Хелпикс

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       Manchmal, denkt der Junge, der nun fast ein Mann ist, manchmal kann der Tod des einen das Leben des anderen sein. Besonders wenn das Leben kein Leben mehr ist, weil man nichts als die Faust zu spü ren bekommt. Der Vater geht frü h aus dem Haus und kommt erst spä t zurü ck. Der Junge serviert ihm sofort das Abendessen. Das Fleisch darf nie ganz durch sein, sondern innen noch rot. Wenn der Vater nach Alkohol riecht, ist alles gut. Dann bleibt er friedlich und geht bald zu Bett. An schlechten Tagen aber spuckt er bö se Worte aus. Sie treffen den Jungen hä rter als eine Faust. Und dann kommt der Stock. Und manchmal der Gü rtel.

       Doch eines Abends schlä gt der Junge zurü ck – mit Worten. Denn auch er hat bö se Worte. In dieser Nacht hat er Angst um sein Leben. Aber er wird nicht davonlaufen. Niemals. Er weiß: Wenn er jetzt aufgibt, wird der Vater ihn umbringen, wie er auch die Mutter ins Grab gebracht hat.

 

       Also stellt er sich ihm in den Weg, weicht nicht von der Stelle, obwohl seine Knie zittern und er sich beinahe in die Hosen macht.

 

       Doch zu seinem Erstaunen wird die drö hnende Stimme seines Vaters immer heiserer. Der Vater greift nach dem Messer neben seinem Teller, doch es fä llt ihm aus der schlaffen Hand. Die Adern an seinen Schlä fen treten wulstig hervor. Er brü llt Worte, die wahrscheinlich noch nicht einmal er selbst versteht.

 

       Da knickt auf einmal sein rechtes Bein ein und er sackt in sich zusammen. Hilflos bleibt er auf dem Boden liegen. Der Junge beugte sich vorsichtig zu ihm hinab. Auf der einen Seite hä ngt der Mundwinkel schlaff herunter, ebenso Wange und Augenlider. Die Worte des Vaters sind jetzt nur noch ein kraftloses Krä chzen, das schließ lich zu einem Stö hnen wird. Der Junge holt sich einen Stuhl und setzt sich zu ihm.

 

       Es dauert die ganze Nacht.

 

       Erst am Morgen ruft er einen Arzt, der den Tod feststellt.

 

        

 

       Fü r Judith war es eine bittere Heimkehr. Wie sollte sie sich in ihren eigenen vier Wä nden je wieder sicher fü hlen? Der alte Lä ufer im Flur war natü rlich nicht mehr da. Die Reinigung hatte das Blut nicht entfernen kö nnen.

       Zartfü hlenderweise, doch gegen das Gesetz, hatte Robert Zerberus im Garten neben dem Johannisbeerstrauch beigesetzt und die Stelle mit einem weiß en Stein markiert, damit Judith nun von ihm Abschied nehmen konnte.

       Die Polizei hatte noch immer keine Spur von Gabriel. Sein Phantombild war zwar mit den riesigen Datenbanken von POLAS, CRIME und KOYOTE, die alle Straftä ter und Flü chtigen enthielt, abgeglichen worden, aber Gabriels Profil hatte auf niemanden so richtig gepasst.

       Judith war krankgeschrieben und von der Schule beurlaubt, was natü rlich hieß, dass sie den Abschluss dieses Jahr nicht schaffen wü rde. Aber das war ihr inzwischen egal. Sie interessierte sich fü r nichts mehr. Ihre Erschö pfung war nicht nur kö rperlich. Ganze Tage verbrachte sie grü belnd im Bett.

       Gabriel war tatsä chlich verstummt. Seit dem Tod ihres Hundes hatte sie keine SMS, keine Mail, keinen Brief und keinen Anruf mehr von ihm erhalten. Auf Skype blieb er offline. Ihre Mutter zeigte sich darü ber natü rlich erleichtert. Sie schien voller Hoffnung, dass ihre Tochter bald wieder in einen geregelten Alltag zurü ckkehren wü rde. Judith war sich da leider nicht so sicher.

