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Sechzehntes Kapitel
Isabelle de Montsalvy starb einen Tag nach Saint‑ Michael, ohne zu leiden und ohne Todeskampf, fast friedlich. Am Vorabend ihres Todes hatte sie noch eine letzte Freude: Ihr Enkelsohn empfing zum erstenmal die Vasallenhuldigung. In seiner Eigenschaft als Amtmann und in Ü bereinstimmung mit den Notabeln von Montsalvy hatte Saturnin entschieden, daß das Kind an seinem Namenstag offiziell als Herr der kleinen Stadt anerkannt werden sollte. Da nun der Kö nig den Montsalvys alle Titel und Gü ter zurü ckgegeben hatte, schien das Datum des 29. Septembers dem ausgezeichneten Mann fü r eine solche Feierlichkeit besonders geeignet, um so mehr, als es mit dem Fest der Schä fer zusammenfiel, zu dem sich jedes Jahr zur gleichen Zeit die Hü ter der Schafe aus der ganzen Gegend auf der Ebene von Montsalvy versammelten. An diesem Tag hatte man auf dem Dorfplatz, vor der Kirchentü r, einen von einem Baldachin in den Farben der Familie geschü tzten Herrenstand errichtet, und nach der von Abt Bernard zelebrierten feierlichen Messe ließ en Michel und seine Mutter sich dort nieder, um die Huldigung ihrer Lehnsleute entgegenzunehmen, die fü r diese Gelegenheit ihre schö nsten Kleider angezogen hatten. Saturnin, in feinem braunem Tuch, eine Silberkette um den Hals, hatte auf einem Kissen die Weizenä hren der Felder und die Trauben der Weinspaliere dargereicht. Er hatte eine schö ne Rede gehalten, vielleicht etwas zu breit, vom Hundertsten ins Tausendste kommend, die aber dennoch jedermann fü r vortrefflich hielt; dann waren nacheinander alle Bewohner von Montsalvy, alle Bauern der umliegenden Hö fe vor der Herrenbank vorbeigezogen und hatten Michel das Hä ndchen gekü ß t. Das Kind lachte vor Freude, glü cklich ü ber den schö nen weiß en Samtanzug, den Sara ihm zurechtgeschneidert hatte, sich aber sichtlich viel mehr fü r die Kette aus Gold und Topasen interessierend, die seine Mutter ihm um den Hals gelegt hatte. Die Zeremonie war, um die Wahrheit zu sagen, fü r einen kleinen Herrn, der noch nicht zwei Jahre alt war, ein wenig lang. Aber die Tä nze der Schä fer und die Zweikä mpfe, die sie sich darauf mit bloß en Hä nden lieferten, entfesselten seine Begeisterung. Trotz aller Bemü hungen Cathé rines, ihn halbwegs still zu halten, kletterte Michel auf seinen Armstuhl und zappelte wie ein kleiner Teufel in einem Weihwasserkessel. Ganz in seiner Nä he lag seine Groß mutter, die man auf einer Trage hergebracht und unter ein Zeltdach gestellt hatte, damit sie bei dem Fest anwesend sein konnte, und betrachtete ihn bewundernd … Der Tag endete mit einem groß en Freudenfeuer, das von Michel persö nlich auf der Ebene angezü ndet worden war. Natü rlich hatte ihm Cathé rine das Hä ndchen gefü hrt. Wä hrend sodann Jungen und Mä dchen auf dem noch grü nen Gras muntere Reigen tanzten, brachte man den erschö pften neuen Herrn zu Bett, der ü brigens, den blonden Kopf an Saras Schulter gekuschelt, schon schlief. Die ganze Nacht hö rte Cathé rine ihre Leibeigenen singen und tanzen, glü cklich ü ber ihre Freude, die ihr groß es Leid offenbar nicht trü ben konnte. Sie hatte sich wä hrend des Tages bemü ht, ihre tiefe Trauer zu verbergen, um ihnen nicht zu zeigen, wie grausam sie dieses Fest berü hrte. Der Herrschaftsantritt Michels stieß seinen Vater in die Vergangenheit zurü ck, diesen Vater, von dem seit anderthalb Monaten niemand mehr etwas wuß te … Doch am anderen Morgen wurden die guten Leute von Montsalvy, die sich in ihrer Freude und Lebenslust sehr spä t schlafen gelegt hatten, vom schauerlichen Gelä ut der Totenglocke geweckt und erfuhren so, daß ihre alte Burgfrau verschieden war. Als Sara am Morgen ihr eine Schale Milch bringen wollte, fand sie sie tot in ihrem Bett. Isabelle lag ausgestreckt da, die Augen geschlossen, die Hä nde ü ber dem Rosenkranz gefaltet, und ein Sonnenstrahl, der ü ber ihren blassen Hä nden flimmerte, ließ den Smaragd der Kö nigin Yolande funkeln. Zuerst war Sara einen Augenblick auf der Schwelle der Kammer stehengeblieben, verblü fft ü ber die auß ergewö hnliche Schö nheit der Toten. Die verwü stenden Spuren der Krankheit waren verschwunden, und das Gesicht, wie Milch und Blut, wirkte entspannt und unendlich viel jü nger als am Abend zuvor. Ihr weiß es Haar umrahmte es mit zwei dicken Zö pfen, und ihre Ä hnlichkeit mit ihren Sö hnen war wieder auffallend. Sara hatte sich bekreuzigt, dann war sie, die Schale Milch an der Tü r abstellend, bei Cathé rine eingetreten, die erst am frü hen Morgen eingeschlafen war. Sie hatte sie sanft gerü ttelt, und als die junge Frau sich mit einem nervö sen Zucken aufgerichtet hatte und sie mit der verstö rten Miene jemandes, den man brü sk weckt, ansah, hatte sie gemurmelt: »Dame Isabelle hat aufgehö rt zu leiden, Cathé rine … Du muß t aufstehen! Ich werde den Abt