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Dritter Teil. Vierzehntes KapitelDritter Teil Die Straß e nach Compostela
Vierzehntes Kapitel
Es war nach zehn Uhr abends und dunkle Nacht, als Cathé rine, Tristan l'Hermite und ihre Eskorte am Ende einer ermü denden Reise vor Montsalvy ankamen. Das freundliche Sommerwetter hatte den Schlamm der Straß en ausgetrocknet, ihn aber auch in ebensoviel Staub verwandelt. Glü cklicherweise hatte es den Reisenden auch ermö glicht, die Nä chte unter freiem Himmel zu verbringen und tä glich lange Wegstrecken zurü ckzulegen. Man hatte reichlich Verpflegung mitgefü hrt, und die Aufenthalte in Herbergen waren selten gewesen. Die meisten von ihnen hatten ohnehin nicht viel zu bieten. Je mehr sie sich ihrem Ziel nä herte, desto mehr schien Cathé rines Ungeduld zu wachsen, und gleichzeitig verdü sterte sich ihre Stimmung. Sie wurde immer einsilbiger und ritt ganze Stunden lang, ohne ein Wort zu sprechen, die Augen auf den Weg vor ihr gerichtet, von fiebriger Eile besessen. Tristan beobachtete sie insgeheim, ohne freilich zu wagen, ihr Fragen zu stellen. Sie forcierte das Tempo soweit wie mö glich und zeigte sich ä rgerlich, wenn eine Rast eingelegt werden muß te. Aber die Pferde brauchten nun einmal Atempausen. Indes, als man Aurillac passiert hatte, ließ die groß e Hast unversehens nach. Cathé rine ließ das Tempo mehr und mehr verlangsamen, als fü rchtete sie, sich den Bergen zu nä hern, in denen Arnaud immer noch lebte. Und als die Wä lle und Tü rme von Montsalvy auf der Hochebene auftauchten wie eine dunkle, der Nacht aufgesetzte Krone, zü gelte die junge Frau ihr Pferd und hielt einen Augenblick an, mit schwerem Herzen diese Landschaft betrachtend, die kennenzulernen sie allzuwenig Zeit gehabt hatte. Tristan lenkte beunruhigt sein Pferd neben sie. »Dame Cathé rine, was habt Ihr? « »Ich weiß nicht … Freund Tristan, mir scheint, ich habe plö tzlich Angst. « »Wovor? « »Ich weiß nicht! « wiederholte sie mit mü der Stimme. »Es ist wie … eine Vorahnung. « Niemals hatte sie etwas Ä hnliches wie diese erstickende Furcht vor dem empfunden, was sie hinter diesen stummen Mauern erwartete. Sie versuchte, vernü nftig zu sein. Da drü ben waren Michel, Sara, ohne Zweifel auch Gauthier. Aber selbst das Bild ihres kleinen Sohns vermochte das bedrü ckende Gefü hl in ihrer Brust nicht zu lö sen. Sie warf Tristan einen trä nenfeuchten Blick zu. »Reiten wir weiter«, sagte sie schließ lich. »Die Mä nner sind mü de! « »Und Ihr auch! « brummte der Flame. »Vorwä rts, Leute! « Die Stadttore waren zu dieser spä ten Stunde geschlossen, aber Tristan setzte das Horn, das an seinem Gü rtel hing, an den Mund und stieß dreimal hinein. Nach einem Weilchen beugte sich ein Mann mit einer Laterne ü ber die Zinne. »Wer ist da? « »Ö ffnet! « rief Tristan. »Es ist die edle Dame Cathé rine de Montsalvy, die vom Hofe zurü ckkehrt, ö ffnet! Im Namen des Kö nigs! « Der Wä chter stieß einen unartikulierten Schrei aus. Das Licht verschwand, aber einige Augenblicke spä ter ö ffnete sich knarrend das Tor der kleinen befestigten Stadt. Der Mann mit der Laterne erschien wieder, die Kappe in der Hand, und trat bis unter die Kö pfe der Pferde heran, seine Laterne hebend. »Wahrhaftig, es ist unsere Dame! « rief er freudig. »Gott segne sie, daß sie zu so gelegener Zeit ankommt. Man hat nach dem Amtmann geschickt, um sie wü rdig zu empfangen. « In der Tat kam auf der einzigen schmalen Gasse eine schwankende Gestalt eilends angelaufen. Cathé rine, plö tzlich erleichtert, erkannte den alten Saturnin. Er kam mit der ganzen Schnelligkeit, die seine alten Beine ihm erlaubten, und rief: »Dame Cathé rine! Dame Cathé rine kehrt zu uns zurü ck! Gott sei gelobt! Willkommen unserer Herrin! « Er war ganz auß er Atem. Bewegt und ein wenig belustigt, wollte Cathé rine absteigen, um ihn zu begrü ß en, aber er warf sich buchstä blich gegen das Pferd. »Bleibt im Sattel, Herrin! Der alte Saturnin will Euch zur Abtei fü hren, wie er Euch damals zu seiner Meierei gefü hrt hat. « »Ich bin so glü cklich, Euch wiederzusehen, Saturnin … und Montsalvy wiederzusehen! « »Nicht so glü cklich wie Montsalvy, Euch wiederzusehen, gnä dige Dame. Seht! « Wirklich ö ffneten sich wie durch ein Wunder sä mtliche Fenster und Tü ren, Kö pfe lugten heraus, Mä nner und Frauen traten ü ber die Schwellen, Fackeln wurden geschwenkt. Im Augenblick war das Gä ß chen festlich erleuchtet, wä hrend von ü berallher freudige Stimmen riefen: »Heil! Heil unserer Dame, die zu uns zurü ckkehrt! « »Ich beneide Euch«, murmelte Tristan. »Ein solcher Empfang muß ungeheuer labend sein. « »Das ist wahr! So habe ich ihn nicht erwartet, und ich bin sehr glü cklich darü ber … sehr glü cklich! « Sie hatte Trä nen in den Augen. Saturnin, hochaufgerichtet vor Stolz, hatte die Zü gel ihres Pferdes ergriffen und fü hrte sie langsam die Straß en entlang, zwischen zwei Reihen strahlender, von Freude und Fackelschein gerö teter Gesichter hindurch, ü berall sah man nur leuchtende Augen, offene Mü nder, die Freudenrufe ausstieß en. »Was fü rchtet Ihr noch? « flü sterte Tristan. »Die ganze Welt betet Euch hier an! « »Vielleicht. Und ich weiß noch immer nicht, was ich fü