       Sie hatte Tabletten verschrieben bekommen, hauptsä chlich Beruhigungsmittel und leichte Angstlö ser, die ihre volle Wirkung nicht sofort entfalteten. Bis dahin musste sie die Schwä rze, die sie erfü llte, aus eigener Kraft niederringen – was ihr nicht immer gelang. In manchen langen Nä chten dachte sie darü ber nach, was geschä he, wenn sie die Pillendosis eigenmä chtig erhö hen wü rde. Sie vielleicht alle auf einmal nahm. Die Vorstellung, abends einzuschlafen und dann nicht mehr aufzuwachen, war sü ß und verlockend. Nur wenn sie schlief, war sie nicht mehr von dieser Leere erfü llt, die aus ihrem Kö rper eine verletzliche, papierdü nne Hü lle machte.

       Niels und Kim waren die Einzigen, die in diesen dunklen Wochen nicht von ihrer Seite wichen, obwohl Judith kaum ein Wort sprach und die meiste Zeit nur still weinte. Die Sorge der anderen fü hrte dazu, dass sie sich immer weiter in sich zurü ckzog. Alles war ihr eine Last. Selbst die Anwesenheit ihrer besten Freunde.

       An einem jener gleichfö rmigen Tage, an denen die Angst wie ein Bleigewicht auf ihr lastete, erhielt sie Besuch, mit dem sie nicht gerechnet hatte.

       Ihre Mutter klopfte leise an die Zimmertü r. »Judith? «

       Sie drehte sich im Bett zur Wand und zog sich die Decke ü ber den Kopf.

       Die Tü r wurde einen Spaltbreit geö ffnet. »Da ist jemand fü r dich. «

       Judith hö rte schwere Stiefelschritte auf den Dielen. Es wurde etwas geflü stert, dann schloss jemand die Tü r. Die Schritte nä herten sich dem Bett. Judith hö rte, wie die Pneumatik des Schreibtischstuhls zischend gegen ein schweres Gewicht protestierte.

       Stille. Judith drehte sich nicht um.

       Schließ lich sagte eine tiefe Stimme: »Na, Mä dchen? Hast du die weiß e Fahne geschwenkt? «

       »Geh weg«, sagte sie nur.

       »Nein«, antwortete Bogdan ungerü hrt.

       »Dann musst du hier halt Wurzeln schlagen. «

       »Darauf kannst du Gift nehmen«, sagte Bogdan. »Als du auf meine Mails nicht geantwortet hast, war mir klar, dass du in ernsthaften Schwierigkeiten steckst. Also bin ich gekommen. Das machen Freunde so. «

       Judith rü ckte nä her zur Wand. »Geh weg. «

       »Ich hä tte mehr Kampfgeist von dir erwartet«, fuhr Bogdan ungerü hrt fort. Er rutschte auf dem Stuhl hin und her. Judith hö rte das Leder knarzen. »Im Ernst, ich habe immer gedacht, dass du zu denen gehö rst, die sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Stattdessen liegst du hier im Bett und ziehst die Decke ü ber den Kopf. «

       Judith blieb bockig.

       »Jetzt hö r mir mal zu: Okay, momentan ist dein Leben beschissen. Aber das kann sich auch schnell wieder ä ndern. Oder habe ich irgendwas nicht mitbekommen und du leidest plö tzlich an einer unheilbaren Krankheit oder so was? «

       Judith mauerte weiter.

       Sein Blick fiel auf die angebrochene Blisterpackung des Beruhigungsmittels. »Das Zeug kannst du nicht ewig nehmen. Du solltest besser versuchen, dem schwarzen Hund ins Gesicht zu spucken. «

       »Was fü r ein schwarzer Hund? «, fragte Judith mit leiser, brü chiger Stimme.

       »Oh, das ist ein groß es, zottiges Tier. Es knurrt dich an, wenn du nicht aufpasst. Schnappt sogar manchmal nach dir. Ein gemeines Biest. Verdirbt dir die Laune. Sagt dir, dass alles keinen Zweck hat, egal was du tust. Taucht immer dann auf, wenn du es nicht gebrauchen kannst. Der Trick ist: Du musst das Monster irgendwie wieder in seine Hü tte zurü cklocken. « Mit diesen Worten warf er Judith einen Motorradhelm aufs Bett.

