Хелпикс

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       Entschlossen riss sie den Umschlag auf. Das doppelt gefaltete Blatt enthielt nur einen einzigen Satz:

       Ich bin ganz nah bei ihr.

       Vorsichtig faltete sie das Blatt wieder zusammen und steckte es zurü ck ins Kuvert, das sie zu den anderen Sachen legte, die sie zur Polizei bringen wollte.

       Sie zuckte zusammen, als ihr Handy summend ü ber die Platte ihres Schreibtisches rutschte. Sie ging nicht ran. Keine vier Minuten spä ter kam eine Mail.

       Von: gabriel23@sysop. net

 

       An: gwendolin@myweb. de

 

       Betr.: Du …

 

       … kannst das Schicksal, das uns zueinandergefü hrt hat, nicht leugnen. Es ist unhö flich, nicht ans Telefon zu gehen.

 

       Gabriel

 

       Sie zö gerte einen Moment, dann rü ckte sie die Tastatur zurecht.

       Von: gwendolin@myweb. de

 

       An: gabriel23@sysop. net

 

       Betr.: Du …

 

       … bist ein armer, geistesgestö rter Spinner, weiß t du das? Ich habe keine Ahnung, was in deinem Leben so schrecklich schiefgelaufen ist, aber ganz ehrlich: Es interessiert mich nicht im Geringsten. Vielleicht musst du mal zum Psychiater. Aber lass mich in Ruhe.

 

       Sie zö gerte kurz, dann drü ckte sie auf »Senden«. Die Antwort kam prompt und bestand nur aus einem einzigen Satz.

       Von: gabriel23@sysop. net

 

       An: gwendolin@myweb. de

 

       Betr.:

 

       Du hast doch keine Ahnung.

 

        

 

       Die Stille hat sich wie Mehltau auf das Haus gelegt. Der Vater geht zur Arbeit, der Junge macht den Haushalt. Wä scht, putzt, bü gelt und kocht. Ist die Wä sche nicht sauber, der Boden stumpf oder das Essen nicht gut, wird er zur Strafe in sein Zimmer gesperrt. Ohne Abendessen. Mit knurrendem Magen schlä ft er ein.

        

 

       Am Tag von Zoeys Beerdigung war Judiths Kampfgeist schon wieder verflogen. Sie fü hlte sich klein und elend. Seit Zoeys Tod waren Judith alle aus dem Weg gegangen. Und das wü rde sich heute ganz bestimmt nicht ä ndern. Etliche Blicke wü rden sich auf sie richten, denen sie vielleicht nicht wü rde standhalten kö nnen. Judith fü hlte sich erschö pft, mü rbe, am Ende ihrer Kraft. Doch sie wollte sich keine Blö ß e geben, keine Schwä che zeigen. Robert, ihre Mutter, aber auch Kim und Niels wü rden ihr den Rü cken stä rken.

       Sie fuhren gemeinsam zum Friedhof, waren aber so spä t dran, dass sie erst einige Straß en weiter einen Parkplatz fanden. Es schien, als hä tte sich die ganze Schule dazu entschlossen, Zoey die letzte Ehre zu erweisen.

       Nicht nur Schü ler und Lehrer waren zur Beisetzung gekommen. Judith entdeckte auch einige Leute mit Kameras, offenbar Journalisten. Sie verhielten sich jedoch unauffä llig, knipsten nicht etwa wild in der Gegend herum oder belagerten Schü ler wegen O-Ton-Interviews. Kim und Niels waren nirgends zu sehen, obwohl Judith mit ihnen verabredet war. Statt ihrer trat nun Thilo Bruckner aus dem Englisch-Leistungskurs auf sie zu. Er kam ihr seltsam fremd vor in seinem schwarzen Anzug.

       Er wandte sich an Judiths Mutter. »Frau Schramm, kann ich kurz mit ihrer Tochter sprechen? «

       Sie stutzte. »Natü rlich. «

       Judith war vö llig ü berrumpelt, als Thilo sich bei ihr einhakte und sie in eine stille Ecke fü hrte. »Was ist passiert? «, fragte sie.

