Хелпикс

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       Kein Zweifel: Dieser Raum war einmal ein Kinderzimmer gewesen. Die ursprü nglich weiß e Tapete war stockfleckig und vergilbt, ü ber die Decken zogen sich schwarze Schimmelspuren. Ein Schrank, eine Wickelkommode und ein Bett, zwischen dessen Gitterstä ben Generationen von Spinnen ihre Netze geknü pft hatten, das war die ganze Einrichtung. Kein Spielzeug, keine Kuscheltiere. Nur ein Foto hing ü ber der Wickelkommode. Auf dem Fenstersims stand eine kleine blaue Engelsfigur.

       »Mein Namenspatron«, sagte Gabriel. »Er bewacht die Seele meines kleinen Bruders. Ich bin schuld an seinem Tod. « Vorsichtig berü hrte er die kleine Figur auf dem Fensterbrett. »Ich kann mich nicht mehr an damals erinnern. Mein Vater hat mir vor seinem Tod erzä hlt, was passiert ist. « Er fuhr mit der Hand ü ber die staubige Fensterbank, dann wischte er sie an seiner Hose ab. »Ich wurde adoptiert, weiß t du. Meine Eltern haben jahrelang versucht ein eigenes Kind zu bekommen, aber es hat einfach nicht geklappt. Erst als ich zwei Jahre alt war, ging ihr Wunsch doch noch in Erfü llung. « Er zuckte mit den Schultern. »Ich kann mich nicht mehr an den Unfall erinnern. Nur an das Blut im Schnee. Und den zerbrochenen Schlitten. «

       Judith betrachtete das Bild ü ber der Kommode genauer. Ein Familienfoto: Der Vater hielt ein Baby auf dem Arm. Die Hand der Mutter ruhte auf der Schulter eines verstö rt dreinblickenden Jungen von vielleicht drei Jahren.

       Und mit einem Mal wurde ihr schockartig klar, wie Gabriel dem Wahn verfallen war, dass sie fü reinander bestimmt wä ren. »Sie sieht aus wie ich! Das gleiche rote Haar, die gleichen Locken. «

       »Und sogar fast die gleiche Stimme«, sagte Gabriel. »Nur in einem Punkt seid ihr total verschieden: Im Gegensatz zu dir war meine Mutter eine schwache Frau. «

       Gabriels Vater war ein grobschlä chtiger Mann mit einem runden Gesicht auf dem ein herablassender, selbstzufriedener Ausdruck lag. Ein Doppelkinn wö lbte sich ü ber den Kragen seines Hemdes. Die Hand, die das Baby hielt, war dick und fleischig.

       »Wie ist deine Mutter gestorben? «, fragte Judith.

       »Sie hat sich erhä ngt«, sagte Gabriel.

       »Oh Gott. « Judith beugt sich nä her zur der Aufnahme hin. Die Augen schienen ohne Leben, die Gesichtszü ge starr. Wie bei einem Menschen, der viel gelitten hat. »Das tut mir leid. «

       »Verstehst du jetzt, warum ich mich in dich verliebt habe? «

       Judith nickte. »Ja, aber …«

       »Aber was? «, wollte Gabriel wissen.

       »Aber ich werde niemals deine Mutter ersetzen kö nnen. «

       »Das sollst du auch gar nicht«, antwortete Gabriel barsch. »Glaubst du etwa, ich bin verrü ckt? Dass ich einen Ö dipuskomplex oder so was habe? «

       »Ich glaube gar nichts«, sagte Judith rasch, um ihn zu beschwichtigen.

       Zur ihrer Erleichterung hatte er sich nach wenigen Minuten wieder beruhigt. Verblü ffend, wie schnell seine Stimmung umschlagen konnte. Sie musste sich hö llisch in Acht nehmen, jedes Wort, jede Handlung genau abwä gen.

       »Ich wollte, dass du meine Familie kennenlernst. Du sollst wissen, wer ich bin«, sagte Gabriel. »Verstehst du, wie wichtig mir das ist? «

       Judith zö gerte. Schließ lich nickte sie.

