Хелпикс

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& Gelberg 2 страница



»In welche Klasse gehst du? «, fragte Eva.

»In die Neunte. Fü r mich ist es bald aus mit der Ler­nerei. «

»Ich gehe auch in die Neunte. Ins Gymnasium. «

»Ach so. «

Sie schwiegen beide und nuckelten an ihrer Cola. Wenn ich nichts sage, hä lt er mich fü r doof und lang­weilig, dachte Eva. Aber er sagt ja auch nichts.

»Was machst du, wenn du mit der Schule fertig bist? «

»Ich? Ich werde Matrose. Natü rlich nicht gleich, aber in ein paar Jahren bin ich Matrose, darauf kannst du dich verlassen. Fü r mich gibt's diese ewige Stellen­sucherei nicht. Ich habe einen Onkel in Hamburg, der sucht ein Schiff fü r mich, als Schiffsjunge erst mal. Mein Onkel kennt genü gend Leute, der bringt mich bestimmt unter. Sobald ich mein Zeugnis in den Hä n­den habe, geht es los. «

Eva gab es einen Stich. Er wü rde bald nicht mehr da sein. Blö de Gans, dachte sie und zwang sich zu einem Lä cheln. »Ich muss noch ein paar Jahre in die Schule gehen. «

»Fü r mich wä re das nichts, immer diese Hockerei. «

»Mir macht es Spaß. «


 




Michel rü lpste laut. Die Bedienung kam vorbei. Mi­chel winkte ihr und bezahlte. Eine Mark bekam er he­raus. Er nahm sie und steckte sie ein. Eigentlich gehö rt sie mir, die Mark, dachte Eva.

Michel fragte: »Tut dein Knie noch weh? «

Eva schü ttelte den Kopf. »Nein, aber ich will jetzt heim. «

Sie gingen mit ruhigen, gleichmä ß igen Schritten ne­beneinander her. Obwohl sie sich nicht berü hrten, ach­teten sie darauf, dass ihre Schritte gleich lang waren.

»Gehen wir morgen zusammen ins Schwimmbad? «, fragte Michel.

Eva nickte. »Wann treffen wir uns? «

»Um drei am Brunnen. Ist dir das recht? «

Vor Evas Haus angekommen, gaben sie sich die Hä nde.

»Tschü ss, Eva. «

»Auf Wiedersehen, Michel. «

Die Mutter und Berthold waren noch nicht da. Eva schaute auf die Uhr. Viertel nach Fü nf. In einer halben Stunde wü rde ihr Vater nach Hause kommen. Eva ging ins Badezimmer und drehte den Wasserhahn an. Sie ließ das kalte Wasser ü ber ihre Hä nde und Arme lau­fen und schaute in den kleinen Spiegel ü ber dem Waschbecken. Sie hatte rö tliche Backen bekommen von der Sonne. Das sah eigentlich ganz schö n aus. Ihr Gesicht war ü berhaupt nicht so ü bel, und ihre Haare waren ausgesprochen schö n, dunkelblond und lockig,


und am Haaransatz an der Stirn krä uselten sie sich und waren ganz hell. Sie griff mit beiden Hä nden nach dem Pferdeschwanz und ö ffnete die Spange.

Jetzt sehe ich fast aus wie eine Madonna. So werde ich die Haare tragen, wenn ich erst einmal schlank bin, dachte sie.

Entschlossen band sie sich wieder den Pferde­schwanz und befestigte ihn mit der Spange. Dann machte sie sich an ihre Hausaufgaben. Aber es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren.

Sie hö rte, wie die Wohnungstü r aufgeschlossen wur­de. Ihr Vater kam nach Hause. Sie schaute sich schnell in ihrem Zimmer um und zog die Bettdecke glatt. Ihr Vater mochte das, wenn alles schö n ordentlich aussah. Manchmal war er richtig pedantisch. Auß erdem wusste sie nie, wie seine Laune war, wenn er nach Hause kam. Er konnte lange ü ber einen Pullover auf dem Fuß bo­den reden oder ü ber eine Schultasche in der Flurecke, wenn er schlecht gelaunt war. Ihre Mutter lief meistens um fü nf noch mal durch die ganze Wohnung und schaute nach, ob nichts herumlag. »Muss ja nicht sein, dass es Krach gibt«, sagte sie. »Wenn man es vermei­den kann! «

Gerade als Eva ü berlegte, warum er ihr manchmal so auf die Nerven ging, warum gewisse Eigenheiten von ihm sie so stö rten, dass sie ihn manchmal nicht aushal-ten konnte, gerade in diesem Moment ö ffnete er ihre Zimmertü r.