benachrichtigen. Wecke inzwischen Michel im Zimmer nebenan, und ü bergib ihn Donatienne. Der Tod ist kein Anblick fü r ein Kind! « Cathé rine hatte gehorcht wie eine Schlafwandlerin. Seit ihrer Rü ckkehr erwartete sie dieses Ende. Sie wuß te, daß die alte Dame es als Erlö sung herbeisehnte, und ihre Vernunft flü sterte ihr ein, daß sie nicht betrü bt zu sein brauchte, wenn Isabelle endlich Frieden gefunden hatte. Doch die Vernunft vermochte nichts gegen den plö tzlichen Schmerz, der sie durchdrang … Sie entdeckte, daß Isabelles Anwesenheit ihr viel kostbarer gewesen war, als sie glaubte. Solange die Mutter Arnauds gelebt hatte, hatte Cathé rine jemand gehabt, mit dem sie ü ber ihn sprechen konnte, jemand, der ihn besser kannte als sie selbst, dessen Erinnerungen unerschö pflich waren. Und nun, da auch diese sanfte Stimme verstummt war, wurde die Einsamkeit der Hinterbliebenen noch grö ß er … Arnaud war verschwunden, Gauthier hatte sich seit einem Monat ins Unbekannte gestü rzt und jetzt … Isabelle … Nachdem sie einen Augenblick spä ter mit Saras Hilfe der Verstorbenen das letzte Kleid angelegt hatte, blieben beide am Fuß ende des Bettes stehen, auf dem sie ruhte, in das fromme Gewand der Klarissen gekleidet, denn Isabelle hatte vor langer Zeit den Wunsch geä uß ert, darin ihren letzten Schlaf zu schlafen. Die Strenge der weiten schwarzen Gewä nder verlieh ihr eine auß erordentliche Majestä t, und unter ihren blä ulichen Lidern schienen die Augen sich gleich ö ffnen zu wollen. Ganz sanft hatte Cathé rine vom Finger Isabelles den gravierten Smaragd gestreift, dessen profane Herrlichkeit mit dem klö sterlichen Kleid nicht zu vereinbaren war. Dann hatte sie mit Sara die Tote lange betrachtet, ehe sie zu den ersten Gebeten niederknieten, genau in dem Augenblick, in dem der Abt eintrat, von zwei Geistlichen begleitet, die das Weihrauchfaß und den Weihwasserkessel trugen. Die darauffolgenden drei Tage vergingen der jungen Frau wie ein schauerlicher Traum. Die Leiche wurde im Chor der Kirche aufgebahrt und von zwei Mö nchen bewacht. Cathé rine, Sara und Donatienne lö sten sich auf dem Kissen zu Fü ß en des Katafalkes ab. Fü r Cathé rine hatten diese Stunden der Wache in der stillen Kirche etwas Unwirkliches. Die Mö nche, die neben der Bahre standen, die Kapuzen tief ins Gesicht herabgezogen und die Hä nde in ihren weiten Ä rmeln vergraben, kamen Cathé rine wie Geister vor, und das zitternde Licht der dicken gelben Wachskerzen verlieh ihrer Unbeweglichkeit etwas Erschreckendes. Um dem Schrecken zu entrinnen, den sie empfand, zwang sich Cathé rine zu beten, aber die Worte wollten nicht kommen … Sie wuß te nicht mehr, wie sie sich an Gott wenden sollte. Sie fand es viel leichter, sich ganz einfach an die Verstorbene zu wenden. »Mutter«, flü sterte sie ganz leise, »da, wo Ihr jetzt weilt, muß alles viel einfacher, viel leichter sein! … Helft mir! … Macht, daß er wiederkommt oder daß er wenigstens erfä hrt, daß ich nie aufgehö rt habe, ihn zu lieben! Mich verzehrt mein Kummer! « Aber das wä chserne Gesicht blieb unbeweglich, und das halbe Lä cheln der geschlossenen Lippen hü tete sein Geheimnis. Cathé rines Herz wurde immer schwerer, je mehr die Zeit verging. Am Abend des dritten Tages wurde die Leiche Isabelle de Ventadours, Dame von Montsalvy, in Anwesenheit der ganzen Bevö lkerung ins Grab hinabgelassen. Hinter dem hö lzernen Gitter ihrer Einzä unung sangen die krä ftigen Stimmen der Mö nche der Abtei das Miserere. Und unter ihren Trauerschleiern, die an diesem Abend eine neue und doppelte Bedeutung annahmen, sah Cathé rine unter den Steinfliesen der Kirche die zerbrechliche Gestalt derjenigen verschwinden, die vor fü nfunddreiß ig Jahren dem Mann das Leben geschenkt hatte, den sie anbetete … Beim Verlassen der geweihten Stä tte kreuzte sich der Blick der jungen Frau mit dem des Abtes, der die Totenmesse gelesen hatte. Sie sah in ihm gleichermaß en eine Frage und eine Bitte, wandte aber den Kopf ab, als wollte sie einer Antwort ausweichen. Wozu? Der Tod Isabelles befreite sie nicht. Die kleinen Hä nde Michels hielten sie fest an ihrem Platz. Und sie hatte keinen Grund, ihn zu verlassen, nachdem Gauthier sich zur Verfolgung Arnauds aufgemacht hatte. Solange er ihr keine Nachricht gab, muß te sie hierbleiben und warten … warten! Der Herbst ließ das Gebirge in allen seinen Gold‑ und Purpurfarben leuchten. Die Umgebung Montsalvys bedeckte sich mit gelbroter Pracht, wä hrend am Himmel die niedrighä ngenden Wolken immer grauer wurden und die Schwalben in schnellen, schwarzen Zü gen gen Sü den flogen. Cathé rine folgte ihnen mit den Blicken von der Hö he der Klostertü rme aus, bis sie verschwunden waren. Doch bei jedem ü ber ihrem Kopf dahinziehenden Schwarm fü hlte sich die junge Frau etwas trauriger, ein wenig entmutigter. Sie beneidete von ganzem Herzen die sorglosen Vö