rchtete. Es ist wunderbar! Es ist …« Die Worte erstarben auf ihren Lippen. Sie war vor dem Portal der Abtei angelangt, das ebenfalls weit geö ffnet war. Auf der Schwelle erhob sich die riesige Gestalt Gauthiers. Cathé rine erwartete, daß er bei ihrem Anblick auf sie zueilen wü rde, wie Saturnin es getan hatte, aber er rü hrte sich nicht. Statt dessen verschrä nkte er die Arme, als wollte er ihr den Eintritt verwehren. Sein Gesicht hatte die Unbeweglichkeit von Granit. Kein Lä cheln erhellte es. Und als Cathé rine dem eisigen Blick seiner grauen Augen begegnete, konnte sie sich eines Frö stelns nicht erwehren. Von Saturnin gestü tzt, stieg sie vom Pferd und ging auf den Normannen zu. Er verharrte bewegungslos, ohne ihr auch nur einen Schritt entgegenzugehen. Sie versuchte zu lä cheln. »Gauthier! « rief sie. »Welche Freude, dich wiederzusehen! « Doch aus dem verkniffenen Mund kam kein Wort des Willkommens. Nichts als ein trockenes: »Seid Ihr allein? « »Wie? « fragte sie verdutzt. »Ich habe gefragt, ob Ihr allein seid«, wiederholte der Normanne ungerü hrt. »Ist er nicht bei Euch, dieser schö ne blonde Galan, den Ihr heiraten wollt? Zweifellos ist er ein wenig zurü ckgeblieben, um Euch allein Einzug halten zu lassen! « Cathé rine errö tete jä hlings, mehr aus tiefer Krä nkung als aus Zorn. Die Unverschä mtheit Gauthiers verwirrte sie. Er wagte es, sie brutal vor allen Leuten anzugreifen und Rechenschaft von ihr zu fordern! Wenn sie in den Augen ihrer Bauern nicht das Gesicht verlieren wollte, muß te sie zurü ckschlagen. Ihr kleines Kinn vorschiebend, schritt sie entschlossen dem Portal zu. »Platz! « sagte sie trocken. »Wer hat dir erlaubt, mir Fragen zu stellen? « Gauthier rü hrte sich nicht von der Stelle. Er versperrte weiter den Eingang mit seiner riesigen Gestalt. Tristan runzelte die Stirn, legte die Hand auf den Degen. Aber Cathé rine hielt ihn zurü ck. »Laß t, Freund Tristan. Das ist meine Sache! Also«, befahl sie scharf, »laß mich durch. Empfä ngt man so eine Lehnsherrin, die in ihr Haus zurü ckkehrt? « »Das ist nicht Euer Haus, sondern das des Abtes! Und was die Herrin betrifft, Dame Cathé rine, seid Ihr dieses Titels noch wü rdig? « »Welche Anmaß ung! « rief Cathé rine auß er sich. »Bin ich dir Rechenschaft schuldig! Ich will meine Schwiegermutter sehen! « Wie mit Bedauern trat Gauthier zur Seite. Cathé rine schritt hocherhobenen Hauptes an ihm vorbei und betrat den Hof der Abtei. Kalt rief er ihr nach: »Beeilt Euch! Denn sie wird nicht mehr lange leben! « Wie von einem Peitschenhieb getroffen, blieb Cathé rine stehen. Einen Moment schien sie wie erstarrt, dann wandte sie sich langsam um und warf dem Normannen einen entsetzten Blick zu. »Wie? « stammelte sie. »Was hast du gesagt? « »Daß sie im Sterben liegt! Aber das wird Euch ja nicht sehr berü hren! Ein weiteres hinderliches Band, das nun wegfallen wird! « »Ich weiß nicht, wer du bist, Freund«, warf Tristan wü tend ein, »aber du hast ein sonderbares Benehmen! Wieso diese Grobheit deiner Herrin gegenü ber? « »Wer seid Ihr? « fragte Gauthier verä chtlich. »Tristan l'Hermite, Stallmeister des Herrn Konnetabel, vom Kö nig beauftragt, die Grä fin de Montsalvy nach Hause zu geleiten und darü ber zu wachen, daß ihr nichts zustö ß t. Zufrieden? « Gauthier nickte. Aus ihrer Eisenklammer nahm er eine Fackel, die dicht unter dem Kreuzgewö lbe brannte, und ging schweigend den Reisenden zum Gä stehaus der Abtei voraus. Nach der Aufregung und dem Gelä rm des Dorfes war die Stille des Klosters auffallend. Die Mö nche hatten sich bereits in ihre Zellen zurü ckgezogen, der Abt war unsichtbar. Nur einige Kerzen brannten hinter den kleinen Fenstern des Gä stehauses. Auf der Schwelle stand niemand, und Cathé rine hielt Gauthier plö tzlich an, indem sie seinen Arm ergriff: »Und Sara? Ist sie hier? « Er sah sie mit ü berraschten Augen an. »Warum sollte sie hier sein? Sie hat Euch nie verlassen …« »Doch, sie hat mich verlassen«, entgegnete Cathé rine betrü bt. »Sie hat mir gesagt, sie kehre nach Montsalvy zurü ck. Mehr weiß ich nicht, auch unterwegs habe ich sie nicht getroffen. « Gauthier antwortete nicht sofort. Seine grauen Augen hefteten sich fü r einen Moment prü fend auf die Cathé rines. Er hob die breiten Schultern und murmelte mit bitterer Ironie: »Sie auch! Dame Cathé rine, wie konntet Ihr uns das alles antun? « Im hö chsten Grad erbittert, schrie sie fast: »Was antun? Was habe ich denn getan, um euer aller Miß billigung zu verdienen? Was werft ihr mir vor? « »Uns diesen Mann geschickt zu haben! « erwiderte Gauthier schroff. »Ihr hä ttet Euch ihm hingeben kö nnen, wenn Euch das richtig erschien, ohne ihn herzuschicken und ihn mit seiner angeblichen groß en Liebe hier paradieren zu lassen! Woran, glaubt Ihr, stirbt die Dame de Montsalvy … in Wahrheit? An den vertraulichen Mitteilungen Eures Geliebten! « »Er ist nicht mein Geliebter! « wandte Cathé rine wü tend ein. »Eures kü nftigen Gatten also! Das ist dasselbe. « Mit beiden Hä nden umklammerte Cathé rine die riesige Hand des Normannen. Ein unwiderstehlicher Drang, sich zu rechtfertigen, erfü llte sie. Sie konnte es einfach nicht mehr aushalten, noch lä nger unter dieser Anklage zu