 




»Guten Abend, Eva. Das ist aber schö n, dass du so fleiß ig bist. «

Der Vater war hinter sie getreten und tä tschelte ih­ren Kopf. Eva hatte sich tief ü ber ihr Englischbuch ge­beugt und war froh, dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Sie musste sich zusammennehmen, um nicht in diese Hand zu beiß en.


Eva drü ckte auf den Knopf der Nachttischlampe. Nun war es fast ganz dunkel. Nur ein schwaches Licht drang durch das geö ffnete Fenster. Der Vorhang be­wegte sich und dankbar spü rte sie den leichten Luft­zug. Endlich war es ein bisschen kü hler geworden. Sie zog das Leintuch ü ber sich, das ihr in heiß en Nä chten als Zudecke diente, und kuschelte sich zurecht. Sie war zufrieden mit sich selbst, war richtig stolz auf sich, weil sie es geschafft hatte, das Gerede der Eltern beim Abendessen zu ü berhö ren und wirklich nur diesen ei­nen Joghurt zu essen. Wenn sie das zwei oder drei Wo­chen durchhielte, wü rde sie sicher zehn Pfund abneh­men. Ich bin stark genug dazu, dachte sie. Bestimmt bin ich stark genug dazu. Das hab ich ja heute Abend bewiesen.

Glü cklich rollte sie sich auf die Seite und schob ihr Lieblingskissen unter den Kopf. Eigentlich brauche ich ü berhaupt nicht mehr so viel zu essen. Heute die Scho­kolade war absolut unnö tig. Und wenn ich dann erst einmal schlank bin, kann ich ruhig abends wieder et­was essen. Vielleicht Toast mit Butter und dazu ein paar Scheiben Lachs.

Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, als sie an


 




diese rö tlich gemaserten, in Ö l schwimmenden Schei­ben dachte. Sie liebte den pikanten, etwas scharfen Geschmack von Lachs sehr. Und dazu warmer Toast, auf dem die Butter schmolz! Eigentlich mochte sie scharfe Sachen sowieso lieber als dieses sü ß e Zeug. Man wurde auch nicht so dick davon. Gerä ucherter Speck mit Zwiebeln und Sahnemeerrettich schmeckte ebenfalls ausgezeichnet. Oder eine gut gewü rzte Boh­nensuppe!

Nur ein einziges, kleines Stü ck Lachs kö nnte nicht schaden, wenn sie morgen frü h sowieso anfing, richtig zu fasten. Aber nein, sie war stark! Sie dachte daran, wie oft sie sich schon vorgenommen hatte, nichts zu essen oder sich wenigstens zurü ckzuhalten, und immer wieder war sie schwach geworden. Aber diesmal nicht! Diesmal war es ganz anders. Mit der grö ß ten Ruhe wü rde sie zusehen, wie ihr Bruder das Essen in sich hineinstopfte, wie ihre Mutter die Suppe lö ffelte und sie gleichzeitig laut lobte. Es wü rde ihr nichts ausma­chen, wenn ihr Vater in seiner pedantischen Art dicke Scheiben Schinken gleichmä ß ig auf das Brot verteilte und es dann noch sorgfä ltig mit kleinen, in der Mitte durchgeschnittenen Cornichons verzierte. Das alles wü rde ihr diesmal nichts ausmachen. Diesmal wü rde sie nicht mehr auf dem Heimweg nach der Schule vor dem Delikatessengeschä ft stehen und sich die Nase an der Scheibe platt drü cken. Sie wü rde nicht mehr hi­neingehen und fü r vier Mark Heringssalat kaufen, um


ihn dann hastig und verstohlen im Park mit den Fin­gern in den Mund zu stopfen. Diesmal nicht!