       Sie funkelte ihn wü tend an. »Was soll das? «, fauchte sie und stieß den Helm von der Decke. Polternd fiel er zu Boden und rollte Bogdan direkt vor die Fü ß e. Doch der hob ihn ungerü hrt auf und wischte ihn mit dem Zipfel seines T-Shirts ab. »Vorsicht. Der war teuer. «

       »Das ist mir so was von egal! Hau endlich ab! «

       Er schü ttelte langsam den Kopf. »Ich bleibe hier so lange sitzen, bis du aufstehst und dich ins Bad verziehst. Hier drin riecht es ja schlimmer als in einer Jungsumkleide. «

       »Damit kennst du dich ja aus. Mit Jungs und Umkleiden«, sagte Judith kalt.

       Fü r den Bruchteil einer Sekunde blitzte etwas wie Zorn in Bogdans Augen auf, doch dann erwiderte er ruhig: »Nein. Eigentlich nicht. «

       Judith rieb sich die Augen. »Tut mir leid, ich wollte nicht …«

       »Ist okay«, schnitt ihr Bogdan das Wort ab. »Ich lasse mildernde Umstä nde wegen mangelnder Zurechnungsfä higkeit gelten. Aber wenn du wirklich was gut, machen willst, dann erheb dich endlich aus den Federn. Dann ab ins Bad und angezogen. Ich warte unten auf dich. «

       Judith starrte ihn ü berrumpelt an.

       Er lä chelte und hielt ihr stur den Helm vor die Nase. »Unterwegs kö nnen wir uns unterhalten. Das Ding hat eine Wechselsprechanlage. «

       »So was gibt’s bei Motorradhelmen? «, fragte Judith und schlug die Decke beiseite.

       »Ich sagte doch: Das Teil war teuer. « Er runzelte die Stirn. »Wann hast du das letzte Mal etwas Vernü nftiges gegessen? «

       Judith zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. « Sie stand auf und musste sich am Schreibtisch festhalten, so wackelig war sie auf den Beinen.

       »Okay«, machte Bogdan. »Das ist deine Sache. Ich warte unten auf dich. Du hast fü nfzehn Minuten. «

       »Sonst? «

       »Sonst komme ich wieder und hole dich«, sagte er ernst. »Glaub mir, deine Mutter wird mich nicht aufhalten. Die schien mir ganz froh zu sein, als ich ihr sagte, ich wollte dich zu einer Spritztour abholen. Sie macht sich groß e Sorgen um dich. «

       Judith fü hlte einen Stich im Magen. Am liebsten hä tte sie sich sofort wieder hingelegt. Alles fü hlte sich so sinnlos an. Und sie war mü de. So mü de.

       »In einer Viertelstunde! Unten! Abgemacht? «

       »Was ist das denn fü r ein Monstrum? «, sagte Judith, als sie Bogdans Maschine sah. Ihr Haar war noch feucht, als sie den Jethelm aufsetzte. Mit dem Mikro, das an einem kleinen Gelenk befestigt war, kam sie sich wie ein amerikanischer Streifenpolizist vor.

       »Das …«, sagte Bogdan und tä tschelte den Sitz, der die Ausmaß e einer Wohnzimmercouch hatte, »… das ist eine Honda Goldwing Electra. Ein Prachtexemplar, was? «

       »Sieht aus wie ein Auto auf zwei Rä dern«, sagte Judith. Die Goldwing sah tatsä chlich aus, als wö ge sie zwei Tonnen. Die beiden Seitenkoffer waren so groß, dass eine Geträ nkekiste hineingepasst hä tte.

       »Na! «, sagte Bogdan mit gespielter Entrü stung. »Du hast wohl keine Ahnung von solchen Schä tzen. «

       »Nein«, gab Judith zu. »Meine beste Freundin hat einen Roller. Sonst bin ich noch nirgends mitgefahren. «

       »Fü nfzig Kubik? «

       »Weiß nicht. Ich hab eben keine Ahnung. «

       »Na, dann mach dich auf was gefasst, meine Liebe! Es gibt keine elegantere Art des Reisens. « Er schwang sich auf die Maschine, die sich sofort etwas tiefer legte. »Los, steig auf! Und denk dran: Der Stecker deines Helms gehö rt in die kleine Buchse an der Seite. «

       Judith stö pselte sich ein.