       Gabriel seufzte und lä chelte dann. »Das bedeutet mir sehr viel. « Er trat einen Schritt auf sie zu. »Darf ich? « Judith war auf alles gefasst. Doch er gab ihr nur einen sanften Kuss auf die Wange.

       »Ich liebe dich«, flü sterte er. »Das darfst du nie vergessen. «

       »Da kannst du dir ganz sicher sein. « Nein, das wü rde sie in der Tat nicht vergessen.

       In diesem Moment drehte er sich abrupt um und lö schte das Licht. »Komm jetzt. Wir haben noch viel vor. «

       Er stieg mit ihr die schmalen Stufen wieder hinunter, fü hrte sie durch einen engen Korridor, von dessen Wä nden sich vergilbte Blumentapeten lö sten. Sie kamen an mehreren Tü ren vorbei. Vor einer davon blieb Gabriel stehen. »Dein Bad. Ganz fü r dich allein. Es ist alt, aber sauber. «

       Die Kacheln der Innenwä nde waren vanillefarben, in einigen Fugen saß schon der Schimmel. Es gab eine alte, abgestoß ene Wanne auf Lö wenfü ß en. Gabriel musste das Bad lange vorgeheizt haben, denn es war stickig heiß.

       »Das liegt an dem Boiler«, sagte er, als kö nnte er ihre Gedanken lesen. In der Ecke stand ein groß er, zylindrischer Behä lter, der von unten mit Holz oder Kohle befeuert wurde. »Du kannst baden oder duschen, ganz wie du magst. « Er deutete auf ein kleines Regal. »Zahnbü rste, Zahnpasta, Deo, Seife. Waschlappen und Handtü cher findest du im Schrank dort hinten. Hast du noch Fragen? «

       Judith schü ttelte den Kopf. Trotz der Hitze zitterte sie am ganzen Leib.

       »Gut. Dann warte ich drauß en vor der Tü r. « Er ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren oder eine Geste an sie zu verschwenden. Wieder war seine Stimmung ganz plö tzlich umgeschlagen. Ich muss hier raus, dachte Judith verzweifelt. Ich muss hier raus, und zwar so schnell wie mö glich! Aber solange sie nicht wusste, wie, musste sie Gabriels Anweisungen folgen. Deshalb ü berwand sie sich, legte ihre Kleider ab und kletterte in die Wanne, um rasch zu duschen. Durch das Rauschen des Wassers hö rte sie es an der Tü r klopfen. Sie zuckte zusammen und drehte den Hahn zu. »Ja? «, rief sie.

       »Brauchst du noch lange? «, fragte Gabriel.

       »Eine halbe Stunde. «

       »Ich gebe dir fü nfzehn Minuten. «

       Judith stieg aus der Wanne, trocknete sich ab und zog sich an. Dann ö ffnete sie die Tü r. Gabriel war nicht zu sehen, sie hö rte nur das Scharren seiner Schritte auf dem Holzboden.

       »Nach unten. Du kennst den Weg«, sagte Gabriel. Obwohl sie ihm gehorcht hatte, wurde seine Stimmung immer gereizter. 
 »Leg dich aufs Bett«, befahl er ihr.

       Judith nickte erschrocken und streckte sich auf der Matratze aus.

       »Gut«, sagte Gabriel. Er ö ffnete einen Nachtschrank, holte einige Gü rtel hervor und packte ihre linke Hand. »Halt still. «

       Der Schrecken weckte die letzten Reste ihres Widerstandsgeistes. Sie bä umte sich auf, trat um sich und versuchte sich mit der rechten Hand zu befreien. Gabriel setzte sich auf sie und schlug ihr ins Gesicht.

       »Halt still! «, schrie er sie an. Schon hatte er ihre linke Hand fixiert und packte jetzt ihre rechte am Handgelenk. Sie trat immer heftiger um sich, doch Gabriel war stä rker als sie. Er wischte sich mit dem Handrü cken ü ber die Stirn und lä chelte zufrieden, als hä tte er eine schwere Arbeit vollbracht. Dann holte er aus der groß en Tasche seiner Cargohose ein kleines Lederetui, in dem sich eine aufgezogene Spritze befand.