Und nach ein paar Wochen wü rden die anderen in der Schule sagen: Was fü r ein hü bsches Mä dchen die Eva ist, das ist uns frü her gar nicht so aufgefallen. Und Jungen wü rden sie vielleicht ansprechen, so wie andere Mä dchen, und sie einladen, mal mit ihnen in eine Dis­kothek zu gehen. Und Michel wü rde sich richtig in sie verlieben, weil sie so gut aussah. Bei diesem Gedanken wurde ihr warm. Sie hatte das Gefü hl zu schweben, leicht und schwerelos in ihrem Zimmer herumzuglei-ten. Frei und glü cklich war sie.

Eine kleine Scheibe Lachs wä re jetzt schö n. Eine ganz kleine Scheibe nur, lange hochgehalten, damit das Ö l richtig abgetropft war. Das kö nnte doch nicht scha­den, wenn sowieso jetzt alles gut wü rde, wenn sie so­wieso bald ganz schlank wä re.

Leise erhob sie sich und schlich in die Kü che. Erst als sie die Tü r hinter sich zugezogen hatte, drü ckte sie auf den Lichtschalter. Dann ö ffnete sie den Kü hl­schrank und griff nach der Dose Lachs. Drei Scheiben waren noch da. Sie nahm eine zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt sie hoch. Zuerst rann das Ö l in einem feinen Strahl daran herunter, dann tropfte es nur noch, immer langsamer. Noch ein Tropfen. Eva hielt die dü nne Scheibe gegen das Licht. Was fü r eine Farbe! Die Spucke sammelte sich in ihrem Mund und sie musste schlucken vor Aufregung. Nur dieses eine


 




Stü ck, dachte sie. Dann ö ffnete sie den Mund und schob den Lachs hinein. Sie drü ckte ihn mit der Zunge gegen den Gaumen, noch ganz langsam, fast zä rtlich, und fing an zu kauen, auch noch langsam, immer noch genü sslich. Dann schluckte sie ihn hinunter. Weg war er. Ihr Mund war sehr leer. Hastig schob sie die beiden noch verbliebenen Scheiben Lachs hinein. Diesmal wartete sie nicht, bis das Ö l abgetropft war, sie nahm sich auch keine Zeit, dem Geschmack nachzuspü ren, fast unzerkaut verschlang sie ihn.

In der durchsichtigen Plastikdose war nun nur noch Ö l. Sie nahm zwei Scheiben Weiß brot und steckte sie in den Toaster. Aber es dauerte ihr zu lange, bis das Brot fertig war. Sie konnte es keine Sekunde lä nger mehr aushaken. Ungeduldig schob sie den Hebel an der Seite des Gerä tes hoch und die Brotscheiben spran­gen heraus. Sie waren noch fast weiß, aber sie rochen warm und gut. Schnell bestrich sie sie mit Butter und sah fasziniert zu, wie die Butter anfing zu schmelzen, erst am Rand, wo sie dü nner geschmiert war, dann auch in der Mitte. Im Kü hlschrank lag noch ein groß es Stü ck Gorgonzola, der Lieblingskä se ihres Vaters. Sie nahm sich nicht die Zeit, mit dem Messer ein Stü ck abzuschneiden, sie biss einfach hinein, biss in das Brot, biss in den Kä se, biss, kaute, schluckte und biss wieder.

Was fü r ein wunderbarer, gut gefü llter Kü hlschrank. Ein hartes Ei, zwei Tomaten, einige Scheiben Schinken


und etwas Salami folgten Lachs, Toast und Kä se. Hin­gerissen kaute Eva, sie war nur Mund.

Dann wurde ihr schlecht. Sie merkte plö tzlich, dass sie in der Kü che stand, dass das Deckenlicht brannte und die Kü hlschranktü r offen war.

Eva weinte. Die Trä nen stiegen ihr in die Augen und liefen ü ber ihre Backen, wä hrend sie mit langsamen Bewegungen die Kü hlschranktü r schloss, den Tisch ab­wischte, das Licht ausmachte und zurü ck ging in ihr Bett.

Sie zog sich das Laken ü ber den Kopf und erstickte ihr Schluchzen im Kopfkissen.


 




Am nä chsten Morgen wachte Eva mit brennenden Au­gen auf. Erst wollte sie zu Hause bleiben, im Bett lie­gen, krank sein, sie wollte nicht aufstehen und wieder in der Schule sitzen, leidend und verbittert, und sich an die letzte Nacht erinnern. Und an die vielen Nä chte davor.

Mü de zog sie das Laken ü ber sich.