       »Kannst du mich hö ren? «, kam es aus den Kopfhö rern im Helm.

       »Laut und deutlich«, antwortete sie.

       »Ich dich auch«, sagte Bogdan. Er drehte sich um und winkte Judiths Mutter zu, die ein wenig verzagt im Tü rrahmen stand. Auch Judith hob die Hand, als der Motor der Honda mit einem satten Brummen ansprang.

       Der Sitz hatte eine so gute Passform, dass sie sich nicht mal an Bogdan festhalten musste. »Verrä tst du mir, wo’s hingeht? «, wollte sie wissen.

       »In den Taunus, ein wenig cruisen. «

       »Cruisen? «

       »Einfach durch die Gegend fahren, links, rechts, wo es gerade schö n ist. Oder hast du ein besonderes Ziel? «

       »Nein, eigentlich nicht. «

       »Gut. Dann klapp das Visier runter, sonst hast du schneller eine Fliege im Auge, als dir lieb ist. Kann ganz schö n wehtun. Mö chtest du Musik hö ren? «

       Musik? Dieser Helm war ja das reinste Wunderteil. »Ja, gerne. «

       »Ich hab hier was, was deiner Stimmung entgegenkommt. Ziemlich dü ster. Es sei denn, du mö chtest einen Partyreiß er hö ren. «

       »Bloß nicht«, murmelte Judith.

       »Was hast du gesagt? «, fragte Bogdan laut.

       »Keine Gutelaunemusik! Die kö nnte ich jetzt nicht ertragen! «

       »Dann habe ich genau das Richtige fü r dich. Ziemlich alt. Habe ich immer gehö rt, wenn es mir schlecht ging. «

       Ein harter, treibender Bass, scheppernde Gitarren und ein hoher Synthie. »When routine bites hard and ambitions are low«, sang ein Mann, dessen Stimme tief wie aus einem Keller klang. »And resentment rides high, but emotions won’t grow …«

       Judith klopfte Bogdan auf die Schulter und die Musik verstummte. »Wer ist das? «, fragte sie.

       »Gefä llt’s dir? «

       »Ja, ist gut. «

       »Joy Division. ›Love will tear us apart. ‹ Genau das Richtige, wenn man sich im Leid suhlen will, findest du nicht? «

       Judith lachte trocken. »Kann man wohl sagen. Der Typ scheint zu wissen, wovon er singt. «

       »Ian Curtis? Oh ja. Der Kerl ist durch die Hö lle gegangen. «

       »Und? «, fragte Judith. »Hat er sie ü berlebt? «

       »Nein«, sagte Bogdan. »Er hat sich kurz nach den Aufnahmen in seiner Kü che erhä ngt. « Der Ton wurde wieder laut gestellt.

       Judith ü berließ sich der Musik und dem Fahrtwind und dachte dabei an Jan, an Gabriel und an ihr Leben, das in Scherben lag. Das war traurig und schö n zugleich.

       Bis Bogdan abrupt anhielt und die Musik verstummte.

       Sie waren in einem Wald, auf einer Straß e, die in gerader Linie eine Anhö he hinauffü hrte. Ein Auto stand quer auf der Fahrbahn. Die Motorhaube war angehoben, doch von dem Fahrer fehlte jede Spur.

       Sie stiegen ab. Judith zog den Helm aus. Fast ü berdeutlich hö rte sie das Zwitschern der Vö gel und das Rauschen des Windes in den Bä umen.

       »He! « rief Bogdan. »He!! « Keine Antwort. Er legte den Helm auf den Sitz und drehte sich einmal um sich selbst. »Schon mal daran gedacht, dass es gefä hrlich sein kö nnte, den Wagen so stehen zu lassen? «

       Judith spü rte ein seltsames Kribbeln in ihrem Rü cken. Hier stimmte etwas nicht. »Bogdan …«, sagte sie.

       Doch der ignorierte sie und stapfte zu dem Wagen, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Er beugte sich ü ber den offenen Motor und schaute hinein.