gel, begierig nur nach der Sonne, die in die Lä nder zogen, in die sie ihnen so gern gefolgt wä re! Nie waren die Tage so langsam, so eintö nig vergangen. Jeden Nachmittag, wenn das Wetter es erlaubte, ging Cathé rine mit Sara und Michel zum Sü dportal, wo Mö nche und Bauern mit der Ausschachtung des Unterbaues fü r das neue Schloß begonnen hatten. Auf den Rat des Abtes hatte man beschlossen, die Festung, wo sie frü her stand, an den Abhä ngen des Berges Arbre, nicht wieder aufzubauen, sondern dicht an dem Portal von Montsalvy, wo Schloß und Dorf sich gegenseitig die wirksamste Hilfe geben kö nnten. Die Verwü stungen durch den alten Praktikus Valette waren noch allen in nachdrü cklicher Erinnerung. Die beiden Frauen und das Kind verbrachten immer ein Weilchen auf der Baustelle und gingen dann weiter, um den Holzhauern bei der Arbeit zuzusehen. Tatsä chlich muß te man, nachdem die englische Bedrohung nachließ, im Wald das Land zurü ckerobern, das man in den Zeiten der groß en Not hatte verwildern lassen. Das Unterholz, das so viele Male als Zuflucht gedient hatte, war hochgeschossen und fast undurchdringlich. Man muß te es roden, um Weizen oder Viehfutter zu sä en. Aber die Augen Cathé rines schweiften immer ü ber die Reihe der dunklen Bä ume hinweg, in die weiten blauen Fernen, durch die Arnaud gekommen sein muß te. Dann, die kleine Hand Michels fest in der ihren haltend, ging sie langsamen Schrittes wieder ins Haus zurü ck. Und dann, eines Nachts, wurde der Wind zum Sturm und entblä tterte die Bä ume. Noch eine Nacht, und der Schnee bedeckte das Land. Die Wolken hingen so niedrig, daß sie sich mit der Erde zu vereinen schienen, und die eisigen Frü hnebel brauchten lange, um sich aufzulö sen. Es war Winter, und Montsalvy legte sich schlafen. Die Arbeit auf der Baustelle des Schlosses ruhte, jedermann schloß sich in die Wä rme seines Hauses ein. Cathé rine und Sara machten es wie die anderen. Das von der Klosterglocke geregelte Leben verlief in einer hoffnungslosen Monotonie, in der Cathé rines Schmerz trotz allem einschlief. Die Tage folgten einander, einer wie der andere. Man saß in der Kaminecke und sah Michel beim Spielen auf einer Decke zu. Das Land war unwandelbar weiß geworden, und Cathé rine begann zu zweifeln, ob es in Zukunft noch andere Tage geben wü rde. Ob der Frü hling ü berhaupt je wiederkä me? Trotzdem zwang sich die junge Frau, jeden Tag auszugehen. Sie zog sich Ü berschuhe an, hü llte sich in einen groß en Mantel mit Kapuze und verließ das Kloster zu einem Spaziergang, immer dem gleichen … Sie ging bis hinter das Sü dtor, wenn auch nicht zu dem Zwecke, die Baustelle ihres kü nftigen Wohnsitzes unter dem Schnee zu betrachten. Sie setzte sich auf einen alten Grenzstein, wo sie lange blieb, unempfindlich gegen Windstö ß e und den wirbelnden Schnee, und die aus dem Tal des Lot herauffü hrende Straß e beobachtete, mit zä her Hoffnung darauf wartend, endlich eine bekannte Silhouette auftauchen zu sehen. Es war so lange her, daß Gauthier aufgebrochen war! … Weihnachten wü rden es drei Monate sein! Und niemand war bislang mit der geringsten Nachricht gekommen. Es war, als ob er sich in dieser grenzenlosen Weite aufgelö st hä tte … Wenn der Tag sich seinem Ende neigte – die Wintertage sind so kurz! –, kehrte Cathé rine langsam nach Hause zurü ck, das Herz ein wenig schwerer und bekü mmerter, ein wenig ä rmer an Hoffnung. Weihnachten ging vorü ber, ohne ihr Frieden zu bringen. Ihr Geist schweifte unaufhö rlich den Abwesenden nach. Zuerst und vor allem Arnaud! Ohne Zweifel hatte er das Land Galicia erreicht. Aber war ihm vom Himmel die erbetene Heilung zuteil geworden? Und Gauthier? Hatte er den Flü chtigen einholen kö nnen? Waren sie in dieser Minute zusammen, in der ihr Geist sie vereint sah? So viele Fragen, die, da sie unbeantwortet bleiben muß ten, quä lend wurden. »Wenn der Frü hling kommt«, nahm Cathé rine sich vor, »und ich bis dahin keine Nachricht erhalten habe, breche ich auch auf … Ich werde sie suchen gehen. « »Wenn sie zurü ckkehren, dann im Frü hling, nicht frü her! « entgegnete Sara eines Tages, als die junge Frau aus Versehen laut gedacht hatte. »Wer wü rde es sich einfallen lassen, ü ber die Berge zu ziehen, wenn der Schnee die Wege unpassierbar gemacht hat? Der Winter richtet unü bersteigbare Schranken auf, die selbst der festeste Wille, selbst die zä heste Liebe nicht ü berwinden kö nnen! Du muß t abwarten! « »Abwarten! Abwarten! … Immer abwarten! Ich habe es satt, dieses Warten ohne Ende! « hatte Cathé rine darauf gerufen. »Bin ich denn verdammt, mein Leben in einer Erwartung ohne Ende verrinnen zu sehen? « Auf diese Fragen zog Sara es vor, nicht zu antworten. Es war besser, die Unterhaltung abzubrechen oder von anderen Dingen zu sprechen, denn wenn man versuchte, mit Cathé rine zu rechten, fü hrte es nur dazu, daß sie sich noch mehr in