Die Mutter kam herein. »Aber Kind, es ist schon sie­ben. Steh doch endlich auf! « Und als Eva keine Anstal­ten machte, das Laken vom Kopf zu ziehen: »Fehlt dir was? Bist du krank? «

Eva setzte sich auf. »Nein. «

»Aber Kind, hast du was? Was ist denn los? « Die Mutter war auf Eva zugekommen und hatte die Arme um sie gelegt. Einen Moment lang, einen winzigen Moment lang, ließ sich Eva in diese Arme fallen. Die Mutter roch warm und gut, noch ohne Blendamed und Haarspray.

Doch dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. »Ich habe schlecht geschlafen«, sagte sie. »Das ist alles. «

In der Schule war es wie immer, seit Franziska neu in die Klasse gekommen war, Franziska, die seltsamer-


weise noch immer neben Eva saß, nach vier Monaten immer noch.

Eva hatte lang allein gesessen, fast zwei Jahre lang, an dieser Bank ganz hinten am Fenster. Frü her einmal war es Karola gewesen, die ihr morgens erzä hlt hatte, was gestern alles passiert war, und Eva, was passierte schon bei ihr, hatte es aufgesogen wie ein Schwamm, hatte Karolas Leben miterlebt, Geburtstagsfeiern, Ki­nobesuche, die berü hmte Schauspielertante, den Reit­unterricht, alles hatte Eva miterlebt, bis das Miterleben schal wurde und verblasste in der Eifersucht. Karola und Lena, Lena und Karola. Lena, die Elegante. »Lena kann auch reiten! Findest du das nicht toll? Fü r nä chs­ten Sonntag haben wir uns verabredet. «

Eva hatte genickt. »Toll. « Eva hatte Karola weiter abschreiben lassen, hatte gelä chelt, hatte »Ja« gesagt und »Nein« gemeint, hä tte schreien wollen, brü llen, der Lena die langen, blonden Haare ausreiß en, aber sie hatte gelä chelt. Und bei der nä chsten Gelegenheit hatte sie den Platz in der letzten Reihe am Fenster gewä hlt. Allein.

Karola und Lena saß en in der Bank vor ihr. Eva konnte die morgendlichen Gesprä che hö ren: Mensch, Lena, gestern bei der Party habe ich...! Meine Mutter hat mir einen Pulli mitgebracht, Spitze, sag ich dir! Eva konnte auch sehen, wie Karola der Lena die Hand streichelte. Eva wusste, wie weich Karolas Hä nde

waren.


 



 



Und dann war der Tag gekommen, vor vier Mona­ten, dass Franziska in der Tü r gestanden hatte, lang­haarig, schmal. »Ja, ich komme aus Frankfurt. Wir sind umgezogen, weil mein Vater hier eine Stelle an einem Krankenhaus bekommen hat. «

Und Herr Hochstein hatte gesagt: »Setz dich neben Eva. «

Franziska hatte Eva die Hand gegeben, eine kleine Hand, kleiner als Bertholds, und sich gesetzt. Herr Hochstein hatte sie gefragt, was sie denn in ihrer letz­ten Schule zuletzt durchgenommen hatten in Mathe. Und als er feststellte, dass sie ziemlich weit zurü ck war, wandte er sich an die Klasse und sagte mit einem Lä cheln, das kein Lä cheln war, einem Lä cheln, das sei­nen Mund nur in die Breite zog, einem Lä cheln, das Eva schon lange auf die Nerven gegangen war: »Fran­ziska wird lange brauchen, bis sie unseren bayerischen Standard erreicht haben wird. «

Eva sah, dass Franziska rot wurde. Sie sah sehr jung aus, verlegen wie Berthold unter Vaters Bemerkungen. Und Eva stand auf und sagte ganz laut: »Herr Hoch­stein, wollen Sie damit sagen, dass wir in Bayern klü ­ger sind als die in Hessen? «

Karola drehte sich um. »Gut«, flü sterte sie.

»Aber nein«, stotterte Herr Hochstein, dem scha­denfrohen Grinsen der Mä dchen ausgeliefert, »so war das nicht gemeint. Es ist nur der Lehrplan, weiß t du...! «


Eva war ü ber sich selbst erschrocken.

»Danke«, flü sterte das Mä dchen neben ihr.