       »Bogdan! «, schrie Judith. »Pass auf! «

       Doch es war schon zu spä t. Ein Mann in einem Kapuzenpullover sprang aus dem Gebü sch am Straß enrand und schwang etwas, was wie ein Stahlrohr aussah. Bogdan hatte keine Chance mehr, sich umzudrehen. Die Kurbel eines Wagenhebers traf ihn im Nacken, doch er ging nicht zu Boden. Erst ein zweiter Schlag seitlich gegen den Kopf gab ihm den Rest. Blut sickerte aus einer Platzwunde. Seine Beine knickten ein. Bogdan brach zusammen und blieb reglos liegen. Eine Blutlache breitete sich unter seinem Kopf aus.

       »Nein! «, schrie Judith. Sie ließ den Helm fallen, den sie zuvor panisch umklammert gehalten hatte.

       Gabriel zog die Kapuze vom Kopf, warf den Wagenheber weg und trat ohne sichtliche Eile auf Judith zu. Sein Gesicht war gerö tet. Mit einer Hand wischte er sich den Schweiß von der Stirn.

       Judith drehte sich blitzschnell um und wollte davonlaufen, als sie umgerissen wurde. Sie schrie erneut, diesmal vor Schmerz, denn sie hatte sich die Knie am Asphalt aufgerissen.

       »Du hast ihn umgebracht! «, brachte sie unter Trä nen hervor. »Du verdammtes Schwein hast ihn umgebracht! «

       Gabriel schwieg noch immer. Er saß rittlings auf ihr, suchte etwas in der Tasche seines Kapuzenpullis und grinste selbstzufrieden, als er mit den Zä hnen die Schutzkappe von der Kanü le einer Spritze zog.

       Judith wehrte sich mit aller Kraft, die ihr die Verzweiflung verlieh. Sie schlug und strampelte und schrie – bis sie einen Stich im Oberschenkel spü rte. Dann spü lte eine groß e, schwarze Woge die Welt ins Nichts.

        

 

       Als sie erwachte, lag sie in einem Bett. Betä ubender Rosenduft stieg ihr in die Nase. Sie wollte sich aufrichten, als ein stechender Schmerz sich durch ihre Augen tief in ihren Kopf hineinbohrte.

       Sie stö hnte laut auf. Es fü hlte sich an wie damals nach der Sommerparty, als sie zu viel von Niels’ schrecklicher Bowle getrunken hatte. Nur tausendmal schlimmer.

       Aber was war der stechende Kopfschmerz gegen Angst und Verwirrung? Wo war sie? Was genau war geschehen?

       Judith erinnerte sich daran, dass Bogdan sie abgeholt hatte. Mit dem Motorrad. Dass sie durch die Gegend gefahren waren.

       Cruisen. Bogdan hatte es Cruisen genannt.

       Der Wald. Die traurige Musik.

       Der Wagen, der mitten auf der Straß e stand.

       Rot.

       Dunkles Rot.

       Bogdan war tot!

       Judith schluchzte. Sie fü rchtete, in diesem Albtraum den Verstand zu verlieren. Da hö rte sie auf einmal gedä mpfte Musik. Chopin. »Trauermarsch«. Hatte sie frü her mal auf dem Klavier gespielt.

       Sie wollte sich aufrichten, aber jede Bewegung tat ihr weh. Sie widerstand der Versuchung, um Hilfe zu rufen. Denn hier gab es keine, das war ihr klar. Mit ihrem Geschrei hä tte sie nur Gabriels Triumph gekrö nt.

       Bogdan war tot. So viel war sicher. Und das war ihre Schuld.

       Mit groß er Mü he setzte sie sich auf die Bettkante, legte die Arme ü ber die Beine und beugte keuchend den Kopf nach vorne. Erst jetzt sah sie, dass der Boden mit Blü tenblä ttern ü bersä t war. Sie hob eines davon auf, es war aus roter Seide und roch penetrant nach billigem Parfü m.

       Vorsichtig stand sie auf, taumelte aber sofort nach vorne und musste sich an der Wand abstü tzen. Ihr war speiü bel. Der Schmerz hä mmerte hinter ihren Augen. Sie schleppte sich zur Tü r, obwohl sie darauf hä tte wetten kö nnen, dass sie verschlossen war. Sie drü ckte die Klinke hinunter und – oh Wunder – die Tü r ö ffnete sich.