ihrem Kummer vergrub. Die Zigeunerin glaubte nicht an die Mö glichkeit einer Heilung Arnauds. Sie hatte noch nie davon gehö rt, daß die Lepra, wenn sie jemanden einmal befallen hatte, ihn je wieder losließ. Es war sogar erstaunlich, daß Saint‑ Mé en de Jaleyrac, der heilige Spezialist der furchtbaren Krankheit, immer noch Patienten hatte. Offensichtlich war der Ruf San Jagos von Compostela groß, aber Saras Christentum war noch zu stark vom Heidentum gefä rbt, als daß sie groß es Vertrauen darin hä tte. Im Gegenteil, sie war ü berzeugt, daß man, wenn nicht ein verhä ngnisvoller Zufall eintrat, frü her oder spä ter Nachricht von Gauthier bekommen wü rde. Das hinderte sie nicht zu seufzen, wenn sie Cathé rines kleine, schwarze und zerbrechliche Silhouette in den Schnee hinausgehen sah, um zu lauern, ob er nicht auf der Talstraß e auftauchte. Eines Abends im Februar, nachdem die junge Frau ihren Beobachtungsposten eingenommen hatte, nach einer durch den Frost erzwungenen beschwerlichen Zeit des Klosterlebens, schien es ihr plö tzlich, als kö nnte sie einen dunklen Punkt auf dem weiß en Weg erkennen, einen Punkt, der unter den hohen schwarzen Tannen langsam grö ß er wurde. Sofort stand sie auf, mit klopfendem Herzen und keuchendem Atem … Es war bestimmt ein Mann, der aus dem Tal herauskam … Sie konnte einen Streifen des groß en Mantels, der ihn einhü llte, im Wind flattern sehen. Er ging mü hselig zu Fuß, den Rü cken unter dem Nordwind gebeugt … Unwillkü rlich machte sie ein paar Schritte ihm entgegen, aber als sie am Rand der Bä ume angekommen war, blieb sie enttä uscht stehen. Das war nicht Gauthier … noch viel weniger Arnaud. Der Mann, den sie jetzt leicht ausmachen konnte, war von kleinem Wuchs, offenbar schmal und sehr braun. Einen Augenblick glaubte sie, es sei Fortunat, aber diese Hoffnung zerrann sofort. Der Reisende war ihr vollkommen unbekannt! Er trug einen grü nen Hut, dessen vorn heruntergeklappter Rand hinten hochgeschlagen war und eine Feder trug, die fast nur noch aus dem Kiel bestand, aber das braune Gesicht darunter hatte lebhafte und frö hliche Augen, und der groß e, geschwungene Mund lä chelte, als er die weibliche Silhouette am Wegrand entdeckte. Cathé rine konnte sehen, daß sein Rü cken unter dem Mantel durch einen ovalen Gegenstand, den er auf der Schulter tragen muß te, entstellt war. »Ein Hausierer«, dachte Cathé rine, »oder ein Minnesä nger …« Sie entschied sich fü r den Minnesä nger, als er ganz nahe herangekommen war. Unter dem schwarzen Mantel war seine Kleidung grü n und rot, lebhaft und lustig, wenn auch strapaziert. Der Mann zog den verblaß ten Hut, um sie zu grü ß en. »Frau«, sagte er mit einem fremden Akzent, »was fü r eine Burg ist das, bitte? « »Montsalvy! Wollt Ihr dahin, Sire Minnesä nger? « »Dahin will ich noch heute abend! Ma, per la Madona! Wenn alle Bä uerinnen so schö n sind wie Ihr, dann ist dies das Paradiso, dieses Montsalvy! « »O nein, das ist nicht das Paradies«, erwiderte Cathé rine, durch den Akzent des Jungen belustigt. »Und wenn Ihr den Anblick eines Schlosses erwartet, Sire Minnesä nger, dann habt Ihr Euch getä uscht. Das Schloß Montsalvy existiert nicht mehr. Ihr werdet nur eine alte Abtei, wo man sehr wenig Liebeslieder singt, vorfinden. « »Ich weiß! « sagte der Minnesä nger. »Aber wenn es kein Schloß gibt, dann gibt es immer noch die Schloß frau. Kennt ihr die Dame de Montsalvy? Es ist die schö nste Dame des Erdkreises, nach allem, was man mir gesagt hat … aber ich glaube, sie wird Euch schwerlich ü bertreffen! « »Ihr werdet trotzdem enttä uscht sein«, erwiderte Cathé rine. »Ich bin die Dame de Montsalvy. « Das Lä cheln schwand aus dem frö hlichen Gesicht des Reisenden. Erneut hob er seinen grü nen Filzhut und kniete im Schnee nieder. »Hochedle und gnä digste Dame, verzeiht dem Unwissenden seine Vertraulichkeit …« »Ihr konntet das nicht wissen. Die Schloß frauen eilen selten in einem solchen Wetter auf die Straß en, besonders nicht allein! « Wie um ihr recht zu geben, fegte ein plö tzlicher Windstoß den Hut des Minnesä ngers davon und zwang Cathé rine, sich an einen Baumstamm zu klammern. »Bleiben wir nicht hier«, sagte sie, »es ist ein abscheuliches Wetter, und die Nacht bricht an. Das Schloß ist zerstö rt, aber das Gä stehaus des Klosters, in dem ich wohne, kann Euch aufnehmen. Wie kommt es, daß Ihr mich kennt? « Der Minnesä nger hatte sich erhoben und klopfte sich mechanisch seine mageren Knie ab. Eine sorgenvolle Falte hatte sich auf seiner Stirn gebildet, und sein Mund fand das frö hliche Lä cheln von vorhin nicht wieder. »Ein Mann, den ich in den Hochbergen des Sü dens getroffen habe, hat mir von Euch gesprochen, edle Dame … Er war sehr groß und stark! Ein wahrer Riese! Er hat mir gesagt, er heiß e Gauthier Malencontre …« Cathé rine stieß einen Freudenschrei aus und packte, ohne sich um das Zeremoniell