stehen. »Hö r zu, Gauthier. Wirst du mir glauben, wenn ich dir versichere, daß er es nicht und niemals sein wird, daß ich ihn aller Wahrscheinlichkeit nach niemals wiedersehen werde? « Zunä chst antwortete der Riese nicht. Er schien eher in den Augen Cathé rines nach einer Antwort zu suchen, doch nach und nach schwand die Hä rte aus seinem Gesicht. Spontan nahm er beide Hä nde der jungen Frau in die seinen. »Ja«, sagte er mit neuer Wä rme, »ich werde Euch glauben! Und wie gern! Jetzt kommt, kommt schnell und sagt ihr, daß es nicht wahr ist, daß Ihr nie daran dachtet, Messire Arnaud zu ersetzen! Sie hat so sehr darunter gelitten! « Tristan l'Hermite beobachtete sie erstaunt. Offensichtlich begriff er nichts von dem, was sich vor ihm abspielte. Daß Cathé rine, eine groß e Dame, sich dazu hergab, sich vor diesem Bauernlü mmel zu rechtfertigen, ging nun wirklich ü ber sein Verstä ndnis! Cathé rine bemerkte es, wandte sich ihm mit der Andeutung eines Lä chelns zu und sagte kurz: »Ihr kö nnt nicht verstehen, Freund Tristan! Ich werde es Euch erklä ren! « Er verneigte sich, ohne zu antworten, dachte, daß er bis auf weiteres zweifellos ü berflü ssig sei, und fragte, ob man ihn freundlicherweise an einen Ort fü hren wü rde, wo er seine Mä nner fü r die Nacht unterbringen und sich selbst ausruhen kö nne. Gauthier wies auf einen dicken, schlä frigen Mö nch, der ein paar Schritte hinter ihnen gä hnte, als ob er sich gleich die Kinnlade ausrenken wü rde. »Das ist Bruder Eusebius, der Pfö rtner, der sich um Euch kü mmern wird. Die Tiere kommen in den Stall, die Mä nner finden ein Strohlager in einer Scheune, und Ihr bekommt eine Zelle. « Wieder verneigte sich Tristan vor Cathé rine und folgte dann Bruder Eusebius an der Spitze seiner Mä nner. Die junge Frau schritt nicht ohne Bewegung ü ber die Schwelle dieses Gä stehauses, das sie vor so vielen Monaten mit Arnaud und Bernard verlassen hatte, um nach Carlat zu gehen und dort das zu finden, was sie fü r das Glü ck hielt. Aber mit aller Kraft verjagte sie diese niederdrü ckenden Bilder, denn das, was sie jetzt erwartete, erforderte ihren ganzen Mut. In der kleinen Halle mit ihrer niedrigen, gewö lbten Decke blickte sie Gauthier an: »Mein Sohn? « »Er schlä ft zu dieser Stunde. « »Laß mich ihn sehen! Es ist so lange her! « Ein kurzes Lä cheln spielte um Gauthiers Lippen, und er nahm Cathé rine bei der Hand. »Kommt! Das wird Euch Mut machen. « Er zog sie in ein kleines dunkles Zimmer, von dem eine offene Tü r in einen anderen, schwach erleuchteten Raum fü hrte, in dem Cathé rine Donatienne, die Frau Saturnins, bemerkte. Sie hockte auf einem Bä nkchen und schien eingeschlafen zu sein. Der Schein der Kerze zuckte ü ber die verbrauchten Zü ge der alten Frau und verriet ihre Mü digkeit. Gauthier zeigte mit einer Bewegung auf sie und murmelte: »Seit drei Nä chten schon wacht sie ü ber unsere Dame. Gewö hnlich schlä ft sie neben dem kleinen Herrn. Sie ist eingeschlafen …« Wä hrend er sprach, nahm er eine Kerze von einer Truhe, ging leise zu einer drauß en neben der Tü r brennenden Fackel und zü ndete die Kerze an der rauchigen Flamme an. Dann kam er zurü ck, begab sich ans Kopfende des Bettes, in dem der kleine Michel schlief, und hob das zitternde Licht ü ber den Kopf des Kindes. In grö ß tem Erstaunen ließ Cathé rine sich auf die Knie fallen und faltete die Hä nde wie vor dem Tabernakel. »Mein Gott! « stammelte sie. »Wie schö n er ist! Und … wie er ihm schon ä hnlich sieht! « fü gte sie mit heiserer Stimme hinzu. Es stimmte. Unter dem dichten Gewirr seiner zerzausten goldenen Locken hatte der kleine Michel schon das klare Profil seines Vaters. Seine runden, rosigen Wangen, auf die die gebogenen Wimpern einen zarten Schatten warfen, waren noch ganz von kindlicher Sü ß e, aber das Naschen hatte etwas Stolzes an sich, und eine eigenwillige Falte zeichnete den fest geschlossenen Mund. Cathé rines Herz schmolz vor Zä rtlichkeit, doch sie wagte nicht, sich ü ber den Kleinen zu beugen. Er sah wie ein schlafendes Engelchen aus, und sie fü rchtete, daß die geringste Bewegung ihn wecken wü rde. ! Gauthier, der das Kind gleichfalls mit einer Art Stolz betrachtete, bemerkte es. »Ihr kö nnt ihn umarmen«, sagte er lä chelnd. »Wenn er einmal schlä ft, kann neben ihm der Blitz einschlagen. Er zuckt nicht mit der Wimper. « Darauf beugte sie sich hinunter und drü ckte die Lippen mit Entzü cken auf die kleine, ein wenig feuchte Stirn. Tatsä chlich wachte Michel nicht auf, aber ein Lä cheln huschte ü ber seinen kleinen, fest zusammengepreß ten Mund. »Mein Kleiner! « flü sterte Cathé rine, von Liebe erstickt. »Mein ganz Kleiner! « Sie hä tte ohne weiteres die ganze Nacht neben dem Bett ihres Sohnes kniend und seinen Schlaf bewachend zugebracht, doch aus dem anschließ enden Zimmer drang ein Rö cheln. Donatienne fuhr aus ihrem Schlummer auf, hastete in den hinteren Teil des Raums und war nicht mehr zu sehen. »Dame Isabelle muß aufgewacht sein! « flü sterte Gauthier. »Ich gehe hinein! « sagte Cathé rine. Jetzt drang ein erschü tterndes Atemgerä usch, von trockenem Husten unterbrochen, zu ihr heraus. Rasch betrat sie das Zimmer, das kaum grö ß er als eine Mö nchszelle und auch kaum