Als die Stunde vorbei war, wandte sich Herr Hochstein noch einmal an Franziska. »Du hast Glü ck, dass du neben unserem Mathe-As sitzt. Eva kö nnte dir viel helfen. «

Diesmal war Eva nicht ganz sicher, ob es wirklich spö ttisch gemeint war. Es klang fast wie ein gut ge­meinter Rat.

Franziska saß immer noch neben Eva. Und sie war im­mer noch ziemlich schlecht in Mathe, obwohl Eva ihre alten Hefte herausgekramt und sie ihr gleich am nä chs­ten Tag gegeben hatte. Und immer noch sprach sie Eva an, redete mit ihr ü ber Lehrer und gab ihr morgens zur Begrü ß ung die Hand.

»Ist etwas passiert? «

»Nein. Wieso? «

»Weil du so aussiehst. «

»Ich habe Kopfschmerzen. «

»Und warum bist du dann nicht zu Hause geblie­ben? «

Eva antwortete nicht. Sie packte ihre Bü cher aus. Sie hasste diesen Raum. Sie hasste dieses Haus. Jeden Tag, immer wieder! Ü ber vier Jahre lagen hinter ihr und ü ber vier Jahre vor ihr. Sie konnte sich das fast nicht vorstellen. Erste Stunde Herr Hochstein, Mathe, zwei­te Stunde Frau Peters, Deutsch, dritte Stunde Frau


 




Wittrock, Biologie, vierte Stunde Herr Kleiner, Eng­lisch, fü nfte Stunde Herr Hauser, Kunst, sechste Stun­de Frau Wendel, Franzö sisch. Und in allen Fä chern musste sie gut sein.

Ein Test in Englisch. Gelernt hatte sie gestern noch. Aber Karola, in der Bank vor ihr, stö hnte: »Und das bei diesem Wetter. Gestern war ich bis sieben im Schwimmbad. «

Diese Gans, dachte Eva. Immer beklagt sie sich, aber nie tut sie was. Sie ist selbst schuld.

»Franziska, gibst du mir einen Spickzettel? «, bat Ka­rola flü sternd. Franziska, die eine englische Mutter hatte und besser Englisch sprach als Herr Kleiner, nickte.

Eva begann zu schreiben. Franziska schob ihr einen Zettel zu. »Fü r Karola«, sagte sie leise. Eva schob den Zettel zurü ck.

»Sei doch nicht so. Gib weiter. «

Eva schü ttelte den Kopf, sie schaute nicht auf, be­wegte den Kopf kaum merklich und hä tte ihn doch schü tteln wollen, deutlich sichtbar, hä tte am liebsten laut »Nein« geschrien und »Sie geht schwimmen, sie geht auf Partys, sie geht tanzen, sie erlebt immer et­was! Warum soll sie auch noch gute Noten haben? «

Franziska hatte das winzige Kopfschü tteln gesehen, sie beugte sich vor, schrä g rü ber, und ließ den Zettel ü ber Karolas Schulter fallen.

Herr Kleiner war mit ein paar Schritten da, griff


nach Franziskas Blatt und legte es auf seinen Tisch. Mit seinem roten Filzschreiber zog er quer ü ber das Geschriebene einen dicken Strich.

Niemand sagte ein Wort. Franziska saß mit unbe­weglichem Gesicht da. Sie ist selbst schuld, dachte Eva. Ganz allein ist sie schuld. Niemand hat sie ge­zwungen, das zu tun. Und dann dachte sie noch: Karo­la ist auch schuld. Warum tut sie nie etwas und will hinterher, dass andere ihr helfen?

In der Pause ging Franziska nicht neben Eva her.


 




Eva war um drei am Brunnen. Sie hatte den dunkel­blauen, engen Rock angezogen, dunkle Farben stre­cken, und die dunkelblaue Bluse, die die Schmidhuber ihr zum Sommer genä ht hatte.

Michel war noch nicht da. Eva wischte mit der fla­chen Hand ü ber die Brunnenmauer. Der Staub stob hoch und sank langsam zurü ck. Sie ä rgerte sich ü ber die grauen Wolken auf ihrem Rock, und beim Versuch, sie wegzuwischen, rieb sie den hellen Staub erst recht in das dunkelblaue Leinen. Die Steine waren heiß. Lange hielt sie es nicht aus, da in der Sonne, auffä llige Statue auf dem Brunnenrand. Sie setzte sich unter ei­nen Baum.