zu kü mmern, den Minnesä nger am Arm, um ihn schnell mitzuziehen. »Gauthier schickt Euch? Oh, seid gesegnet, wer immer ihr seid! Wie geht es ihm? Wo war er, als Ihr ihm begegnet seid? « Eiligst stieg sie, den Minnesä nger hinter sich herziehend, der plö tzlich sehr unruhig zu werden schien, zum Dorf hinauf, ging durchs Tor und traf dabei auf Saturnin, der einen Fensterladen seines Hauses ausbesserte: »Dieser Mann hat Gauthier gesehen. Er hat Nachrichten! « Mit einem freudigen Ausruf schloß der alte Amtmann sich ihnen an. Der Minnesä nger betrachtete sie mit einer Art Entsetzen. »Verzeihung, edle Dame«, ä chzte er, »Ihr habt mir ja noch nicht einmal Zeit gelassen, Euch meinen Namen zu nennen und …« »Dann nennt ihn mir«, erwiderte Cathé rine frö hlich. »Aber fü r mich heiß t Ihr Gauthier …« Der Mann schü ttelte miß billigend und ü berwä ltigt den Kopf. »Ich heiß e Guido Cigala … Ich stamme aus Florenz, der schö nen Stadt, aber zur Vergebung meiner zahlreichen Sü nden wollte ich in Galicia an der Gruft des Apostels beten … Dame! « bat er flehentlich, »freut Euch nicht zu sehr, und bereitet mir keinen so schö nen Empfang. Die Nachrichten, die ich bringe, sind nicht gut! « Cathé rine und Saturnin blieben wie festgewurzelt mitten auf der Straß e stehen. Das freudige Rot, das Cathé rine ins Gesicht gestiegen war, machte einer tragischen Blä sse Platz. »Ach? « sagte sie nur. Ihr Blick ging vom Minnesä nger zu Saturnin, unruhig, fast flehend. Aber dann fing sie sich wieder, straffte sich. »Gut oder schlecht, Ihr braucht trotzdem Ruhe und Erfrischung. Der Empfang bleibt derselbe, Sire Minnesä nger. Sagt mir nur, wie es Gauthier geht? « Guido Cigala senkte den Kopf wie ein Schuldiger. »Dame«, murmelte er, »ich glaube, er ist tot! « »Tot?! « Derselbe Schrei entwich den Lippen Cathé rines und Saturnins, aber es war der alte Mann, der ihren gemeinsamen Gedanken aussprach: »Das ist nicht mö glich! Gauthier kann nicht sterben! « »Ich habe nicht gesagt, daß ich sicher sei«, sagte Cigala verlegen, »ich habe gesagt, ich glaubte es. « »Ihr werdet es uns erzä hlen! Gehen wir hinein! « Im Gä stehaus kü mmerte Sara sich um den Ankö mmling, wusch ihm die wunden Fü ß e, stä rkte ihn mit einer warmen Suppe, mit Brot und Kä se und einem Becher Wein und schickte ihn dann in den groß en Saal, wo Cathé rine ihn mit Saturnin und Donatienne erwartete. Die Gesetze der Gastfreundschaft gingen vor ihrer Ungeduld. Sie lä chelte traurig, als sie sah, daß der Minnesä nger seine Harfe in der Hand trug. »Es ist schon lange her, daß hier ein Lied gesungen wurde«, sagte sie leise. »Und mir steht der Sinn nicht danach, mir eines anzuhö ren! « »Die Musik ist gut fü r die Seele, besonders wenn sie wund ist«, sagte Guido und legte sein Instrument auf eine Bank. »Doch zuerst werde ich Eure Fragen beantworten. « »Wann habt Ihr Gauthier gesehen und wo? « »Es war auf dem Paß von Ibañ eta, ein gutes Stü ck vor dem Hospiz von Roncevaux. Ich war in eine Schlucht gefallen, und dieser Gauthier ist mir zu Hilfe gekommen. Wir haben die Nacht zusammen in einer Bergschutzhü tte verbracht. Ich habe ihm erzä hlt, daß ich in mein Land zurü ckkehre, aber in jedem Schloß, das ich unterwegs trä fe, haltmachen wü rde. Er hat mich gefragt, ob ich hier vorbeikommen kö nne, um Euch Nachrichten zu bringen. Natü rlich habe ich es ihm versprochen. Nach dem Dienst, den er mir erwiesen hatte, konnte ich ihm nichts verweigern. Und dann, was macht unsereins schon etwas mehr oder weniger Wegstrecke aus? … Dann hat er mir eine Botschaft mitgegeben. « »Welche Botschaft? « fragte Cathé rine, sich zu dem jungen Mann vorbeugend. »Er hat gesagt: ›Sagt Dame Cathé rine, daß die weiß e Stute mir nicht mehr weit voraus ist. Morgen hoffe ich sie einzuholen …‹« »Ist das alles …? « »Das war alles … Damit will ich sagen: Er hat mir nichts weiter mehr anvertraut, aber es hat sich einiges ereignet. Am anderen Morgen haben wir uns getrennt. Er muß te den Weg einschlagen, den ich gekommen war, und ich bin nach Roncevaux weitergegangen, doch der Weg, dem ich folgte, stieg an, und ich habe Euren Freund noch lange sehen kö nnen, edle Dame. Ruhig verfolgte er seinen Weg, das Pferd ging im Schritt. Und genau in dem Augenblick, wo er im Begriff stand, meinen Augen zu entschwinden, ereignete sich das Drama … Ich muß noch hinzufü gen, daß die Bevö lkerung dieses Landes wild und roh ist, es wimmelt dort von Straß enrä ubern. Mich haben sie nicht angegriffen, weil sie mich ohne Zweifel fü r ein zu miserables Wild hielten. Aber der groß e Reisende war gut angezogen und gut beritten … Von weitem habe ich sie plö tzlich zwischen den Felsen auftauchen und ihn wie ein Wespenschwarm umschwirren sehen. Er hat sich groß artig verteidigt, aber sie waren in der Ü berzahl … Ich habe ihn unter ihren Streichen fallen sehen, und dann, wä hrend einer sein Pferd wegfü hrte und ein