       Die Flurwä nde waren schwarz gestrichen. Ungeö ffnete Briefe lagen auf dem schmutzigen Boden verstreut. Der schmale Gang wurde notdü rftig von mehreren schwachen Wandlampen erleuchtet. Egal wie leise sie auftrat – jeder ihrer Schritte erzeugte ein leises Knarzen auf dem abgewetzten Parkett.

       Am Ende des Flurs befand sich eine groß e Kü che, von deren Decke eine altmodische Neonlampe hing, die ein unangenehmes, kü hles Licht verströ mte. Die Einrichtung bestand aus einem vierflammigen Gasherd, auf dem ein zerschrammter Emailletopf stand, einem uralten Kü hlschrank mit Hebelgriff, einer Spü lmaschine und einer Anrichte von der schon die weiß e Farbe abblä tterte. Alles wie aus der Zeit gefallen. Selbst das Rö hrenradio auf dem kleinen Eckregal schien ein halbes Jahrhundert alt zu sein.

       Beherrscht wurde die Kü che jedoch von einem groß en Tisch, auf dem eine gelbe Plastikdecke mit blauem Blumenmuster ausgebreitet war. Auf einem Stuhl stand ein Korb mit Gemü se. Die welken Schalen von Kartoffeln, Sellerie und anderem Gemü se hä uften sich auf einer Zeitung. Judith sah die Klinge eines kleinen Messers im schwachen Sonnenlicht glä nzen, das durch das vergitterte, schmutzige Fenster ü ber der fleckigen Spü le schien, in der sich verkrustete, ü bel riechende Pfannen, Tö pfe und Schü sseln stapelten, ü ber denen dicke Fliegen tanzten. Sie hatte schon die Hand nach dem Messer ausgestreckt, als sie hinter sich eine Stimme hö rte.

       »Lass es liegen. « Gabriel stand mit zwei Flaschen Wasser in der Tü r.

       Judith schnappte sich blitzschnell das Messer und hielt es ihm entgegen. »Komm mir nicht zu nahe«, zischte sie.

       Gabriel ließ sich von dieser Drohung nicht beeindrucken. Stattdessen stellte er seelenruhig die Flaschen auf den Tisch ab und holte zwei Glä ser aus dem Kü chenschrank. »Du hast bestimmt Durst. « Er fü llte ein Glas und hielt es ihr entgegen. Judith wich zurü ck, das Messer noch immer gegen Gabriels Brust gerichtet.

       Er seufzte. »Ich stelle es dir hier auf den Tisch. « Dann schenkte er sich selbst ein Glas ein und leerte es in einem Zug. »Setz dich doch bitte«, sagte er lä chelnd.

       Judith schü ttelte den Kopf.

       Die Bewegung war so schnell und ansatzlos, dass Judith sie nicht kommen sah. Auf einmal hatte Gabriel das Messer in der Hand. Seelenruhig legte er es in den Gemü sekorb. »Setz dich. « Sein Ton war jetzt schneidend.

       Judith ließ sich auf einen Stuhl sinken, behielt Gabriel dabei aber im Blick. In ihr tobten Angst, Ekel und Wut. »Warum hast du Bogdan umgebracht? «

       »Ach, ist er tot? «, fragte Gabriel, augenscheinlich verwundert.

       Judith kä mpfte mit den Trä nen. »Warum das alles? Warum stellst du mir immer noch nach? «

       »Ich hab dir doch gesagt: Ich liebe dich. «

       »Eine merkwü rdige Art, das zu zeigen. «

       Gabriel schlug die Schalen in die Zeitung ein und legte das Pä ckchen auf den ü berquellenden Mü lleimer, aus dem ein fauliger Geruch aufstieg. »Findest du, dass ich zu absolut bin? «

       »Zu was? «, fragte sie verstä ndnislos. Dieses ganze Gesprä ch war absurd.