weniger kahl war. Auf dem schmalen Bett in einer Ecke lag, sehr abgemagert, Isabelle de Montsalvy. Donatienne beugte sich ü ber sie und versuchte, ihr etwas dampfenden Heilkrä utertee aus einer Schale einzuflö ß en, die sie von einem kleinen Ö lkocher genommen hatte. Aber die alte Frau war unfä hig, auch nur einen Schluck hinunterzubringen. Wie sie gealtert und seit ihrer Abreise geschrumpft war, und wie zerbrechlich sie jetzt schien! Ihr Kö rper wirkte ä therisch, ohne jede Substanz, und im fahlen, vö llig blutlosen Gesicht sah man nur noch den eingefallenen Mund, der nach Luft rang, und die zu groß gewordenen Augen. Donatienne wandte sich mit einem entmutigten Seufzer ab, um die Schale wieder zurü ckzustellen. Und jetzt sah sie Cathé rine. Ihre mü den Augen begannen zu strahlen, vor Freude und Trä nen gleichermaß en. »Dame Cathé rine! « stammelte sie. »Gott sei gelobt! Ihr kommt zur rechten Zeit! « Rasch legte Cathé rine einen Finger auf die Lippen, um der alten Frau Schweigen zu gebieten, doch diese schü ttelte traurig den Kopf. »Oh, wir kö nnen sprechen! Sie hö rt nichts! Das Fieber ist so stark, daß sie nur im Delirium spricht! « Tatsä chlich drangen einige unzusammenhä ngende Worte ü ber die pergamentenen Lippen der Kranken, unter denen Cathé rine erschü ttert ihren und Arnauds Namen unterscheiden konnte … Der heftige Hustenanfall hatte allmä hlich nachgelassen, doch die Atemzü ge blieben schwer und rö chelnd. Der Ausdruck der Augen war ein einziges Flehen. In ihrem Delirium schien Isabelle entsetzlich zu leiden, und Cathé rine spü rte, daß sie der Grund dieses Leidens war. Sacht nahm sie die brennend heiß e Hand, die sich in den rauhen Stoff der Decke krampfte, und drü ckte ihre Lippen darauf. Dann legte sie sie an ihre Wange, wie sie es frü her so oft getan hatte. »Mutter«, bat sie leise, »Mutter, hö rt mich! Seht mich an! Ich bin da … bei Euch! Ich bin's, Eure Tochter Cathé rine … Cathé rine! « Etwas schien sich in dem leeren, schmerzlichen Blick zu beleben. Der Mund schloß sich, ö ffnete sich wieder und hauchte: »Cathé rine! « »Ja! « sagte die junge Frau beharrlich. »Ich bin's … Ich bin da! « Die Augen drehten sich in ihren Hö hlen, ihr Blick schien etwas zu suchen, glitt zu der jungen Frau, die sich ü ber sie beugte, um die abgezehrten Finger zu drü cken. »Es hat keinen Zweck, Dame Cathé rine«, murmelte Donatienne betrü bt. »Sie ist nicht bei Bewuß tsein. « »Aber doch! Sie kommt zu sich! Mutter! Seht mich an! Erkennt Ihr mich? « Sie nahm ihren ganzen Willen zusammen, vö llig darauf konzentriert, den schweifenden Geist der Kranken zu erreichen, zu fesseln. Sie wü nschte so sehr, ihre Krä fte auf diesen erschö pften Kö rper ü bertragen zu kö nnen, daß sie den Eindruck hatte, ein warmer Strom vereinige ihre Hä nde. Noch einmal flehte sie: »Seht mich an! Ich bin Cathé rine, Eure Tochter! Die Frau Arnauds! « Bei der Nennung seines Namens lief ein Schauder ü ber die trockene Haut Isabelles. Ihr Blick, diesmal klar, haftete auf dem ä ngstlichen Gesicht der jungen Frau. »Cathé rine! « hauchte sie. »Ihr seid zurü ckgekommen? « »Ja, Mutter … ich bin zurü ckgekommen! Und ich werde Euch nicht mehr verlassen … nie mehr! « Die dunklen Augen der Kranken sahen sie mit einer Mischung von Bangen und Zweifel an. »Ihr … bleibt hier? Aber … dieser junge Mann … Bré zé? « »Er hat seine Trä ume fü r Wirklichkeit gehalten! Ich werde ihn nicht mehr wiedersehen! Ich bin Cathé rine de Montsalvy und bleibe es, Mutter. Ich bin ›seine‹ Frau … Nichts als seine Frau! « Ein intensiver Ausdruck der Erleichterung breitete sich ü ber die Zü ge der Kranken. Ihre Hand, die sich an die Cathé rines klammerte, wurde weich und gab nach, und ein leises Lä cheln ö ffnete ihre Lippen. »Gott sei gesegnet! « hauchte sie. »Ich kann in Frieden sterben! « Einen Augenblick schloß sie die Augen, ö ffnete sie wieder und sah Cathé rine zä rtlich an. Durch ein Zeichen gab sie ihr zu verstehen, daß sie sich zu ihr herunterbeugen solle, und flü sterte geheimnisvoll: »Ich habe ihn wiedergesehen, wiß t Ihr …« »Wen, Mutter? « »Ihn, meinen Sohn! … Er ist zu mir gekommen! … Er ist immer noch so schö n! O ja, so schö n! « Ein heftiger Hustenanfall schnitt ihr brutal das Wort ab. Ihr Gesicht wurde purpurrot, der Blick flackerte. Die arme Frau fiel zurü ck und kä mpfte gegen das Ersticken an. Der Augenblick der Beruhigung war vorü ber. Donatienne nä herte sich wieder mit ihrer Tasse: »Der Bader sagt, wenn sie hustet, soll man ihr einen Absud aus Klatschmohn, getrockneten Malven und Veilchen zu trinken geben, aber es ist nicht leicht …« Mit Cathé rines Hilfe gelang es ihr trotz allem, der Kranken ein wenig von der Flü ssigkeit einzuflö ß en. Der Husten klang weniger hohl, und langsam entspannte sich der verkrampfte Kö rper, doch die Augen ö ffneten sich nicht wieder. »Vielleicht wird sie jetzt ein wenig schlafen«, flü sterte Donatienne. »Legt Euch auch hin, Dame Cathé rine. Die lange Reise muß Euch ermü det haben. Ich werde noch bis gut in den Morgen hinein wach bleiben. « »Ihr seid erschö pft, Donatienne. « »Bah! Ich bin rü stig! « sagte die alte Bä uerin mit einem wackeren Lä cheln. »Und Euch nun wieder hier zu wissen gibt mir Mut. « Mit