       »Zu deiner Sicherheit. Damit du dich nicht verletzt. «

       Judith schrie und tobte, ihre Wangen glü hten wie im Fieber, Trä nen der Wut liefen ihr aus den Augen, doch es half alles nichts.

       »Halt still, wenn du nicht mö chtest, dass es wehtut! «, schrie er sie an. Sie gab nach und spü rte einen Stich in der linken Armbeuge. Augenblicklich durchströ mte sie Wä rme bis unter die Haarspitzen, dann fü hlte sich ihr Kopf auf einmal an wie in Watte gebettet. Ohne ein Wort verließ Gabriel das Zimmer. Bevor sie wegdä mmerte, hö rt sie, wie weit entfernt, aber noch irgendwo im Haus, eine Nä hmaschine zu rattern begann.

       Als sie erwachte, war das Rattern lauter geworden, so als kä me es aus dem Nachbarzimmer. Ihr war so schlecht, dass sie sich am liebsten ü bergeben hä tte, doch sie konnte sich nicht rü hren.

       Sie saß auf einem Stuhl. Ihre Hä nde waren hinter der Lehne gefesselt, ihre Fü ß e mit silbernem Reparaturband an den Stuhlbeinen fixiert. Judith versuchte sich zu bewegen. Der Stuhl schrammte ü ber den Boden, das kratzende Gerä usch wurde von den hohen Wä nden zurü ckgeworfen.

       Ihr Hals tat weh, als wä re eine Sehne oder ein Muskel verletzt. Das war das Einzige, was sie wahrnahm. Es war vollkommen dunkel.

       Ihr Kopf sank auf die Brust zurü ck, ihr Atem ging schwer. Unwillkü rlich drang ein Schluchzen aus ihrer Kehle.

       »Daran bist du selbst schuld«, sagte eine Stimme. »Ich habe dir jede Chance gegeben. Aber du hast mich verraten. Und das kann ich dir nicht verzeihen. «

       Das Rattern der Nä hmaschine war verstummt. Judith hö rte, wie ein Schalter umgelegt wurde, Neonrö hren flackerten auf, und sie schloss geblendet die Augen.

       Der Raum, in dem sie sich mit Gabriel befand, war weitlä ufig und beinahe leer. Die einstmals weiß en Fliesen waren schmutzig. An der Wand hing ein aufgerollter Schlauch, der zu einem Wasserhahn fü hrte.

       Gabriel, um dessen Hals etwas hing, das wie eine Stirnlampe aussah, nahm einen Stuhl, stellte ihn vor Judith und setzte sich rittlings darauf; seine Arme legte er auf die Lehne. So als wollte er es sich einfach nur bequem machen.

       Judith hob den Kopf. Die roten Locken fielen ihr ins Gesicht. Sie konnte kaum die Augen aufhalten. »Bitte, lass mich gehen. «

       Gabriel schob nachdenklich die Unterlippe vor und schü ttelte dann den Kopf. »Nein. «

       »Warum? « Ihre Stimme war so leise, dass sie sie selbst kaum hö rte.

       Gabriel verdrehte die Augen. »Warum, warum …«, ä ffte er sie nach. »Du bist hier, weil ich es so will. Das sollte dir reichen. Wie soll ich dir sonst beweisen, dass wir beide fü reinander bestimmt sind? «

       Judiths Kopf sank wieder auf die Brust. Alle Kraft hatte sie verlassen. Sie hatte Angst. Todesangst.

       Gabriel stand auf und ging um sie herum, als mü sste er sie von Neuem begutachten. Dann ging er vor ihr in die Knie und strich mit dem Zeigefinger ü ber ihre Wange. Um ein Haar hä tte Judith vor Abscheu laut aufgeschrien.

       »Das liebe ich so an dir«, sagte Gabriel. »Egal wie verzweifelt deine Situation ist, du musst immer beweisen, wie stark du bist. Aber pass auf, dass du den Bogen nicht ü berspannst: Auch meine Liebe hat ihre Grenzen. «

       Er stand auf und ö ffnete einen kleinen verrosteten Medizinschrank, der neben der Tü r ü ber einem verdreckten Waschbecken hing. Judith beobachtete, wie er aus einer Reihe kleiner brauner Flaschen zwei auswä hlte und in seine Hosentasche steckte. Er zog eine Spritze auf, hielt sie gegen das Licht und klopfte mit dem Zeigefinger dagegen. Dann drü ckte er den Kolben ein kleines Stü ck weit hinein und ein feiner Strahl schoss aus der Nadel.