Er kommt sicher nicht, dachte sie. Warum sollte er auch kommen? Er kann ganz andere Mä dchen haben, schlanke, schö ne. Sie pflü ckte ein Gä nseblü mchen und drehte es langsam zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her.

Warum warte ich? Ich weiß doch, dass er nicht kommt. Auf Karola habe ich auch so gewartet, damals, und ich stand an der Straß enecke, fast eine Stunde, bis ich dann heimging. Und am nä chsten Tag war Karola ü berrascht, hatte es einfach vergessen, nur so. Tut mir


Leid, Eva, bei uns war plö tzlich so ein Trubel. Meine Tante ist gekommen, ja, die. Du weiß t schon.

Und Eva hatte gewusst, verstanden, genickt, gelä ­chelt.

Michel war immer noch nicht da. Natü rlich nicht. Er wü rde nicht kommen. Nach einer Stunde wü rde Eva traurig und enttä uscht nach Hause gehen, wü rde sich auf ihr Bett legen und weinen. Dann wü rde sie sich das Gesicht mit kaltem Wasser waschen, vielleicht ein Stü ck Schokolade essen und lä cheln.

Schon viel frü her hatte sie sich Schokolade in den Mund gesteckt und gelä chelt. Komisch, dass ihr das jetzt einfiel. Das war gewesen, als Erika weggezogen war, Erika, die Freundin, mit der sie schon zusammen im Kindergarten gewesen war. In der zweiten Klasse waren sie gewesen, als Erikas Eltern wegzogen und ihr Erika wegnahmen. Die Mutter hatte Eva in den Arm genommen und ihr eine Tafel Schokolade gegeben. »Was soll man da machen? «, hatte sie die Schmidhuber gefragt. »Sie ist halt so sensibel. « Und die Schmidhu­ber hatte genickt und »Ja, ja« gesagt. Und Eva hatte die Schokolade gegessen, hatte sie im Mund zergehen lassen, herrliche, stumpfe Sü ß e, hatte sie geschluckt und geschluckt, die Sü ß e, hatte die Sü ß e und die Trä ­nen geschluckt und hatte in die Beruhigung ihres Mundes und ihres Bauches hineingelä chelt. »Siehst du, Marianne«, hatte die Schmidhuber gesagt, »es gibt doch keinen Kummer, den man nicht mit etwas Gu-


 




tem ein bisschen versü ß en kö nnte. « Eva hatte gelä ­chelt.

Und nie hatte sie Erikas Briefe beantwortet.

Sie zupfte dem kleinen Gä nseblü mchen ein Blü ten­blatt aus: Er liebt mich, ein zweites: von Herzen, ein drittes: mit Schmerzen, ein viertes: ein wenig, ein fü nf­tes: nein, gar nicht. Es war nicht leicht, dem kleinen Gä nseblü mchen die noch kleineren Blü tenblä tter wirk­lich einzeln auszureiß en. Als Eva schon ü ber die Hä lfte war, er liebt mich, von Herzen, mit Schmerzen, ein wenig, nein, gar nicht, versuchte sie, mit den Augen die weiß en Blä ttchen abzutasten, herauszufinden, wie es enden wü rde. Das Gä nseblü mchen sah sehr nackt aus, sehr zerrupft. Wü tend warf Eva es ins Gras.

Wie lange saß sie schon da? Sie hatte keine Uhr. Der Rasen war ausgedorrt, trocken, graugrü ne Grasbü ­schel, kurzstoppelig gemä ht, nur ab und zu ein winzi­ges Gä nseblü mchen.

»Hallo, Eva. «

»Hallo, Michel. «

»Ich komme zu spä t. «

»Ja. «

»Ich dachte, du wü rdest mich sowieso versetzen. «

»Wieso sollte ich das? «

»Ich weiß nicht. Halt so. «

Er trug dasselbe Hemd wie gestern, schwarz, die Zipfel waren so zusammengeknotet, dass man einen Streifen seines braunen Bauches sehen konnte. Er


setzte sich neben sie. »Wo hast du dein Schwimm­zeug? «

»Ich mag nicht ins Schwimmbad gehen. «

»Das ist gut. Ich habe nä mlich immer noch kein Geld. «

Er sah mü rrisch aus, schlecht gelaunt.