dem Kopf machte Cathé rine eine Bewegung zu der Kranken hin, die tatsä chlich einzuschlafen schien. »Ist sie schon lange krank? « »Seit ü ber einer Woche, gnä digste Dame! Sie hat unbedingt hinü bergehen wollen … nach Calves, mit Fortunat! Sie wollte nicht mehr lä nger von ihrem Sohn getrennt sein … Unterwegs geriet sie in starke Regengü sse, die drei Tage lang ununterbrochen fielen. Trotzdem wollte sie nirgendwo anhalten. Fortunat ist es nicht gelungen, sie zu bewegen, Schutz zu suchen. Durchweicht, erstarrt und mit den Zä hnen klappernd kehrte sie heim. In der folgenden Nacht bekam sie hohes Fieber. Seitdem ist die Krankheit nicht besser geworden …« Mit gerunzelter Stirn hatte Cathé rine Donatienne zugehö rt, ohne sie zu unterbrechen. Die Reue nagte an ihr. Sie verstand die Reaktion Isabelles sehr wohl. In ihrem Mutterherzen hatte sie das Leid, das Cathé rine Arnaud angetan hatte, ausgleichen wollen, selbst wenn ihr Sohn nichts davon wuß te. Wie hä tte er auch in dieser Gruft von einer Leprastation davon erfahren sollen? Machten nicht alle Gerä usche der Auß enwelt an der Schwelle der lebendig Begrabenen halt, die nur unter der Bedingung geduldet wurden, daß sie sich abseits von allem hielten und sich der Vergessenheit anheimgaben? Mechanisch fragte Cathé rine: »Wo ist eigentlich Fortunat? « Gauthier, der in die Betrachtung Michels versunken war, antwortete: »Heute ist Freitag, Dame Cathé rine. Fortunat ist gestern nach Calves aufgebrochen, wie er es jede Woche tut. Nicht ein einziges Mal hat er's versä umt … und er geht stets zu Fuß, aus Demut. « »Habt ihr denn genug Lebensmittel hinzuschicken? « »Nein. Manchmal nimmt Fortunat nur ein kleines, rundes Weiß brot oder einen Kä se mit und zuweilen sogar ü berhaupt nichts. Dann setzt er sich auf eine Anhö he, von der aus man die Krankenstation sehen kann. Dort bleibt er stundenlang und blickt hinü ber … Er ist ein seltsamer Bursche, aber ich versichere Euch, Dame Cathé rine, ich habe noch niemals solche Treue angetroffen. « Verlegen wandte Cathé rine den Kopf ab, um die plö tzliche Rö te, die ihr in die Wangen stieg, zu verbergen. Sicher, der kleine gaskognische Knappe gab da eine groß artige Lektion. Nichts vermochte ihn von seinem Herrn loszureiß en, den er nicht vergessen konnte. Und wenn sie ihr eigenes Verhalten mit dem Fortuná is verglich, muß te sie sich eingestehen, daß der Vorzug bei dem Gaskogner lag. »Ich auch nicht«, murmelte sie. »Wer hä tte gedacht, daß dieser Gaskogner sich so anhä nglich erweisen wü rde? ü brigens, wann kommt er zurü ck … von da unten? « »Morgen im Laufe des Tages. « Aber am nä chsten Tag kehrte Fortunat nicht zurü ck. Erst gegen Abend merkte es Cathé rine, als man sich im Gemeinschaftsraum zum Abendessen versammelte. Den ganzen Tag war sie bei Isabelle geblieben, der es etwas besser zu gehen schien. Auß erdem hatte sie mit dem Prior der Abtei eine lange Unterredung gehabt. Es war jetzt Zeit fü r sie, das Schloß wiederaufzubauen, da ihr die nö tigen Mittel dafü r zur Verfü gung standen. Der kö nigliche Finanzminister hatte ihr eine schö ne Summe in Goldtalern ausgezahlt, und sie besaß noch immer ihre Juwelen, abzü glich der wenigen Steine, die von ihr oder von Isabelle fü r ihren Unterhalt in den vergangenen Zeiten verkauft worden waren. Bernard de Calmont d'Olt, der junge Abt von Montsalvy, war ein energischer und intelligenter Mann. Sie ü berreichte ihm in Anerkennung des Schutzes, den er ihrer Familie gewä hrt hatte, einen wundervollen Ordensstern aus Rubinen, den er an seinen Chormantel heften konnte, und begann, die ersten Plä ne fü r den Wiederaufbau zu skizzieren. Einer der Mö nche der Abtei, Bruder Sebastian, wurde beauftragt, die Plä ne auszuarbeiten, ein anderer, den Steinbruch zu suchen, aus dem man die Bausteine beziehen wü rde. Wie in allen groß en Abteien traf man in Montsalvy fast alle Handwerks‑ und Gewerbegruppen an. »Auf jeden Fall«, hatte der Abt zu ihr gesagt, »kö nnt Ihr hier bleiben, solange Ihr wü nscht. Das Gä stehaus liegt abseits genug vom Klostergebä ude, so daß die Anwesenheit einer jungen Frau, selbst fü r lä ngere Zeit, keinen Stoff zu Skandalen bietet. « Ü ber diesen Punkt beruhigt, hatte sich Cathé rine sodann um Tristan l'Hermite und seine Mä nner gekü mmert, die am folgenden Morgen nach Parthenay aufbrechen sollten. Die Soldaten hatten eine groß zü gige Vergü tung erhalten. Was Tristan betraf, so hatte sie ihm eine schwere, mit Tü rkisen besetzte Goldkette geschenkt, die einst Garin de Brazey gehö rt hatte. »Sie soll Euch an uns erinnern! « sagte sie zu ihm, als sie sie ihm um den Hals legte. »Tragt sie oft in Erinnerung an Cathé rine. « Er hatte sein seltsames Lä cheln im Mundwinkel gelä chelt und mit zweifellos bewegterer Stimme, als er gewollt hatte, gemurmelt: »Glaubt Ihr, es bedü rfte eines kö niglichen Juwels, um mich an Euch zu erinnern, Dame Cathé rine? Und lebte ich zweihundert Jahre, wü rde ich Euch nicht vergessen! Aber ich werde mit Freuden diese Kette aus groß en Tagen tragen. Mit Stolz auch, da sie von Euch kommt. « Das gemeinsam eingenommene Abendessen sollte das letzte vor ihrer Trennung sein. Cathé rine empfand echten Schmerz, sich von diesem