       Judiths Augen wurden groß vor Entsetzen.

       »Keine Sorge, ich werde dich nicht wieder betä uben. Im Gegenteil. Ich mö chte, dass du klar bei Verstand bist. « Er desinfizierte Judiths Armbeuge und setzte die Spritze an.

       Es war, als breitete sich flü ssiges Eis in ihrem Kö rper aus. Die Schwä che, die es ihr noch nicht einmal erlaubt hatte, den Kopf zu heben, lö ste sich auf und verschwand.

       »Ein Amphetamin«, sagte Gabriel. »Du solltest dich jetzt besser fü hlen. «

       Es stimmte. Die Schmerzen waren schlagartig weg, die lä hmende Mattigkeit wie weggeblasen, ebenso Hunger und Durst.

       Gabriel schnitt das Klebeband durch, mit dem er die Fü ß e seiner Gefangenen an die Stuhlbeine fixiert hatte, und trat einen Schritt zurü ck.

       »Steh auf. «

       Judith erhob sich. Sie fü hlte sich euphorisch und voller Kraft, deshalb begann sie sofort, sich gegen Gabriel zu wehren, aber er drü ckte sie gegen die Wand und verband ihr die Augen mit einem Tuch, das er aus seiner Hosentasche zog.

       »Ich habe eine Ü berraschung fü r dich. «

       Er fü hrte sie hinaus und quer ü ber den Hof. Dann betraten sie das Haupthaus. Judith erkannte den Geruch. Doch anstatt in die Kü che zu gehen oder in eines der Zimmer, die er fü r sie vorbereitet hatte, fü hrte er sie eine Treppe hinab.

       Eine Tü r wurde geö ffnet, die Augenbinde abgenommen.

       »Schau, was ich fü r dich gemacht habe«, sagte er.

       Judith blinzelte in das Licht einer nackten Glü hbirne, die von der Decke hing. In einer Ecke stand eine Schneiderpuppe.

       »Ich habe lange gebraucht, bis ich den richtigen Stoff gefunden hatte«, sagte er und strich ü ber das weiß e Kleid. »Chinesische Wildseide. Schwer zu verarbeiten. Aber sie schmiegt sich wunderbar an die Haut. «

       Er nahm eine lange Schere von einem kleinen Tisch, der neben einer alten Nä hmaschine stand, die offenbar noch mit einem Fuß pedal betrieben wurde. Er hielt ihr die Schere unter die Nase und grinste sie an. Judith schloss die Augen und holte tief Luft. Gabriel drehte sie um und schnitt die Handfesseln durch.

       »Zieh es an«, zischte er. »Ich weiß, wie das Zeug wirkt, dass ich dir gegeben habe. Man fü hlt sich unbesiegbar. Aber glaub mir, das ist eine Tä uschung. « Er zielte spielerisch mit der Spitze der Schere auf ihre Kehle. Offenbar war das seine Art Humor. Judith schluckte. Dann zog sie sich aus.

       Ein fiebriger Glanz trat in seine Augen, als sie sich das Kleid ü berstreifte. Es passte perfekt. Und es fü hlte sich tatsä chlich unglaublich weich an. Mit Grauen begann sie zu ahnen, dass jetzt der Moment nahte, da Gabriels Spielchen in bitteren Ernst umschlagen wü rden.

       Gabriel nahm einen Kabelbinder und fesselte ihre Hä nde, diesmal vor ihrem Bauch. Er zog so fest zu, dass das Plastik in ihre Haut schnitt und ihr das Blut abschnü rte. Dann drü ckte er ihr einen Blumenstrauß in die Hand. Weiß e Rosen. Sechs Stü ck.

       Dann ö ffnete er eine zweite Tü r und Judith verschlug es den Atem.