       »Wann hast du das letzte Mal deinen Facebook-Account aktiviert? «

       »Keine Ahnung. Vor zwei Wochen. «

       »Dann bist du gehackt worden«, stellte Tilo nü chtern fest und zog sein Smartphone aus der Hosentasche. »Hier, schau dir das an. «

       Judith musste zweimal hinsehen. Sie rang nach Luft.

       »Da ist wohl jemand ziemlich gut in Photoshop«, sagte Thilo und reichte ihr das Gerä t. »Dein Kopf ist perfekt in irgendwelche Pornos reinmontiert worden. So was macht man nicht einfach mal so nebenher. Ich an deiner Stelle wü rde schnellstens das Passwort ä ndern. Und die Bilder lö schen. Obwohl das vermutlich nicht mehr viel helfen wird. Ich habe das Netz danach durchsucht. Irgendjemand hat sie gezielt in einschlä gigen Foren gepostet. Die sind jetzt drauß en – ü berall. «

       Judith stieß einen Fluch aus.

       »Wer war das? Dein Stalker? «

       »Ja. «

       »Klingt so, als wü rdest du richtig tief in der Scheiß e stecken. «

       Sie drü ckte ihm das Smartphone wieder in die Hand. »Hier. Danke auch. «

       »Gern geschehen. Und he! «, rief er ihr hinterher, als sie zurü ck zu ihrer Mutter ging. »Pass auf dich auf, okay? «

       Judith schwieg. Trä nen der Wut standen ihr in den Augen.

       »Judith? «

       Sie drehte sich um und sah in Kims bleiches Gesicht. Ihr schwarzes Haar war ganz durcheinander. Unter dem Arm trug sie ihren Helm. »Warst du schon auf deiner Facebook …«

       »Ja«, unterbrach Judith sie. »Thilo hat mir die Bilder gerade gezeigt. «

       »Was fü r ein Schwein, dieser Gabriel! «, flü sterte Kim fassungslos. »Was fü r ein widerliches Schwein! «

       »Wo ist Niels? «, fragte Judith.

       Kim zeigte auf eine Gruppe von Schü lern, die feixend beieinanderstand, wä hrend Niels wü tend auf sie einredete.

       »Es macht die Runde«, sagte Kim.

       »Was du nicht sagst«, meinte Judith. Der Boden unter ihren Fü ß en schwankte.

       Die Kirchenglocke lä utete zum Beginn der Trauerfeier. Zoeys Eltern gingen voran. Die Mutter, blond wie die Tochter, schien eine stolze Frau zu sein, die sich tapfer aufrecht hielt. Das kantige Gesicht ihres Mannes wirkte dagegen merkwü rdig ausdruckslos. Ihnen folgte der Rest der Familie.

       Nicht alle Gä ste fanden in der Aussegnungshalle Platz. Judith blieb drauß en, zusammen mit ihrer Mutter, Kim und Niels. Sie sprachen kein Wort. Nicht wä hrend der Trauerreden, die bruchstü ckhaft nach drauß en drangen. Und nicht, als der Sarg hinausgerollt wurde und sie sich an den Schluss des langen Trauerzugs setzten.

       Judith fragte sich, ob sie nicht schon genug getan hatte, um ihr Mitgefü hl zu bekunden. Musste sie jetzt auch noch am Grab stehen? Beinahe wä re sie auf der Stelle umgekehrt und gegangen, doch da bemerkte sie auf einmal die massige Gestalt hinter sich.

       »Hallo«, flü sterte eine tiefe Stimme.

       »Bogdan? «, fragte Judith unglä ubig.

       Jetzt drehte sich auch ihre Mutter um und zuckte beim Anblick des Hü nen zusammen.

