das erhitzte Gesicht. Dann saß en sie wieder auf dem Mä uerchen, das um den Brunnen herumfü hrte.

»Wenn ich Geld hä tte, wü rde ich dich zu einer Cola einladen«, sagte Michel. »Aber leider...! «

Eva nestelte an ihrer Rocktasche und hielt ihm ein Fü nfmarkstü ck hin. »Bitte, lade mich ein. « Sie wurde rot.

Michel lachte wieder. Er hatte ein schö nes Lachen. »Du bist ein komisches Mä dchen. « Er nahm das Geld und einen Augenblick lang berü hrten sich ihre Hä nde.

»So, jetzt bin ich reich«, rief er ü bermü tig. »Was mö chte die Dame haben? Cola oder Limo? «

Sie gingen nebeneinander her zum anderen Ende des Parks, zum Gartencafe. Es war das erste Mal, dass sie mit einem Jungen ging, auß er mit ihrem Bruder natü r­lich. Sie schaute ihn von der Seite an.

»Eva ist doch ein schö ner Name«, sagte Michel plö tzlich. »Nur ein bisschen altmodisch klingt er. Aber das gefä llt mir. «

Sie fanden noch zwei freie Plä tze an einem Tisch un­ter einer groß en Platane. Hier war es voll. Die Leute lachten und redeten und tranken Bier. Die Cola war eiskalt.

»Mir war es ziemlich langweilig vorhin, bevor ich dich getroffen habe. «


»Mir auch. «

»Wie alt bist du? «, fragte Michel.

»Fü nfzehn. Und du? «

»Ich auch. «



  

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