       Gabriel hatte das Kellergewö lbe mit roten Christbaumkugeln, Goldlametta und bunten Girlanden geschmü ckt. Unzä hlige weiß e Kerzen flackerten. Auf einem kleinen Tisch, der von einem Laken bedeckt war, thronten eine Flasche Champagner und zwei Kristallglä ser.

       Er drü ckte den Knopf einer Fernbedienung und sofort ertö nte leise Orgelmusik, wahrscheinlich aus einer Anlage, die unter dem Tisch hinter dem Laken verborgen war.

       Gabriel hatte hier unten tatsä chlich eine Art Hochzeitskapelle eingerichtet! Der Tisch war der Altar – und das Kleid ihr Brautkleid! In wildem Entsetzen wollte sie sich von ihm losreiß en, schrie und trat um sich, doch Gabriel versetzte ihr einen so harten Schlag mit der flachen Hand, dass sie hinfiel. Er bü ckte sich nach dem zu Boden gefallenen Brautstrauß und drü ckte ihn ihr wieder in die gefesselten Hä nde. Dann riss er sie hoch.

       Er zwang sie, sich auf einen Stuhl vor den grotesken Altar zu setzen und band sie daran fest. Als sie sich nicht mehr rü hren konnte, atmete er erleichtert aus. Dann stellte er sich hinter den Tisch, legte die Hä nde zusammen und fü hrte die Fingerspitzen an sein Kinn.

       Eine Weile blickte er sie nur schweigend an, so als mü sste er sich vergewissern, dass seine Entscheidung richtig war.

       Judiths Wange glü hte noch immer von dem Schlag. Aber sie spü rte keinen Schmerz. Denn ihre Angst war tausendmal mä chtiger.

       »Es hat lange gedauert, bis ich mich dazu durchgerungen habe«, fing er an. »Ich habe gehofft und gebetet, dass du meine Liebe erwiderst. Heute musste ich feststellen, dass ich mich getä uscht habe. Ich kann dir einfach nicht vertrauen. Aber selbst dein Verrat kann meine Liebe nicht zerstö ren. « Judith glaubte zu erkennen, dass seine Augen feucht wurden. »Ohne dich kann ich nicht leben. Und wenn du nicht mit mir leben willst, kö nnen wir nur an einem einzigen Ort zueinanderfinden: in der Ewigkeit. «

       Judith stieß einen erstickten Schrei aus. Vergebens spannte sie alle ihre Muskeln, versuchte hin- und herzuruckeln – die Fesseln saß en fest.

       »Bitte, Gabriel«, flehte sie ihn an, »das ist doch Wahnsinn! «

       »Liebe ist immer Wahnsinn, meine Schö ne. « Ein lautes Plopp war zu hö ren, als er die Champagnerflasche ö ffnete. Er fü llte zwei Glä ser, holte die beiden Flä schchen aus seiner Hosentasche und kippte die brä unliche Flü ssigkeit dazu. »Und das beste Mittel gegen den Wahnsinn ist der Tod. «

       Gabriel hielt beide Glä ser gegen das Kerzenlicht und vertiefte sich in den Anblick der dunklen, perlenden Flü ssigkeit. Er lä chelte. »Hab keine Angst. Bald ist es vorbei. Bald sind wir fü r immer vereint. «

       Er trat hinter Judith und fasste ihren Kopf mit beiden Hä nden. Unmö glich, sich aus seinem Griff zu befreien. Sie presste die Lippen aufeinander.

       »Ö ffne den Mund«, sagte er sanft, so als sprä che er zu einem unwilligen Kind.

       Judith biss die Zä hne zusammen und atmete hektisch durch die Nase. Gabriel fü hrte langsam das Glas zu ihrem Mund. Dabei fiel ein Tropfen auf ihre Wange. Sie stö hnte auf, wollte den Kopf schü tteln, aber Gabriels Hä nde waren wie Schraubstö cke.

       »Ö ffne den Mund! «

       Judith bä umte sich in ihrem Stuhl auf.

       »Jetzt mach endlich den Mund auf, verdammt noch mal! «, schrie er sie an. »Oder muss ich nachhelfen? «

       Judith hö rte auf, sich zu wehren.

       »Na also, geht doch. Jetzt mach den Mund auf! «

       Judith atmete dreimal tief durch. Sie war kurz davor aufzugeben, als es plö tzlich einen heftigen Schlag gab.