anderer das Gepä ck fortnahm, haben drei Mä nner ihn ausgezogen und ihn in eine dieser grundlosen Schluchten geworfen, deren Anblick allein einem schon Schrecken einjagt … Er war tot, ganz sicher, oder der Sturz hat ihn vollends erledigt. Aber beschwö ren kann ich seinen Tod nicht! « »Und«, empö rte sich Saturnin, »Ihr seid nicht wieder zurü ckgegangen? Ihr habt nicht herauszufinden versucht, ob der, der Euch zu Hilfe geeilt war, noch lebte oder ob er wirklich tot war? « Der Minnesä nger schü ttelte den Kopf, hob die Schultern und spreizte die Hä nde in einer ohnmä chtigen Bewegung. »Die Banditen muß ten in der Nä he ihren Schlupfwinkel gehabt haben, denn sie blieben da, warteten zweifellos noch auf andere Reisende … Was hä tte ich ausrichten kö nnen, ich, schwach und allein, gegen diese Wilden? Und dann, der Abgrund war fü rchterlich. Wie sollte ich da hinuntersteigen? Dame«, fü gte er hinzu, sich flehentlich an Cathé rine wendend, »ich bitte Euch, mir gnä digst zu glauben, daß ich, wenn es eine Mö glichkeit gegeben hä tte, Eurem Freund oder Eurem Diener, ich weiß nicht, was er war, zu helfen, es getan hä tte, selbst unter Lebensgefahr. Guido Cigala ist kein Feigling … Das mü ß t Ihr mir glauben! « »Aber ich glaube Euch, Sire Minnesä nger, ich glaube Euch«, entgegnete Cathé rine ü berdrü ssig. »Ihr konntet nichts tun, das habe ich wohl verstanden … Doch verzeiht mir, wenn ich mich vor Euch dem Schmerz hingebe. Seht, Gauthier war mein Diener, aber sein Leben war mir kostbarer als das eines vertrauten Freundes, und der Gedanke, daß er nicht mehr ist …« Die Erregung schnitt ihr das Wort ab. Die Trä nen verdunkelten ihre Augen, und die Kehle schnü rte sich ihr zusammen, daß sie kein Wort mehr herausbrachte. Ü berstü rzt den Saal verlassend, eilte sie in ihr Zimmer, ließ sich auf ihr Bett fallen und gab sich schluchzend ihrem Schmerz hin. Diesmal war alles vorbei, endgü ltig vorbei! Sie hatte alles verloren, denn mit Gauthiers Tod schwand auch die Hoffnung, Arnaud wiederzufinden. Geheilt oder nicht, ihr Gatte wü rde nie erfahren, daß sie ihm treu blieb und daß ihre Liebe fü r ihn tiefer war als je … Jetzt war er so vollkommen fü r sie verschwunden, wie wenn die Platte des Grabes sich ü ber ihm geschlossen hä tte. Fü r Cathé rine war dies der letzte Schlag … Lange weinte sie, ohne zu bemerken, daß Sara eingetreten war und vor ihr stand, stumm und ohnmä chtig diesmal, sie in ihrem groß en Schmerz zu trö sten. Nach langen Minuten wagte Sara einzuwenden: »Vielleicht hat der Minnesä nger schlecht gesehen … Vielleicht ist Gauthier doch nicht tot. « »Wie sollte er dem Tod entronnen sein? « fragte die junge Frau mit einem nervö sen Schlucken. »Und wenn er noch nicht tot war, dann muß er kurz danach gestorben sein …« Schweigen trat zwischen den beiden Frauen ein. Von weitem, im groß en Saal, hö rte man die leichten Akkorde der Viola, die fü r einige Diener, fü r Donatienne und Saturnin und auch fü r gewisse Notabeln von Montsalvy aufspielte, die um die Gunst gebeten hatten, den wandernden Sä nger zu hö ren, ein Genuß, der ihnen schon lange nicht mehr vergö nnt gewesen war … Die weiche und volltö nende Stimme des Florentiners drang in die stille Zelle, in der die beiden Frauen sich gegenü bersaß en, ohne ein Wort zu sprechen. Guido sang ein altes Zweireimgedicht von der Liebe des Ritters Tristan und der Kö nigin Isolde: »Isolde, meine Dame, Isolde, meine Kleine, fü r Euch in den Tod, fü r Euch mein Leben …« Cathé rine unterdrü ckte ein Schluchzen. Das Klagelied des Minnesä ngers da drauß en rief Erinnerungen in ihr wach; sie schien die heiß e, leidenschaftliche Stimme Arnauds noch zu hö ren, der ihr ins Ohr flü sterte: »Cathé rine … Cathé rine, meine Kleine …« Und der Jammer, der sie durchbohrte, war so stechend, daß sie die Zä hne zusammenbeiß en muß te, um den Schmerzensschrei zurü ckzuhalten, der in ihr aufstieg. Wenn sie ihn in ihrem irdischen Leben nicht wiedersehen sollte, dann wä re es viel besser, diese Welt sofort zu verlassen, statt eine Ewigkeit zu leiden … Einen Augenblick schloß sie die Augen, rang die Hä nde und preß te die Finger zusammen, um sich wieder in Gewalt zu bekommen, und als sie die Augen aufschlug, war es nur, um Sara einen entschlossenen Blick zuzuwerfen. »Sara«, sagte sie so ruhig, daß die Zigeunerin zusammenzuckte, »ich gehe! Nachdem Gauthier tot ist, muß ich mich auf die Suche nach meinem Gatten machen. « »Auf die Suche machen? Aber wo? « »Da, wo ich ihn bestimmt vermute: in Compostela in Galicia. Es ist unmö glich, daß ich dort nicht erfahre, was aus ihm geworden ist. Und unterwegs werde ich versuchen, die Leiche des armen Gauthier zu finden, damit er wenigstens an einem angemessenen Ort ruht. Der Gedanke, daß er zu dieser Stunde und so lange schon ein Raub der Todesvö gel ist, ist mir unerträ glich. « »Aber der Weg ist lang, gefä hrlich … Wie