       In seinem schwarzen Anzug sah Bogdan weniger wie ein Beerdigungsgast, sondern eher wie die linke Hand eines Mafiabosses aus. Der Kragen seines weiß en Hemdes war anscheinend zu eng, denn der oberste Knopf war geö ffnet und er trug keine Krawatte, sodass die Tä towierungen an seinem Hals zu sehen waren.

       »Ich hab mir gedacht, du kö nntest vielleicht jemanden gebrauchen, der dir heute ein wenig den Rü cken freihä lt. «

       Rü cken freihalten! Judith musste beinahe lachen, obwohl ihr gar nicht danach zumute war. Den Rü cken freihalten, oh ja, das konnte Bogdan, und Judith war mit einem Mal froh, jemanden an ihrer Seite zu wissen, der sie nicht nur mit Worten verteidigen konnte. Auf einmal fü hlte sie sich sicher.

       »Wer ist das? «, fragte Marion, als sie aus den Augenwinkeln zu dem Mann aufschaute.

       »Ich bin ein Freund«, sagte Bogdan nur, bevor Judith etwas erwidern konnte.

       Marion schaute ihre Tochter an und sie wiederholte nur Bogdans Worte.

       »Ein Freund. «

       Judith ergriff seine Hand, die mindestens doppelt so groß wie die ihre war, und drü ckte sie. »Danke«, flü sterte sie.

       Kim starrte die beiden vö llig entgeistert an, beruhigte sich aber, als Judith ihr mit einer Geste Entwarnung gab.

       Die Sonne brannte jetzt vom Himmel. Dieser Teil des Friedhofs war neu, die frisch gepflanzten Setzlinge spendeten keinen Schatten. Bogdans Schä del war mit feinen Schweiß perlen ü bersä t, und Judith war im Nachhinein froh, dass sie in ihrem Schrank nichts Schwarzes gefunden hatte.

       Ein kurzes Gebet wurde gesprochen, dann wurde der Sarg in der frisch ausgehobenen Grube versenkt. Alles vollzog sich in vollkommener Stille. Niemand weinte. Es dauerte eine halbe Stunde, bis Judith am offenen Grab angelangt war, um sich von Zoey zu verabschieden, einem Mä dchen, das sie kaum gekannt hatte und mit dessen Schicksal das ihre so unheilvoll verknü pft war.

       Sie wollte gerade eine Rose aus der Schale nehmen und ins Grab werfen, als sie innehielt. Ihr war, als lauerte jemand in ihrem Rü cken. Langsam drehte sie sich um. Sie war die letzte in der Schlange. Nur einige Mitschü ler standen noch abseits und blickten zu ihr herü ber. Aber die waren nicht der Grund fü r ihr Unbehagen.

       Bogdan trat neben sie. »Wir werden beobachtet«, sagte er.

       Judith drehte sich in die andere Richtung. »Von wem? «, flü sterte sie.

       »Keine Ahnung«, sagte Bogdan. »Ich schau mich mal um«, flü sterte er, trat beiseite und verschwand.

       Judith ging zu ihrer Mutter und ihren Freunden.

       »Ist er hier? «, fragte Niels. »Dieser Gabriel? «

       »Ich kann es dir nicht sagen«, antwortete Judith. Ihr Herz schlug bis zum Hals.

       »Leute, ihr macht mir Angst«, sagte Marion mit leiser Stimme. »Lasst uns gehen. «

       Judith blickte zu Bogdan hinü ber, der bei einer Baumgruppe stand, die zum alten Teil des Friedhofs gehö rte, und gab ihm ein Zeichen, dass sie sich am Tor treffen wü rden. Er hob die Hand und spreizte die Finger. Fü nf Minuten, dann wü rde er nachkommen.

       Sie hatten das Tor fast erreicht, als Judith Dokupil erkannte. Er zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, trat sie aus und kam auf sie zu.