       Gabriel zuckte zusammen und verschü ttete dabei einen groß en Teil des vergifteten Champagners auf Judiths Hochzeitskleid, wo er gelbe Flecken hinterließ.

       Ein zweiter Schlag. Noch lauter. Drö hnend. Als versuchte ein Wesen mit ü bermenschlichen Krä ften aus seinem Verlies auszubrechen.

       Judith schrie so laut wie noch nie in ihrem Leben.

       Der dritte und letzte Schlag ließ Holz zersplittern. Ein Laut wurde ausgestoß en. Der Laut eines verwundeten Tieres, das seine Ohnmacht herausbrü llte.

       Gabriel wurde bleich. Er griff nach der Schere, umklammerte sie wie ein Messer.

       In der Tü r stand ein Engel. Ein Racheengel. Ein Riese. Aus einem blutverkrusteten Gesicht starrten Judith zwei Feueraugen an. Die Gestalt war riesig, muskelbepackt und sah aus, als hä tte sie die blutigste Schlacht ihres Lebens geschlagen und mit knapper Not ü berlebt.

       »Bogdan! «, rief Judith.

       Er wankte auf Gabriel zu, und es war ein furchterregender Anblick, wie dieser blutü berströ mte Mann mechanisch einen Schritt vor den anderen setzte.

       »Das ist unmö glich«, stotterte Gabriel. »Er war doch tot! ER WAR TOT! « Einen kurzen Moment ließ Gabriel die Schere sinken und das war Bogdans Chance. Er stü rzte sich auf Gabriel, wand ihm die Waffe aus der Hand, packte ihn mit seiner riesigen Hand am Hals und hob ihn in die Hö he.

       »Tu es nicht! «, flehte Judith.

       Bogdans Gesicht verzerrte sich, ob aus Hass, Anstrengung oder Schmerz konnte Judith nicht erkennen. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus all dem.

       Einen kurzen Moment drü ckte er noch fester zu. Gabriels Augen schienen aus den Hö hlen zu quellen, dann wurde er wie eine Puppe, mit der keiner mehr spielen will, in eine Ecke geworfen, wo er rö chelnd und keuchend liegen blieb.

       Bogdan blickte keuchend auf Gabriel hinab, spuckte aus und bü ckte sich nach der Schere, um die Kabelbinder zu durchtrennen, mit denen Judith gefesselt war. Augenblicklich fiel Judith ihm um den Hals und weinte hemmungslos vor Erleichterung. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und kü sste ihn schluchzend auf die Wange.

       »Vorsicht«, flü sterte er. »Ich bin ein wenig angeschlagen. «

       Augenblicklich ließ Judith von ihm ab. Die Platzwunden auf seinem kahlen Schä del sahen grauenvoll aus. »Du brauchst einen Arzt! «

       »Sag mir etwas, was ich noch nicht weiß «, erwiderte er matt. Seine Beine knickten ein und er brach zusammen.

       »Warte, ich gehe los und suche ein Telefon, okay? «, sagte sie. »Aber erst mü ssen wir hier raus. «

       Bogdan nickte. Judith versuchte ihn zu stü tzen, doch schließ lich torkelten sie beide aus eigener Kraft aus dem Verlies heraus. Sie schob den Riegel vor die Tü r und fü hrte Bogdan zur Treppe.

       »Setz dich. Ich bin gleich wieder da! «

       Bogdan nickte kaum wahrnehmbar und lehnte seine Schulter gegen die Backsteinwand. Bitte, lieber Gott, lass ihn durchhalten!, dachte Judith, als sie die Treppe hinaufhastete, so schnell sie es mit ihren schwachen Beinen vermochte. Sie riss die Kellertü r auf – und ein Schrei entfuhr ihr.

       Vor ihr standen zwei Mä nner im schummrigen Licht der Wandlampen. Der eine war angezogen wie ein Mechaniker und hielt einen groß en Schlü sselbund in der Hand. Der andere trug eine lederne Umhä ngetasche und blä tterte in einem Stapel ungeö ffneter Post, die er vom Boden aufgesammelt hatte.