willst du das schaffen, armes Ding? Wie soll dir gelingen, woran Gauthier gescheitert ist? « »Das heilige Osterfest ist nicht mehr sehr fern. Herkö mmlicherweise bricht eine Pilgergruppe vom Berg in Velay auf, um die Gruft von San Jago aufzusuchen. Ich werde mit ihnen gehen. Auf diese Weise verringern sich die Gefahren der Reise, und ich werde nicht allein sein! « »Und ich? « wandte Sara sofort empö rt ein. »Gehe ich nicht mit dir? « Cathé rine schü ttelte den Kopf. Sie stand auf, legte ihrer alten Freundin beide Hä nde auf die Schultern und sah sie zä rtlich an. »Nein, Sara … Diesmal gehe ich allein … Zum erstenmal, wirklich zum erstenmal – denn unser Zerwü rfnis in Chinon zä hlt nicht – werde ich ohne dich gehen! Aber nur, weil du ü ber das Kostbarste, das ich auf Erden habe … ü ber meinen kleinen Michel wachen muß t! Wenn auch du gingest, wer wü rde sich dann um ihn kü mmern? Donatienne ist zu alt, und Saturnin ist nicht jü nger. Sie werden dir zwar eine groß e Hilfe sein, aber dir vertraue ich meinen Sohn an. Du bist so sehr wie ich, Sara, daß ich ihn bei dir so glü cklich weiß, so gut versorgt, als wä re ich selbst da. Du wirst mein Gedanke, meine Hä nde, meine Lippen in einem sein. Du wirst zu ihm von mir, von seinem Vater sprechen. Und wenn Gott wollte, daß ich nicht wiederkehre …« »Schweig! « rief Sara. »Ich verbiete dir, so etwas zu sagen. Das … das tut mir so weh! …« Jetzt hatte sie Trä nen in den Augen. Cathé rine in ihrem Kummer umarmte sie warm. »Sich auf die Zukunft vorzubereiten hat noch niemanden umgebracht, meine gute Sara. Wenn ich nicht zurü ckkehre, wirst du Boten an Xaintrailles und Bernard d'Armagnac schicken, daß sie die Vormundschaft ü ber den letzten Montsalvy ü bernehmen und sich um seine Zukunft kü mmern. Aber«, fü gte sie mit einem mutigen Lä cheln hinzu, »ich hoffe doch, daß ich zurü ckkehre. « Wü tend wischte Sara sich die Trä nen ab, lö ste sich dann von Cathé rine und trat einige Schritte zurü ck. »Gut«, schimpfte sie. »Lassen wir es gelten! Ich bleibe, und du gehst. Und wie wirst du es anstellen, Montsalvy zu verlassen? Glaubst du, der Abt wird dich jetzt leichter gehen lassen als im September? « »Er wird es nicht erfahren. Seit langem habe ich das Gelü bde getan, auf den Berg zu gehen und Unserer Lieben Frau den verfluchten Diamanten anzubieten, den ich immer noch in meinem Besitz habe. Ich muß mich von ihm trennen … Und zwar zu jedem Preis, und je frü her, desto besser! Sieh, wie das Unglü ck sich an mich heftet! Gauthier, mein Abgesandter, meine einzige Hoffnung, Gauthier, der Unverwü stliche, ist unterwegs umgekommen. Mein Schicksal wird verflucht sein, solange ich den Stein besitze. Der Abt weiß, wie sehr ich wü nsche, dieses Gelü bde zu erfü llen. Er wird mich gehen lassen. Das Osterfest ist eine gute Zeit, um Unsere Liebe Frau zu feiern. Er wird meinen Wunsch ganz natü rlich finden. « »Du hast auch fü r alles eine Antwort! « sagte Sara mit ein wenig Bitterkeit. »Und ich kann kaum glauben, daß dieser Plan erst entstand, nachdem dieser verfluchte Minnesä nger angekommen ist …« »Nein«, gab Cathé rine zu. »Ich habe schon lange daran gedacht. Aber du, wirst du tun, worum ich dich bitte? « Sara zuckte die Schultern und machte sich daran, das Bett aufzuschlagen, in das sie gleich die mit Kohlenglut gefü llte Wä rmpfanne legen wü rde, um die Laken anzuwä rmen. »Was ist das fü r eine Frage! Es wä re wahrhaftig das erstemal, daß ich dir etwas verweigerte. Und auß erdem gibt es gar keine andere Wahl! … Gott weiß, was mich das kostet; trotzdem …« Als Sara die Tü r ö ffnete, um mit ihrer Wä rmpfanne in die Kü che zu gehen, drang die Stimme Guido Cigalas in die kleine Kammer. Er sang jetzt ein altes Lied des Troubadours Arnaud Daniel, und die Worte des alten Laienbruders trafen die beiden Frauen derart, daß sie einen Augenblick unbeweglich stehenblieben und sich wortlos ansahen. »Eher verkauft sich das Gold so billig wie Eisen, als daß Arnaud seine Herzliebste vergiß t …« Cathé rine war plö tzlich wie vom Blitz getroffen. Sie war blaß geworden, bis zu den Lippen, aber in ihren dunklen Augen blitzten Sterne, die funkelnden Sterne der Hoffnung. Die Stimme des Minnesä ngers antwortete auf geheimnisvolle Weise auf Fragen, die sie sich nicht mehr zu stellen wagte. Sara drü ckte die Wä rmpfanne leidenschaftlich ans Herz. »Ich mö chte bloß wissen, wer uns diesen verdammten Sä nger schickt? Der Teufel! Oder der liebe Gott? Auf jeden Fall hat er eine Stimme, die mir sehr dem Schicksal zu ä hneln scheint …« Cathé rine hatte richtig geschä tzt, als sie annahm, daß der Abt von Montsalvy sie nicht hindern wü rde, sich zum Osterfest auf den Berg von Velay zu begeben. Er begnü gte sich lediglich damit, ihr als Begleitung Bruder Eusebius, den Pfö rtner des Klosters, anzubieten, denn es schickte sich nicht, daß eine Edeldame sich allein auf die Straß