guten, wortkargen Kameraden trennen zu mü ssen, der sich so aufopfernd und von so groß em Mut beseelt gezeigt hatte. Auch wollte sie, trotz des Zustandes ihrer Schwiegermutter, daß diese Mahlzeit einen festlichen Charakter annehmen sollte. Mit Hilfe Donatiennes und dem guten Willen des Wirtschaftshofes des Klosters gelang es ihr, wenn auch kein prä chtiges, so doch ein achtbares Souper zusammenzustellen. In eine der wenigen eleganten Roben gekleidet, die sie noch besaß, setzte sie sich neben ihren Gast unter einen herrschaftlichen Baldachin, und Gauthier servierte das Festmahl mit mehr gutem Willen als Stil. Aber die beiden Freunde sprachen der Kohlsuppe und den gebratenen Kapaunen des Abtes deshalb nicht weniger herzhaft zu. Als man sich von der Tafel erhob, sah Cathé rine, daß die Nacht voll hereingebrochen war, und erkundigte sich nach Fortunat. Den ganzen Tag hatte sie auf seine Rü ckkehr gewartet, mit der absurden Hoffnung auf neue Nachrichten. Als ob er ü berhaupt Nachrichten haben kö nnte, wo es sich doch um einen Leprakranken handelte? … Es war eine Enttä uschung zu hö ren, daß er noch nicht zurü ckgekommen sei. Und dieser Enttä uschung fü gte sich noch eine Unruhe hinzu, als sie feststellte, daß Gauthier besorgt zu sein schien. »Er muß sich verspä tet haben«, sagte sie, als er von einem letzten Besuch beim Bruder Pfö rtner zurü ckkam. »Dann wird er eben morgen zurü ckkehren. « Aber der Normanne schü ttelte den Kopf. »Fortunat? Der ist pü nktlich wie eine Uhr! Er bricht stets in derselben Stunde auf und kehrt stets zur selben Stunde zurü ck, genau vor dem Abendessen. Es geht nicht mit natü rlichen Dingen zu, daß er nicht hier ist! « Sein Blick kreuzte den Cathé rines. Beide hatten denselben Gedanken. Etwas war Fortunat zugestoß en, aber was? Ein unglü ckliches Zusammentreffen war immer mö glich, obgleich das Gebiet ziemlich sicher war, seitdem die Armagnacs die Garnison von Carlat verstä rkt hatten und der energische Bernard de Calmont der Abtei vorstand. Auß erdem rä umte der Englä nder einen der befestigten Plä tze nach dem anderen in der Auvergne. »Warten wir! « sagte Cathé rine nur. »Morgen bei Tagesanbruch gehe ich ihm entgegen. « Cathé rine hatte Lust zu sagen: »Ich komme mit …«, aber sie besann sich eines Besseren. Sie konnte Isabelle in diesem Augenblick nicht allein lassen. In ihren wenigen lichten Augenblicken verlangte die alte Dame sofort nach ihr und zeigte eine solche Freude ü ber ihre Anwesenheit, daß Cathé rine es nicht ü bers Herz brachte, sie ihrer zu berauben. Sie begnü gte sich zu seufzen: »Es ist gut! Du wirst tun, was du fü r richtig hä ltst! « Ehe sie schlafen ging, machte sie einen Rundgang im Hause, bedacht darauf, alle ihre Pflichten als Haushaltungsvorstand peinlich zu erfü llen. Da der Abt ihr freie Verfü gung ü ber das Gä stehaus ließ, sorgte sie dafü r, daß alles in bester Verfassung war. Sie ging sogar in den Stall, wo die Pferde der Eskorte standen, doch eher aus einem sentimentalen Grund als der Ordnung halber. Tatsä chlich war sie ü berrascht, Morgane dort wiederzufinden, ihre weiß e Stute, die der Schotte Hugh Kennedy, treu seinem ihr gegebenen Versprechen, nach Carlat hatte zurü ckbringen lassen. Morgane war fü r sie ebenso eine wichtige Persö nlichkeit wie eine Freundin. Beide verstanden sich wunderbar und hatten sich mit groß er Freude wiedergefunden. »Es ist uns bestimmt, allmä hlich zusammen alt zu werden«, sagte Cathé rine etwas melancholisch, das schneeige Fell Morganes streichelnd. »Du wirst nichts mehr als der weise Zelter einer noch weiseren Dame sein! « Die groß en, gescheiten Augen Morganes blickten sie mit einem Ausdruck an, den Cathé rine fü r diabolisch hielt, und das kampflustige Wiehern, das ihn begleitete, gab deutlich zu verstehen, daß die kleine Stute, was sie betraf, nichts dergleichen glaubte … Dies war so erstaunlich, daß Cathé rine lachen muß te. Sie reichte Morgane ein Stü ck Zucker, das sie extra fü r sie mitgebracht hatte, und tä tschelte ihr dann die Kruppe. »Wir haben Lust auf Abenteuer, wie mir scheint, was? Gut, meine Schö ne, wir mü ssen dir einen Grund dazu finden! « Nachdem sie den Stall verlassen hatte, bekam Cathé rine Lust, sich noch etwas im Hof aufzuhalten, weil die Nacht auß ergewö hnlich schö n war, aber Donatienne kam, um ihr zu sagen, sie habe ihr ein Bett in einem Zimmer neben dem Isabelles hergerichtet. »Ich wollte mich neben ihr niederlassen! « protestierte Cathé rine. »Ihr habt genug gewacht, Donatienne. Ihr mü ß t schlafen …« »Bah! Ich schlafe ebensogut auf einer Bank! « sagte die alte Bä uerin gutmü tig lä chelnd. »Und dann glaube ich, daß sie heute nacht gut schlafen wird. Der Bruder Apotheker hat mir fü r sie einen Absud aus Klatschmohn gegeben … Ihr solltet eigentlich auch etwas davon trinken. Ihr scheint recht nervö s zu sein! « »Ich glaube, ich werde auch ohne das ausgezeichnet schlafen! « Sie ging Michel umarmen, der unter dem gleichmü tigen Blick Gauthiers sein Gebet herunterhaspelte. Die Kameradschaft, die das Kind und den riesenhaften Normannen verband, hatte sie gleichermaß en belustigt und ü berrascht. Beide verstanden sich wunderbar, und wenn Gauthier dem kleinen Herrn gegenü ber