       »Wer sind Sie? «, keuchte Judith. »Wie kommen Sie hier herein? «

       Der Mann legte die Umschlä ge beiseite und blickte Judith verblü fft und auch ein wenig misstrauisch an.

       »Mein Name ist Camberger. Ich komme vom Finanzamt. Sind Sie eine Freundin von Daniel Kischek? «, fragte er.

       »Von wem, bitte? «, fragte Judith verwirrt.

       »Daniel Kischek. Dem Besitzer dieses …«, Camberger machte eine weitlä ufige Geste mit der Hand. »Dieses Hauses. «

       »Nein! Ganz bestimmt nicht. Hö ren Sie, haben Sie ein Telefon? «

       Camberger nickte.

       »Dann rufen Sie bitte die Polizei! Und einen Notarzt! «

       Er holte sein Handy aus der Hosentasche. »Was ist denn hier passiert? «

       »Das erklä re ich Ihnen gleich«, antwortete sie. »Aber holen sie erst mal Hilfe. Mein Name ist Judith Schramm. Die Polizei weiß, wer ich bin. «

        

 

       Sie wartete bei Bogdan und hielt die ganze Zeit ü ber seine Hand, obwohl sie den Eindruck hatte, dass er das gar nicht mehr mitbekam. Er atmete zwar noch, war aber offensichtlich bewusstlos. Die groß e Wunde an seinem Kopf hatte wieder zu bluten begonnen. Zusammen mit Camberger und dem Mann vom Schlü sseldienst hatte sie ihn auf den Boden gebettet.

       In der »Kapelle« blieb alles still.

       Nach quä lenden Minuten des Wartens kamen Polizei und Rettungsdienst. Ein regelrechtes Groß aufgebot fuhr auf den Hof. Einsatzkrä fte mit Helmen und Schutzwesten stü rmten das Haus und drangen in den Keller ein, um ihn zu sichern, damit die Sanitä ter sich um Bogdan kü mmern konnten.

       »Frau Schramm? «, sagte eine zierliche junge Frau. »Mein Name ist Weissgerber. Ich bin Polizeipsychologin. «

       »Oh«, machte Judith nur.

       Frau Weissgerber lä chelte. »Ich bin ab jetzt fü r Sie da. «

       »Das ist gut. Aber im Augenblick interessiert mich nur eins: Wird Bogdan es schaffen? «

       Die Frau runzelte die Stirn. »Bogdan ist …«

       »Der Mann, der Freund, der mein Leben gerettet hat. « Sie wandte sich zum Hauseingang.

       »Wenn Sie mö chten, kann ich mit dem Arzt reden«, sagte Frau Weissgerber.

       »Das wä re wunderbar. «

       Frau Weissgerber winkte einen der Polizisten heran und bat ihn, Judith im Auge zu behalten. Dann verschwand sie im Haus und kehrte kurz darauf mit dem Notarzt zu zurü ck. »Ich weiß nicht, wie dieser Bogdan das geschafft hat«, sagte er, »aber er lebt. Er hat auf jeden Fall eine massive Schä delfraktur. Es gleicht einem Wunder, dass er ü berhaupt mit Ihnen reden konnte! « Er schü ttelte den Kopf. »Unglaublich. «

       »Was wird jetzt geschehen? «

       »Ich habe einen Rettungshubschrauber geordert. « Er deutete nach oben. »Da hinten kommt er schon. Wir bringen ihn in die Unfallklinik nach Seckbach. «

       »Ich fliege mit«, sagte Judith in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

       Der Arzt sah die Psychologin an und zuckte mit den Schultern.

       »Das sollte mö glich sein«, sagte sie und lä chelte.

       »Und was ist mit Gabriel? «, fragte Judith.

       Die Einsatzkrä fte verließ en jetzt nacheinander das Haus. Sie hatten die Helme abgenommen, einige steckten sich eine Zigarette an.

       »Gabriel? «, fragte der Arzt.

       »Der Mann, der Frau Schramm entfü hrt hat«, sagte die Psychologin.

       Der Arzt holte tief Luft. »Ist tot. Wahrscheinlich Gift. «

       »Das Amphetamin …«, sagte Judith, mehr zu sich selbst.