       »Es ist genauso, wie wir befü rchtet haben«, sagte er. »Die Nummer, von der aus die Kurznachrichten verschickt wurden, hat sich als Sackgasse erwiesen. Die Karte gehö rte zu einem Handy, das irgendwann einmal verloren gegangen oder gestohlen worden ist. «

       »Und die Mails? «, fragte Judith.

       »Gabriel ist sehr geschickt vorgegangen«, sagte Dokupil und wischte sich mit einem Taschentuch ü ber die Stirn. »Er hat einen auslä ndischen Free-Mailer benutzt und ein kleines Programm zwischengeschaltet, das die IP-Adresse verschleiert. Mal scheint er seine Mails aus den USA, mal aus Argentinien und dann sogar aus Madagaskar verschickt zu haben. Wir haben nur das Phantombild nach deinen Angaben. «

       »Nicht sehr ermutigend«, sagte Judiths Mutter bitter.

       »Das ist wahr«, gab Dokupil zu.

       »Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Falsche im Gefä ngnis sitzt? «, wollte sie wissen.

       Dokupil blinzelte irritiert, so als hä tte er mit dieser Frage gar nicht gerechnet. »Das kann ich Ihnen nicht sagen. «

       Judith blickte ü berrascht auf. »Kö nnen oder dü rfen? «

       »Dü rfen«, sagte Dokupil erneut. »Unsere Ermittlungen sind keine ö ffentliche Angelegenheit. «

       »Was Sie nicht sagen«, erwiderte Marion trocken. »Korrigieren Sie mich, wenn ich falschliegen sollte, aber wenn dieser Psychopath tatsä chlich Zoey auf dem Gewissen hat, dann ist auch meine Tochter in Gefahr. «

       Dokupil schwieg.

       Marion Schramm schnaubte verä chtlich und sah den Polizisten an, als hä tte sie nichts anderes von ihm erwartet. Er nahm den unausgesprochenen Vorwurf gleichmü tig und ohne eine Erwiderung hin.

       »Da war wirklich jemand«, rief Bogdan. Er hatte inzwischen sein Jackett ausgezogen und ü ber die Schulter geworfen. »Und er hat etwas dagelassen. « Er hielt eine leere Wilhelma-Packung in die Hö he. »Das Papier lag nicht auf dem Boden, sondern war auf einen kleinen Ast gespieß t. « Erst jetzt stutzte er. »Wer ist denn der Kerl? « Er zeigte auf Dokupil.

       »Das ist Herr Dokupil«, sagte Judith nur. »Er ist von der Polizei. «

       »Aha«, machte Bogdan nur. Sein Blick blieb skeptisch, so als ob er eine eigene, sehr spezielle Haltung der Polizei gegenü ber hä tte. Wieder einmal fiel Judith auf, wie wenig sie ü ber sein Leben wusste.

       »Ich wü rde gerne Jan besuchen«, sagte sie zu Dokupil. »Was muss ich dafü r tun? «

       »Bei der zustä ndigen Dienstelle einen Besuchsantrag einreichen«, sagte Dokupil.

       »Und wo bekomme ich den? «

       Dokupil seufzte. »Bei mir. « Er zog einen Umschlag aus der Innenseite seines Jacketts. »Ich hab mir schon gedacht, dass Sie danach fragen wü rden. Deswegen habe ich mir erlaubt, den Antrag fü r Sie auszufü llen. Sie sehen, wir sind keine Unmenschen. Auch wenn wir bei der Polizei arbeiten. «

        

 

       Judith glaubte allerdings nicht an vollkommene Selbstlosigkeit. Sicher hoffte Dokupil, aus Jans Gesprä ch mit Judith neue Erkenntnisse zu gewinnen. Vielleicht glaubte er sogar, Jan wü rde sich selbst belasten. Einerlei, sie musste zu ihm. Musste wissen, wie es ihm ging.

       Judith hatte es nicht weit zur JVA 1 in der Oberen Kreuzä ckerstraß e. Eine Festung aus Beton, die am Rand von Preungesheim lag. Der unscheinbare, kleine Eingang lag an der Ecke zur Jaspertstraß e.