eine gewisse Nachgiebigkeit zeigte, so ließ er ihm doch nicht alles durchgehen. Was Michel betraf, so betete er Gauthier an, dessen Krä fte er sichtlich bewunderte. Er hatte seine Mutter empfangen, als wä re sie erst tags zuvor abgereist. Er war ihr auf seinen noch etwas unsicheren Beinchen in die Arme geeilt, sobald er sie von weitem erblickte, und hatte, die Hä ndchen um ihren Hals schlingend, seinen blonden Kopf zä rtlich an den Cathé rines gelegt und einen glü cklichen Seufzer ausgestoß en. »Mama! « hatte er nur gesagt. Und Cathé rine waren die Trä nen gekommen. An diesem Abend brachte sie ihn selbst zu Bett, dann, nachdem sie ihn gekü ß t hatte, ließ sie ihn die Geschichte anhö ren, die Gauthier erzä hlte. Jeden Abend erzä hlte der Normanne seinem kleinen Freund eine Geschichte, einen Ausschnitt, wenn die Erzä hlung zu lang war, und es waren die fremden Legenden aus dem Norden, voll von Dä monen, phantastischen Gö ttern und kriegerischen Jungfrauen. Der Kleine hö rte mit offenem Mund zu und schlief schließ lich langsam ein … Cathé rine zog sich auf Zehenspitzen zurü ck, wä hrend Gauthier begann: »Also, der Sohn Erichs des Roten stieg mit seinen Kameraden auf sein Schiff und fuhr mit ihnen auf das groß e Meer hinaus …« Gauthiers Stimme hatte etwas Einschlä ferndes. Das Kind war noch zu jung, um diese Erzä hlungen aus einem anderen Zeitalter zu begreifen, aber es machte trotzdem groß e verwunderte Augen, von den melodramatischen, unbekannten Worten und dem Zauber dieser ernsten Stimme gefesselt. In ihrem kleinen, schmalen Bett ü berließ Cathé rine sich ihr auch, empfä nglich fü r die Besä nftigung, die die Stimme ihr brachte. Ihr letzter Gedanke galt Sara. Sie waren so schnell geritten, sie und die Bretonen, daß sie sie vielleicht ü berholt hatten, ohne es zu wissen. Aber jetzt wü rde sie zweifellos bald eintreffen … Der Gedanke, daß ihr etwas zugestoß en sein kö nnte, kam ihr gar nicht. Sara war unverwü stlich, kannte die Geheimnisse der Natur, und die Natur war ihre Freundin. Bald wü rde sie dasein … ja, bald … Der Sohn Erichs des Roten segelte bereits geraume Zeit auf den grü nen, endlosen Wellen des Meeres, als Cathé rine schon tief schlief … Sie hatte eine merkwü rdige Vision, etwa um Mitternacht. Schlief sie noch, oder war sie vielleicht halb aufgewacht? War dies ein Traum? Es war ihr, als ob sie die Augen auf den ihr noch fremden Hintergrund des Zimmers ö ffnete. Die Stille war vollkommen, aber das Nachtlicht, das neben Isabelle brannte, leuchtete noch. Von ihrem Bett aus konnte Cathé rine die schlafende Donatienne sehen, die Nase im Schoß und die Haube quer ü ber ihrer mit Kissen belegten Bank … Plö tzlich glitt eine dunkle Gestalt neben das Bett der Kranken … die Gestalt eines schwarzgekleideten Mannes, der eine Maske trug … Der Schreck stieg Cathé rine in die Kehle. Sie wollte schreien, aber kein Ton entrang sich ihrem Mund. Sie wollte sich bewegen, aber ihre Glieder, ihr Kö rper waren so schwer geworden, daß sie den Eindruck hatte, ans Bett gefesselt zu sein. Wie in einem quä lenden Alptraum sah sie, wie der Mann sich hinabbeugte, sich noch einmal ü ber das Bett Isabelles beugte, eine Bewegung machte und sich dann wieder aufrichtete. In der Meinung, der Unbekannte sei im Begriff, die Kranke zu ermorden, ö ffnete Cathé rine den Mund, aber wieder kam kein Ton heraus … Der Mann trat jetzt zurü ck, wandte sich um … die Maske in der Hand … und Cathé rines Angst verwandelte sich in eine ungeheure Freude, die sie ü berflutete. Sie erkannte das kü hne Profil, die dunklen Augen und den festen Mund ihres Gatten sehr gut! Arnaud! Es war Arnaud! … Eine wundervolle Glü ckswelle, wie nur die Trä ume sie einem gewä hren, hü llte Cathé rine ein. Er war da, er war zurü ckgekommen … Gott hatte zweifellos ein Wunder bewirkt, denn das schö ne Gesicht, das sie so deutlich in Erinnerung behalten hatte, war unversehrt. Es zeigte keinerlei Spuren der abscheulichen Krankheit. Aber warum war es so blaß, so todtraurig? … Von der Liebe aufgewü hlt, die sie einen Augenblick eingeschlummert geglaubt hatte und die nun fordernder denn je wiederkehrte, wollte sie ihn zu sich rufen, die Arme ausstrecken … und fand sich wieder ohnmä chtig, unfä hig dazu. Der Alpdruck, der Nebel, der sie einhü llte, erstickte sie fast … Und schon sah sie Arnaud unerbittlich in diesem Nebel verschwinden, in Richtung auf Michels Zimmer. Und dann war nichts mehr als ein schreckliches Gefü hl der Verlassenheit, der unabä nderlichen Einsamkeit … »Er ist verschwunden«, dachte Cathé rine verzweifelt. »Diesmal werde ich ihn nicht wiedersehen … nie mehr! « Sie stand bei Sonnenaufgang auf. Drauß en stieß Tristan ins Horn und rief die Bretonen in den Sattel. Die Stunde des Aufbruchs war nahe, und Cathé rine erhob sich, um dabei behilflich zu sein. Nicht ohne Mü he. Sie fü hlte sich schrecklich mü de, ihr Kopf war schwer, und die Beine waren schwach. Aber durch das schmale Fenster ihrer Zelle drang ein schö ner, zu dieser Morgenstunde noch etwas schü chterner Sonnenstrahl zu ihr, und im anderen Zimmer hö rte sie Michel in seinem Bettchen plappern … Sie betupfte sich das Gesicht mit etwas Wasser, beeilte sich beim Ankleiden und kä