       »Bitte? «, fragte der Arzt, der sie nicht richtig verstanden hatte.

       Judith schü ttelte den Kopf. »Mein Glas mit dem Gift wurde verschü ttet. Seins hat er ausgetrunken. «

       Der Hubschrauber landete auf der Obstwiese vor dem Hang. Bogdan wurde herausgetragen. Sein Kopf war in ein Gestell eingespannt, das den Schä del fixierte. Im Eiltempo liefen die Sanitä ter mit der Trage auf den Hubschrauber zu; der Arzt nahm Judith an die Hand. Sie stiegen ein, und nachdem die Trage festgemacht war, hob der Hubschrauber ab.

       Aus der Luft sah das Gehö ft beinahe idyllisch aus, wä ren da nicht die Einsatzfahrzeuge der Polizei und der Rettungswagen gewesen. Judith nahm Bogdans Hand und schloss die Augen.

       »Wird er wieder gesund? «, fragte Judiths Mutter, als sie ihre Tochter aus dem Krankenhaus abholte. Es hatte den ganzen Tag geregnet. Aber das war Judith egal. Seit ihrer Rettung war jeder Tag ein guter Tag.

       »Die Operation hat acht Stunden gedauert, aber Bogdan ist ü ber den Berg und sogar bei Bewusstsein. « Sie lachte. »Er konnte zwar noch nicht sprechen, aber als ich ging, machte er das Victoryzeichen – und zwar mit beiden Hä nden. «

       Marion nahm Judith in den Arm und es schien, als wollte sie sie nie wieder loslassen. »Willst du nicht nach Hause, dich umziehen? Schlafen vielleicht? «

       »Nein«, sagte Judith. »Du weiß t, dass ich noch was tun muss. Und ich will pü nktlich sein. «

       Marion gab Judith einen Kuss auf die Stirn. »Ja. Ich weiß. «

       »Dann lass uns fahren. «

       Der Weg zur JVA Preungesheim war nicht weit. Mit dem Auto brauchte man zehn Minuten, wenn man nicht gerade im Stau der Homburger Landstraß e stecken blieb. Aber sie hatten Glü ck und fanden sogar einen Parkplatz in einer Nebenstraß e.

       Vor dem Haupteingang des Untersuchungsgefä ngnisses hatte sich schon eine Gruppe von Menschen versammelt. Jans Mutter hielt einen Blumenstrauß in der Hand und tupfte sich immer wieder die Nase mit einem Papiertaschentuch ab. Judith sah Kim und Niels und einige andere aus ihrem Jahrgang. Urplö tzlich fü hlte sie sich fehl am Platz. Als hä tte sie kein Recht, jetzt hier zu sein.

       »Hast du’s dir anders ü berlegt? «, fragte ihre Mutter.

       Judith schü ttelte den Kopf und Marion legte ihr den Arm um die Schultern.

       Die Tü r ging auf und Jan trat hinaus. In seiner Begleitung war ein Mann, wahrscheinlich sein Anwalt. Alle begannen zu jubeln, die Mutter fiel ihrem Sohn um den Hals, die Freunde klopften ihm auf die Schultern – und Judith hatte einen dicken Kloß im Hals.

       Judith fiel auf, dass Jan ganz erschö pft aussah. Der ganze Trubel schien ihm zu viel zu sein.

       In diesem Moment trafen sich ihre Blicke. Jan erstarrte. Und Judith wä re am liebsten weggelaufen. Doch sie hob die Hand zu einem schü chternen Gruß.

       Jan zö gerte einen Moment. Dann hob auch er die Hand, ebenso zaghaft. Und lä chelte.

       Da erst fiel die ganze, entsetzliche Last von Judith ab. Sie schlug die Hä nde vors Gesicht und weinte.

       Jan wurde von seiner Familie gefeiert, beglü ckwü nscht. Ein Junge, wahrscheinlich ein Freund oder Cousin stellte sich vor ihn und drü ckte ihn. Der Blickkontakt brach ab.

       Aber Judith wusste, dass sie einander nicht aus den Augen verlieren wü rden.

       Jetzt nicht mehr.

 


 



  

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