»Ist was? «, fragte sie.

»Was soll sein? « Er zupfte Grashalme aus, riss sie in kleine Stü ckchen, graugrü ne, staubige Halme. Er hielt den Kopf gesenkt und schaute auf seine rupfenden Finger, seine braunen, langen Haare fielen nach vorn, verdeckten sein Gesicht, so dass Eva nur noch seine Nasenspitze sehen konnte. Die Worte saß en ihr im Hals, all die lockeren, lustigen Worte, die sie hatte sa­gen wollen, die Witze, die sie gern gemacht hä tte, das Lachen, das sie gern gelacht hä tte, alles war ihr im Hals stecken geblieben, ballte sich zu einem dicken Kloß und ließ sie schwer atmen. Es war so still. Sie be­mü hte sich, leise tief durchzuatmen, sie wollte nicht keuchen wie ein Walross. Keuchten Walrosse ü ber­haupt?

Warum sagte er nichts? Warum sagte sie nichts? War es das, auf das sie gewartet hatte?

Plö tzlich sprang Michel auf. »Komm, wir gehen zum Fluss. Wir nehmen die Straß enbahn, dann geht's ganz schnell. «

Endhaltestelle der Linie sieben. Sie waren schwarz­gefahren. Michel hatte kein Geld, er hatte auch nicht


 




gewollt, dass Eva eine Karte kaufte. »Schade um das schö ne Geld. Dafü r kriegen wir eine Cola. «

Sie liefen durch die Stadtrandsiedlung, ein Haus wie das andere, lange Reihen gleicher Hä user, gleicher Gä r­ten, gleicher Zä une. »Wenn da einer blau nach Hause kommt, findet er seine eigene Tü r nicht mehr und lan­det bei der Nachbarin im Schlafzimmer«, sagte Michel und lachte.

Eva, unsicher, betroffen, lachte mit.

»Stell dir vor, bei der Nachbarin im Schlafzimmer! Und morgens merkt er erst, dass er nicht mit seiner Alten gepennt hat. « Michels Lachen klang falsch. Sie gingen schweigend weiter, an einem unkrautü ber­wucherten Platz vorbei, Mü llabladen-verboten-Schild ü ber zerbrochenen Bierflaschen und leeren Ö lsardi-nendosen. Zerbeulte Konservenbü chsen, ein alter Gummistiefel. Gelb.

Den Hang hinunter ging Michel vor. Breitbeinig, den linken Arm ausgestreckt, stü tzte er Eva, die keinen Halt fand mit ihren glatten Sandalen, sich nicht richtig bewegen konnte in ihrem engen, blauen Rock, der nicht mehr sehr blau war, und die unbeholfen, un­glü cklich ü ber ihre eigene Ungeschicklichkeit, hinter Michel den Hang hinunterrutschte. Dann waren sie endlich unten am Fluss. Es war nicht eigentlich der Fluss, es war ein kleiner Seitenarm, seichter Wasserlauf zwischen Unkraut, an einer Stelle Holunderbü sche, die weiß en Blü tendolden verbreiteten einen scharfen Ge-


ruch. Eva, atemlos von der Anstrengung, keuchte laut. Wie ein Walross, dachte sie. Nun keuche ich doch wie ein Walross.

Michel schaute sie vorsichtig an. »Gefä llt es dir hier? «

Gefallen? Im Unkraut? Am Kieshang mit diesen spä rlichen, mageren Hecken?

»Ginster«, sagte Eva. »Ich mag Ginster sehr gern. «

»Ich habe frü her mal in dieser Gegend gewohnt. Mein Bruder und ich haben hier manchmal ein Nach­barmä dchen hergeschleppt. « Er wurde rot. »Zum Doktorspielen. «

Michel zog seine Turnschuhe aus und krempelte die Jeans bis zu den Knien. »Komm«, sagte er. »Gehn wir ein bisschen ins Wasser. Es ist nicht tief. «

Eva bü ckte sich. Ihr Rock war ganz schö n dreckig. Warum waren sie nicht ins Gartencafe gegangen? Sie hatte ja Geld. Oder wirklich an den Fluss, da, wo man in den Anlagen spazieren gehen konnte?

Das Wasser war kalt und gar nicht so schmutzig.