en begab. Die Gesellschaft eines Mö nches wü rde Gefahren, sowohl irdische wie geistige, von ihr fernhalten. »Bruder Eusebius ist ein sanfter Mann von friedlicher Lebensart«, sagte der Abt, »aber er wird Euch nicht weniger wirksamen Schutz gewä hren. « Um die Wahrheit zu sagen, war Cathé rine von der Begleitung des wü rdigen Pfö rtners gar nicht entzü ckt. Seine runde, rosige Gestalt schien ihr zu arglos, und sie hatte gelernt, allem zu miß trauen. Sie fragte sich, ob der Abt Bernard, indem er ihn ihr als Leibwä chter mitgab, ihr nicht auch eine Art Spion an die Seite stellte, der ein neues Problem aufwerfen wü rde: Wie, einmal auf dem Berg angelangt, kö nnte sie sich von dem heiligen Mann befreien und ihn ü berreden, ohne sie nach Montsalvy zurü ckzukehren? Aber die Schwierigkeiten ihres vergangenen Lebens hatten die junge Frau gelehrt, daß jeder Tag seine eigenen Probleme hatte und daß es nichts nü tzte, sich im voraus Sorgen zu machen. Zu gegebener Zeit wü rde sie ein Mittel finden, ihrem Schutzengel zu entwischen. Und sie dachte nur noch an diese groß e Reise, die sie mit unendlich mehr Liebe als Hoffnung antreten wü rde. Mit der Fastenzeit brach auch die weiß e Kruste, die das Land bedeckte, wie von einem Kanonenschlag auf. Schnee und Glatteis schmolzen zu einer groß en Zahl dü nner Bä che, die nach allen Richtungen flossen und das Hochplateau und die Gebirgsschluchten wie ein Schweif aus Silberfä den durchzogen. Die Erde trat zuerst wieder als schwarze Flecken, dann als groß e Flä chen zutage, die zaghaft grü nten. Ein wenig Blau zerriß das ewige Ö de Grau des Himmels, und Cathé rine dachte, die Zeit sei jetzt gekommen, sich auf den Weg zu machen. Mittwoch nach dem Passionssonntag verließ en Cathé rine und Bruder Eusebius Montsalvy, beide auf Maultieren, die der Abt ihnen zur Verfü gung gestellt hatte. Das Wetter war mild, leicht regnerisch, und die Wolken eilten, vom Sü dwind getrieben, schnell am Himmel dahin. Dem Wind, der, nach Saturnin, »den Schafen die Drehkrankheit gab …« Der Abschied zwischen Cathé rine und Sara war schnell gewesen. Die eine wie die andere vermied einstimmig die Rü hrseligkeit, die mutlos macht und den Willen schwä cht. Auß erdem hä tte ein herzzerreiß ender Abschied gewiß den Argwohn des Abtes Bernard erregt. Man weinte nicht wegen einer vierzehntä gigen Trennung … Das Schlimmste war der Abschied von Michel. Mit vor zurü ckgehaltenen Trä nen schweren Augen konnte Cathé rine sich nicht genugtun, ihren kleinen Knaben zu umarmen. Sie hatte das Gefü hl, daß ihre Arme sich nie mehr ö ffnen kö nnten, um ihn loszulassen. Sara muß te ihn hochheben und ihn in die Obhut Donatiennes geben. Von der Bewegung seiner Mutter ü berwä ltigt, fing das Kind auch, ohne zu wissen, warum, zu weinen an. »Wann werde ich ihn wiedersehen? « murmelte Cathé rine, die sich mit einemmal furchtbar elend fü hlte. Es hä tte nicht viel gefehlt, und sie hä tte in ihrem groß en Kummer das ganze verrü ckte Unternehmen aufgegeben. »Wenn du willst«, sagte Sara seelenruhig, »wird dich nichts hindern zurü ckzukehren, falls du dein Ziel nicht erreichst. Und ich flehe dich an, Cathé rine, versuche Gott nicht! Ü berschä tze deine Krä fte nicht. Es gibt Fä lle, wo es besser ist, sich in sein Schicksal zu fü gen, auch wenn es grausam ist. Bedenke, daß nichts, obgleich ich hier bin, eine Mutter ersetzen kann! – Wenn die Hindernisse zu groß sind, komm zurü ck, ich beschwö re dich! … Und um der Liebe Gottes willen …« »Um der Liebe Gottes willen«, schnitt Cathé rine ihr das Wort, unter Trä nen lä chelnd, ab, »sag nichts weiter! Sonst habe ich in fü nf Minuten nicht den geringsten Mut mehr. « Doch als die Pforten der Abtei sich vor den Hufen ihres Maultiers ö ffneten, empfand Cathé rine ein auß erordentliches Freiheitsgefü hl, eine Art Rausch. Sie hatte keine Angst mehr vor dem, was sie in den kommenden Tagen erwartete. Ihr Wille muß te ü ber alle Hindernisse und Fallen triumphieren. Sie fü hlte sich stä rker, jü nger und tapferer als je … An ihrer Kehle, in einem Lederbeutelchen, das sie mit einem Band um den Hals befestigt hatte, trug sie den schwarzen Diamanten! Er hatte in ihren Augen fast jeden Wert verloren, mit einer Ausnahme! Er war der Schlü ssel, der ihr das weite Land ö ffnete! Wenn sie ihn der Jungfrau vom Berge anbot, so hieß das gleichzeitig freie Bahn auf dem langen Weg, der sie vielleicht zu ihrem Gatten fü hrte. Als sie die Mauern von Montsalvy hinter sich gelassen hatte, warf Cathé rine sich den groß en, weiten Mantel ü ber die Schultern, mit der uralten Geste des Hausierers, der sein schweres Los auf sich nimmt. Dann hob sie den Kopf. Ungerü hrt von dem sie noch lange begleitenden Klang der Glocken, die Augen fest auf das noch kurze Grü n des Weges geheftet, ritt sie dahin, ohne Schwä che und ohne Trä nen.
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