mpfte, so gut sie konnte, gegen einen mehr und mehr peinigenden Eindruck an. Es gelang ihr nicht, den Traum der vergangenen Nacht aus ihrem Gedä chtnis zu lö schen. Je mehr sie daran dachte, desto mehr fü hlte sie sich versucht zu weinen, denn sie erinnerte sich, schreckliche Geschichten von Leuten gehö rt zu haben, die ihren Lieben zur Stunde ihres Todes erschienen waren, um ihnen dies anzukü ndigen. War dieser so realistische Traum nicht eine dieser tragischen Vorwarnungen? Und war Arnaud nicht …? Nein, sie konnte sich nicht einmal das Wort vorstellen! Andererseits … die ungewö hnlich lange Abwesenheit Fortuná is? Wenn er etwa da unten eine schreckliche Neuigkeit erfahren hä tte? Vielleicht hatte die Krankheit zu schnelle Fortschritte gemacht … »Es ist zum Verrü cktwerden! « dachte Cathé rine laut. »Ich muß Bescheid wissen, Gauthier muß sofort aufbrechen … oder vielmehr, nein, ich werde mit ihm gehen … Donatienne wird meine Schwiegermutter heute noch gut versorgen, und fü r die schnellen Beine Morganes sind sechs Meilen hin und ebenso viele zurü ck eine Kleinigkeit. Bis zum Abend sind wir wieder hier! « Sie eilte, ihren Sohn zu umarmen, stellte nebenbei fest, daß die Dame Isabelle noch schlief, und trat schnell in den Hof. Die Bretonen waren bereits aufgesessen, aber neben dem weit offenstehenden Stall unterhielt Tristan sich mit Gauthier. Sie traten auseinander, als sie Cathé rine bemerkten. Sie zwang sich, trotz der Trauer in ihrem Herzen dem Abreisenden zuzulä cheln, und streckte ihm die Hand hin: »Gute Reise, Freund Tristan! Sagt Monseigneur dem Konnetabel, wie dankbar ich ihm bin, daß er Euch zu mir geschickt hat. « »Bestimmt wird er wissen wollen, wann wir das Glü ck haben werden, Euch wiederzusehen, Dame Cathé rine! « »Nicht sehr bald, fü rchte ich, auß er Ihr kommt inzwischen wieder her! Ich habe soviel zu tun in der Auvergne! Es muß alles wieder werden wie frü her! « »Bah! Die Auvergne ist nicht so weit! Ich weiß, daß der Kö nig plant hierherzukommen, und wenn er sich endlich mit Richemont ausgesö hnt hat, werden wir vielleicht alle bald vereint sein! « »Gebe es Gott! Auf Wiedersehen, mein Freund. « Er kü ß te die Hand, die sie ihm noch hinhielt, und schwang sich in den Sattel. Die Pforten der Abtei ö ffneten sich weit vor ihm, gaben den Dorfplatz frei, wo sich die Hausfrauen bereits zusammenrotteten. Tristan l'Hermite setzte sich an die Spitze seiner Truppe, doch im Augenblick, als er ü ber die geweihte Schwelle ritt, drehte er sich um, zog seinen schwarzen Filzhut und schwenkte ihn in die Luft. »Auf bald, Dame Cathé rine! « »Auf bald, so Gott will, Freund Tristan! « Einige Augenblicke spä ter waren die schweren Torflü gel wieder geschlossen, und der Hof war leer. Cathé rine ging auf Gauthier zu, der sich noch neben der offenen Stalltü r aufhielt. »Ich habe heute nacht einen seltsamen Traum gehabt, Gauthier … Traurige Gedanken quä len mich … Auß erdem habe ich beschlossen, mit dir Fortunat nachzureiten. Selbst wenn wir bis Calves reiten mü ssen, glaube ich doch, daß wir noch bei Tag zurü ckkommen kö nnen. Nimm dir ein Pferd und sattle mir Morgane! « »Das wü rde ich gerne tun«, erwiderte ruhig der Normanne, »aber leider ist es unmö glich! « »Und warum? « »Weil Morgane nicht mehr da ist. « »Was heiß t das? « »Ich sage die Wahrheit: Morgane ist verschwunden. Seht selbst …« Verblü fft folgte Cathé rine Gauthier in den dunklen Stall. Mehrere Pferde standen noch da, aber es war nur zu wahr, daß sich darunter keine weiß e Stute befand. Bewegungslos inmitten des Stalles stehend, starrte Cathé rine Gauthier an. »Wo ist sie? « »Wie soll ich das wissen? Niemand hat etwas gesehen, niemand etwas gehö rt … Auß erdem fehlt noch ein anderes Pferd, Roland, eins von denen, die der Abt uns gegeben hat. « »Unglaublich! Wie konnten die beiden Tiere hier herauskommen, ohne daß jemand es merkte? « »Ohne Zweifel, weil der, der sie weggefü hrt hat, die Mö glichkeit hatte, sich hier einzuschleichen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Er muß die Abtei gut gekannt haben. « »Und«, sagte Cathé rine, sich auf ein Bü ndel Stroh setzend, »was schließ t du daraus? « Gauthier antwortete nicht sofort. Er ü berlegte. Nach einem Augenblick warf er Cathé rine einen unsicheren Blick zu. »Zufä llig«, sagte er, »war Roland, das Pferd, das zusammen mit Morgane gestohlen wurde, dasjenige, dessen Fortunat sich gewö hnlich bediente, wenn er nach Aurillac oder sonstwohin ritt …« »Aber nicht nach Calves? « »Nein. Ihr wiß t noch, daß er grundsä tzlich nur zu Fuß dorthin ging … wegen Messire Arnaud! « Jetzt war es an Cathé rine zu schweigen. Sie hatte sich einen Strohhalm herausgezogen und kaute zerstreut daran. Eine Fü lle von Gedanken ging ihr durch den Kopf. Schließ lich hob sie den Blick. »Ich frage mich, ob ich wirklich geträ umt habe! « sagte sie. »Ob es nicht eine dieser Vorahnungen war? « »Was wollt Ihr damit sagen? « »Nichts, ich werde es dir erklä ren. Sattle zwei Pferde und sage Donatienne, daß wir den ganzen Tag fort sein werden. Ich werde meine Mä nnerkleidung anlegen. « »Wohin reiten wir? « »Nach Calves, los! Und so schnell wie mö glich! «
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