       »Absolut. Bei mir gibt es nur ganz oder gar nicht. « Er hob den Deckel des Topfes, der auf dem Herd stand, und schloss genieß erisch die Augen. »Riechst du das? Es gibt so ein paar Gerü che, die erinnern mich an meine Kindheit. Sellerie gehö rt dazu. «

       Der gehemmte, schü chterne Typ war verschwunden. Auf einmal war Gabriel derjenige, der alles im Griff hatte. Und das gefiel Judith gar nicht. »Du hast meine Frage nicht beantwortet: Warum stellst du mir nach? Warum gehst du ü ber Leichen? «

       »Ich wollte, dass du uns eine Chance gibst. Mehr nicht. Ich mö chte dir die Gelegenheit geben, dich in mich zu verlieben. «

       Judith hatte das Gefü hl, der Stuhl unter ihr wü rde schwanken. Ja, was ihr hier entgegenblickte, war der nackte Wahnsinn. »Weiß du nicht, dass man Liebe nicht erzwingen kann? «

       »Natü rlich kann man Liebe nicht erzwingen. Wenn zwei Menschen nicht fü reinander bestimmt sind, ist alles zwecklos. «

       »Du glaubst also im Ernst, dass wir fü reinander bestimmt sind. «

       Gabriel nickte und drehte das Gas an. »Ja, davon bin ich felsenfest ü berzeugt. «

       »Aber wie kommst du darauf? «

       Gabriel hielt inne und blickte Judith an, als wä re sie ein begriffsstutziges kleines Mä dchen. »Spü rst du nicht das unsichtbare Band zwischen uns? «

       »Nein, es gibt kein Band! «, schrie sie. »Das versuche ich dir doch schon die ganze Zeit zu erklä ren! «

       Gabriel rü hrte langsam die Suppe um, als mü sste er grü ndlich nachdenken. Die rosafarbene Kü chenuhr, die ü ber der Tü r hing, tickte gleichfö rmig vor sich hin.

       »Gib mich frei«, sagte Judith. »Bitte. «

       Gabriel schü ttelte den Kopf, erst langsam, dann immer energischer. »Tut mir leid, ich kann dich nicht freigeben. «

       »Und wenn ich einfach aufstehe und gehe? « Judith erhob sich.

       »Das wä re ein groß er Fehler«, sagte er und schmeckte die Suppe ab. »Auß erdem wirst du feststellen, dass alle Fenster in diesem Haus vergittert sind. «

       »Was willst du denn? «, fuhr sie ihn mit der Wut der Verzweiflung an. »Willst du Sex? Bitte schö n. Den kannst du haben. Bringen wir es hinter uns. Und dann lass mich gehen. «

       Zum ersten Mal schien sie einen wunden Punkt getroffen zu haben. »Fü r wie primitiv hä ltst du mich eigentlich? Mir geht es nicht um billigen Sex! Das Kö rperliche interessiert mich ü berhaupt nicht. «

       Judith war so verdattert, dass sie sich wieder setzte.

       »Nun, zumindest jetzt noch nicht«, korrigierte sich Gabriel. »Ich bin der Meinung, Sex vor der Ehe zerstö rt jede Beziehung. «

       »Na, da bin ich ja beruhigt. Und ich hatte schon gedacht, du bist pervers«, sagte sie bitter.

       Gabriel ballte die Fä uste, entspannte sich aber sogleich wieder und setzte sein gleichmü tiges Lä cheln auf. »Du wirst mich noch kennenlernen. Wir haben alle Zeit der Welt. Jetzt essen wir erst mal. «

       Judith schloss die Augen und zwang sich, nicht der Angst nachzugeben. Sie musste nachdenken. Sie wü rde Gabriels irres Spiel mitspielen. Und sie wü rde sich um keinen Preis ihre Angst anmerken lassen. Sie musste ihn zum Handeln zwingen, nicht umgekehrt. Sie musste ihm die Spielfü hrung abjagen.

       Sie konnte nicht allein darauf hoffen, dass ihre Mutter sie schon als vermisst gemeldet hatte und die Fahndung nach ihr wahrscheinlich schon auf Hochtouren lief. Die Polizei war bei der Suche nach Gabriel ja bisher nicht sonderlich erfolgreich gewesen.