       Der Pfö rtner hatte sie schon auf seiner Liste, denn sie hatte telefonisch einen Besuchstermin ausgemacht. Jetzt legte sie die Genehmigung vor und wartete darauf, dass sie abgeholt wurde.

       Ein Vollzugsbeamter fü hrte sie durch mehrere schwer gesicherte Tü ren zu einem Besuchsraum, der wie die Cafeteria eines Altersheims aussah. Die Wä nde waren weiß gestrichen und es gab einen Automaten fü r Tee und Kaffee und einen fü r Softdrinks. Jeweils vier Stü hle standen um acht quadratische Tische und es fehlten eigentlich nur noch kleine Vasen mit Plastikblumen. Sie war die einzige Besucherin.

       Nach zehn Minuten wurde Jan hereingefü hrt. Judith erschrak, als sie ihn sah. Obwohl er nur wenige Tage hier war, schien er dü nner geworden zu sein und hatte Ringe unter den Augen. Mit unbewegtem Gesicht nahm er auf dem Stuhl gegenü ber Platz.

       Judith wusste nicht, was sie sagen sollte. Das Gefä ngnis schü chterte sie ein.

       »Hallo«, flü sterte sie. Sie wagte nicht zu fragen: »Wie geht es dir? «, denn das hä tte fü r ihn sicher nur zynisch geklungen.

       »Hallo«, sagte er tonlos. »Eigentlich wollte ich dich gar nicht sehen. Aber dann war ich doch neugierig, was du von mir willst. «

       Judith schluckte. Ihr war zum Heulen zumute. »Es tut mir leid«, sagte sie.

       »Ja, mir auch«, sagte Jan. »Das kannst du mir glauben. Wie geht es dir? «

       »Was glaubst du denn. Ich fü hl mich beschissen. «

       »Warum? «

       Judith holte tief Luft und suchte nach den richtigen Worten. »Ich fü hle mich nicht besonders gut. «

       Jan schnaubte. »Dann sind wir schon zwei. « Er sah sie lange und eindringlich an. Leben kehrte in seine Augen zurü ck. »Warum? «

       »Weil ich glaube, dass du zu Unrecht hier bist«, sagte sie leise.

       Der Geträ nkeautomat brummte leise vor sich hin.

       Jan nickte, als wü rde er verstehen. »Bist du gekommen, um dein schlechtes Gewissen zu beruhigen? «

       »Auch«, gab Judith zu und spü rte, wie sie fast schon reflexartig eine ungeduldige Verteidigungshaltung einnahm, weil sie das Gefü hl hatte, sich vor Jan rechtfertigen zu mü ssen. Dabei hatte er ihr nur eine ganz einfache Frage gestellt.

       »Warum? Warum hast du ein schlechtes Gewissen? «, fragte Jan, der ihre Antwort nicht zu verstehen schien.

       Judith seufzte. Und es war ein Seufzen, das sich in ein Schluchzen zu verwandeln drohte. Sie machte erst eine abwehrende Geste und hielt dann in der Bewegung inne. Genau dieses Verhalten hatte zum Ende ihrer Beziehung gefü hrt. Sie war immer verschlossen wie eine Auster gewesen, hatte Stä rke zeigen wollen, wo Offenheit angebracht gewesen wä re. Eine Offenheit, die Jan gerade jetzt verdiente. Also erzä hlte sie, was sich in den letzten Wochen zugetragen hatte, von Gabriel, seinen Nachstellungen – und ihrem schrecklichen Verdacht.

       Dann schwiegen sie beide eine Weile. Jan war auf einmal sehr nachdenklich geworden. Und unruhig.

       »Mö chtest du vielleicht etwas trinken? «, fragte sie und stand auf.