»Zieh doch deinen Rock aus, dann kannst du besser laufen«, sagte Michel. Eva schü ttelte wild den Kopf, zerrte den Rock ein bisschen hö her, nicht viel, nur ein bisschen ü ber die Knie.

»Hier ist doch niemand«, rief Michel. Er stand am Rand, zog seine Jeans und das Hemd aus. Er trug eine Badehose darunter, schwarz wie sein Hemd.

Niemand? Hier ist niemand?, dachte Eva. Glaubt er


 




im Ernst, ich wü rde hier in Unterhosen rumlaufen? Wenn er dabei ist? Wenn ich doch wenigstens die schwarze Trikothose anhä tte! Aber die weiß e mit den rosa Blü mchen, unmö glich!

Michel saß am Rand und buddelte mit den Hä nden ein Loch. »So haben wir das frü her immer gemacht. Schau! Das wird der Ozean. « Mit dem Finger zog er eine Rinne vom Wasserrand zu der Vertiefung. »Und das hier ist ein Fluss. Der fü llt jetzt das Meer. «

Eva hä ufte Erde an das Ufer. »Und das ist ein Berg. « Sie pflü ckte Grä ser und Zweige und steckte sie in den Berg. »Bä ume. «

Michel lachte. Er begann, mit flachen Kieselsteinen einen Weg anzulegen, einen gewundenen Weg den Berg hinauf. »Und oben, ganz oben, mü sste ein Haus stehen. Dann kö nnte man abends den Mond ü ber dem Meer sehen. Hast du das schon mal gesehen? «

»Ja«, antwortete Eva. »Wir waren vor zwei Jahren in Italien. In Grado. «

»Ich war schon dreimal in den groß en Ferien bei meinem Onkel in Hamburg. Er ist mein Patenonkel. «

Sie schwiegen beide. Michel baute auch noch das Steinhaus.

Wie Dampfnudeln sehen meine Knie aus, dachte Eva. Michel hat schö ne Beine. Richtig schö ne, braune Beine.

Michel sagte: »Komm ein bisschen m den Schatten. «

Hinter den Holunderbü schen, unter dem beiß enden


Geruch, breitete er sein Hemd auf dem Boden aus, die rechte Seite nach oben. »Hier. «

Sie lagen nebeneinander. Eva lag gern auf dem Rü ­cken. Sie konnte dann, wenn sie mit ihren Hä nden da­rü ber fuhr, ihre Beckenknochen fü hlen, im Liegen war fast kein Speck darü ber, die Haut spannte sich weich ü ber dem Knochen. Und ihr Bauch war flach, wenn sie auf dem Rü cken lag.

Michel rü ckte nä her. Er legte seine Hand auf ihre Brust.

»Nein«, sagte Eva laut.

Michels Stimme klang anders als vorher. »Sei doch nicht so zickig. «

»Nein«, sagte Eva noch einmal. Sie setzte sich und zerrte ihren Rock ü ber die Knie.

»Blö de Kuh«, sagte Michel, sprang auf und lief zum Wasser. Er ließ sich ganz hineinfallen, tauchte unter, prustete laut und tauchte wieder unter. Nach einer Weile kam er heraus.

»Ich will gehen. « Eva klopfte an ihrem Rock herum, versuchte, die staubigen Spuren zu verwischen.

Michel zog, nass wie er war, seine Jeans an, schü t­telte sein Hemd aus und band es sich um den Bauch. Den Hang hinauf gingen sie ganz schrä g, ganz lang­sam. Michel zog Eva an der Hand hinter sich her. Oben angekommen, sagte er: »Das mit der blö den Kuh hab ich nicht so gemeint. «

»Ist schon gut. «


 




Sie gingen nebeneinander her.

»Hast du schon mal einen Freund gehabt? «

»Nein. «

»Ach so. «

»Und du, hast du schon eine Freundin gehabt? «

»Ja. Ich kenne viele Mä dchen. Aber keine wie dich. «

»Wie sind die Mä dchen, die du kennst? «

Michel zuckte mit den Achseln. »Anders halt«, sagte er unbestimmt.

Nach einer Weile hielten sie sich an den Hä nden beim Gehen, sie schauten sich an und lachten. Sie wa­ren schon lä ngst an der Endhaltestelle der Linie sieben vorbei.

»Komm, rennen wir ein bisschen«, sagte Michel.



  

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