       In jedem Fall musste sie selbst einen Fluchtversuch wagen. Aber keinen ü berstü rzten. Gabriel musste sich in Sicherheit wiegen, er musste ihr vertrauen. Wenn sie sich frei im Haus bewegen konnte, fand sich vielleicht eine Mö glichkeit zur Flucht.

       Gabriel, ganz der vollendete Gastgeber, deckte mit grö ß ter Sorgfalt den Tisch und stellte sogar Kerzen auf. Schließ lich servierte er die dampfende Suppe in einer altmodischen Porzellanterrine.

       Gabriel nahm ihren Teller und blickte sie fragend an.

       Judith nickte brav – etwas anderes konnte sie ja auch nicht tun – und legte sich die gestä rkte Stoffserviette auf den Schoß.

       Gabriel fü llte beide Teller. »Eigentlich wollte ich uns ein richtiges Festmahl zubereiten. Aber leider lä uft uns die Zeit davon. Etwas Brot? «

       Judith nickte. Fieberhaft grü belte sie darü ber nach, was er wohl als Nä chstes vorhatte. Eine entsetzliche Ahnung ü berkam sie und ihre Hä nde begannen zu zittern.

       Er reichte ihr den Brotkorb. »Selbst gebacken – und ganz frisch. « Aus dem Radio kam klassische Musik. Vielleicht Brahms, dachte Judith.

       Gabriel schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Jetzt hä tte ich fast den Wein vergessen. Bei so einem feierlichen Anlass! «

       Judith schluckte. »Nein, danke. «

       Gabriel nahm ihr gegenü ber Platz. Er nahm einen Lö ffel Suppe und blies darü ber. »Hm, wunderbar. Genau, wie sie sein soll. «

       »Ja, schmeckt prima. « Die Kruste krachte, als Judith in ihre Brotscheibe biss.

       »Es ist schon lange her, dass ich Besuch hatte. Sonst esse ich immer alleine. «

       Die Orchestermusik wechselte, wurde nun leise und gefü hlvoll.

       »Natü rlich stimmt nichts von dem, was du ü ber dich geschrieben hast, nicht wahr? «, sagte Judith. Die Suppe war wirklich gut.

       »Nein«, gab Gabriel zu. »Hab ich alles erfunden. «

       »Kein Hund. «

       Gabriel lachte. »Vor allen Dingen kein Hund. Ich hasse diese Viecher. Die sind zu nichts nü tze. Machen nichts anderes als fressen, schlafen und kacken. «

       Judith verschü ttete die Suppe, so sehr zitterte ihre Hand bei dem Gedanken daran, mit welcher Eiseskä lte Gabriel ihren Hund getö tet hatte.

       »Wovon lebst du wirklich? «

       »Mein Vater hat mir was hinterlassen. Es ist nicht viel, aber wenn wir sparsam damit umgehen, kommen wir damit eine Weile ü ber die Runden. «

       Er hatte tatsä chlich »wir« gesagt!

       »Lebt deine Mutter noch? «

       Gabriel hob den Blick nicht von seinem Teller. Mit einem Stü ck Brot tunkte er die letzten Suppenreste auf. »Nein«, sagte er nur.

       »Das tut mir leid. Ist sie schon lange tot? «, fragte Judith.

       Gabriel sah sie mit leeren Augen an.

       »Entschuldige, ich wollte dir nicht zu nahe treten«, sagte Judith.

       Langsam legte er den Lö ffel beiseite und wischte sich mit der Serviette den Mund ab. Dann stand er auf. »Komm mit, ich will dir etwas zeigen«, sagte er.

       Judith ließ ihr Wasserglas sinken und blickte ihn fragend an.

       »Na los, komm! «, forderte er sie mit einer ungeduldigen Geste auf.

       Eine enge Treppe fü hrte in den obersten Stock. Dort war es noch dunkler als im Rest des Hauses. Vor einer Tü r, von der die Farbe abblä tterte, blieben sie stehen. Gabriel zog einen Schlü sselbund aus der Hosentasche und ö ffnete sie. Er musste krä ftig drü cken, bevor die Tü r mit einem lauten Knarzen aufschwang. Der Geruch nach Staub und abgestandener Luft ließ sie zurü ckweichen. Gabriel suchte nach dem Lichtschalter.



  

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