       Er schreckte hoch. »Gerne. Aber keinen Kaffee. Der ist hier schrecklich. Ich weiß nicht, wie viele Becher von dem Zeug ich schon in mich hineingekippt habe, wä hrend ich mit meinem Anwalt die Akten durchgegangen bin. «

       »Also einen Tee? «

       »Lieber ein Wasser«, sagte Jan.

       Judith holte zwei Becher und setzte sich wieder.

       »Weiß die Polizei von deinem Verdacht? «

       Judith nickte und nippte an ihrem Wasser. »Ich weiß aber nicht, ob sie da einen Zusammenhang sieht. Dieser Dokupil lä sst sich nicht in die Karten schauen. «

       »Das muss mein Anwalt wissen! «, sagte Jan nachdrü cklich, in dessen Stimme auf einmal Hoffnung mitschwang.

       »Ich werde mit ihm sprechen! «

       Plö tzlich vergrub Jan sein Gesicht in den Hä nden und brach in Trä nen aus. Judith erschrak. Und berü hrte ihn sanft am Arm. Er nahm ihre Hand.

       »Danke, dass du gekommen bist«, sagte er und zog die Nase hoch. Dabei versuchte er ein kleines Lä cheln.

       »Ja«, sagte Judith nur. »Ich glaube, das war ich dir schuldig. « Und mir selbst, dachte sie.

       »Die Zeit ist um«, sagte der Justizbeamte, der die ganze Zeit in der Ecke gesessen hatte und bestimmt jedes Wort gehö rt hatte, dass sie und Jan miteinander gewechselt hatten.

       Jan stand auf und auch Judith erhob sich. »Danke«, sagte Jan noch einmal. Dann drehte er sich um und ließ sich wieder in seine Zelle fü hren, wä hrend Judith alleine in dem Raum zurü ckblieb, der auf einmal bedrü ckend und grau war.

        

 

       Einen Tag spä ter bekam Judith ihren Rechner zurü ck. Robert hatte ihn mitgebracht. Die ganze folgende Nacht und den halben Vormittag hatte sie das Notebook nicht angerü hrt, so als fü rchtete sie, einen unheilvollen Geist zu wecken, der darin hauste. Erst als sie aus der Schule kam, fasste sie sich ein Herz und fuhr das Gerä t hoch.

       Nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, ö ffnete sie ihren E-Mail-Account. Es gab nur eine neue Nachricht und die war keine zehn Minuten alt.

       Sie war von Gabriel. Und sie bestand eigentlich nur aus einem einzigen Attachment, ohne Begleittext. Es war ein Foto. Ein Foto von Judiths Hund.

       Sie verstand sofort. Sie schrie und sprang auf. »Zerberus! Wo bist du? « Sie stieß die Zimmertü r auf und rannte die Treppe hinunter in die Kü che.

       »Zerberus! Verdammt noch mal! «

       Nichts.

       Sie lief ins Wohnzimmer, riss die Terrassentü r auf und stolperte hinaus in den Garten.

       »Zerberus!!! «

       Sie rannte den schmalen Weg zum Gartentor entlang, das sie verschlossen fand. Zerberus hä tte sich schon in eine Flunder verwandeln mü ssen, um darunter hindurchzukriechen.

       »Zerberus! « Ihre Stimme ü berschlug sich.

       Sie sauste ins Haus zurü ck und durchsuchte jedes einzelne Zimmer. Schließ lich stolperte sie hinaus auf den Bü rgersteig und schrie sich die Seele aus dem Leib. Voller Angst lief sie die Straß e auf und ab. Trä nen brannten in ihren Augen.

       Dieser Dreckskerl! Dieses gottverdammte Monster!

       Sie wä hlte Dokupils Nummer. Es klingelte nur einmal, dann wurde abgehoben.

       »Er hat meinen Hund! Dieser verdammte Mistkerl hat Zerberus! «, brach es aus Judith heraus.

       »Beruhigen Sie sich erst einmal«, sagte Dokupil. »Holen Sie tief Luft und sagen Sie mir dann, was genau passiert ist. «

       »Mein Hund ist weg! «

       Es knackte in der Leitung, Dokupil war kurz weg, meldete sich aber sofort wieder: »Wo sind Sie jetzt? «

       »Auf der Straß e vor unserem Haus. «

       »Gehen Sie nicht zurü ck, hö ren Sie? «

       Eine kalte Hand griff nach Judith. »Okay«, sagte sie nur und schluckte trocken. »Okay. Ich bleibe, wo ich bin. «

       »In zehn Minuten sind zwei Beamte bei Ihnen. «

       Judith atmete langsam aus. »Gut. Ich werde warten. «

       Schon nach fü nf Minuten bog der Streifenwagen um die Ecke. Keine Sirene, kein Blaulicht. Zwei Beamte stiegen aus.

       »Frau Schramm? «

       Judith nickte.

       »Ich komme mit Ihnen rein und schaue mir das Foto an, das Sie heute bekommen haben«, sagte der Ä ltere von den beiden. Seinen Kollegen wies er an, die Straß e abzusuchen.

       Judith wurde abwechselnd heiß und kalt. Wenn dieser Gabriel Zerberus etwas angetan hatte …

       »Hausnummer sechzehn? «, fragte der Polizist misstrauisch.

       Judith nickte. Ihr war schwindelig.

       »Haben Sie die Haustü r offen stehen lassen? «

       »Wie bitte? « Sie hatte seine Worte zwar gehö rt, den Inhalt aber nicht wahrgenommen.

       Er streckte die Hand aus, um sie auf Abstand zu halten. Die andere legte er auf seine Waffe. »Dann warten Sie besser hier. «

       Judith schü ttelte den Kopf. »Nein, ich komme mit. « Sie schob sich an dem Beamten vorbei und wollte in den Hausflur treten.

       Zuerst realisierte ihr Verstand nicht, was ihre Augen sahen. Sie blinzelte und hielt sich am Tü rrahmen fest.

       »Kommen Sie mit«, sagte der Polizist leise und nahm vorsichtig ihren Arm.

       Judith riss sich von ihm los. Eine Welle der Ü belkeit stieg in ihr auf.

       »Bitte«, sagte der Beamte drä ngend.

       Da lag Zerberus in einer dunklen Blutlache.

       Judith spü rte, wie der Boden unter ihren Fü ß en wegrutschte. Die Welt stand plö tzlich kopf – und wurde schwarz.

        

 

       Das Erste, was in ihr Bewusstsein drang, war ihre Mutter. Judith konnte die Worte nicht verstehen, aber ihre Stimme klang erleichtert. Sie spü rte die gestä rkte Oberflä che des Bettbezuges. Doch sie wagte noch nicht, die Augen zu ö ffnen. Sie hob die rechte Hand und verhedderte sich in einem dü nnen Schlauch. Ihr Mund war trocken, ihre Zunge pelzig.

       »Willst du was trinken, mein Schatz? «, fragte ihre Mutter.

       Judith nickte, die Augen noch immer geschlossen. Ihr war heiß.

       »Kannst du dich aufsetzen? «

       Judith schluckte trocken und krä chzte etwas, das wie ein Nein klang. Das Bett wackelte ein wenig, dann fuhr das Kopfteil ein Stü ck in die Hö he. Ein Becher wurde an ihre aufgesprungenen Lippen gehalten und Judith nahm einen Schluck.

       Etwas Furchtbares war geschehen, das wusste sie noch. Aber was genau, hatte sie vergessen. Sie machte die Augen auf. Marion hielt ihre Hand. Die Hand, in der die Infusionsnadel steckte.

       »Hi Liebes. « Ihre Mutter klang verweint.

       »Was ist passiert? «, flü sterte Judith.

       »Du hattest einen Zusammenbruch. «

       Judith runzelte die Stirn. »Einen Zusammenbruch? «

       »Die letzten Tage waren wohl zu viel fü r dich. «

       Straß enlä rm drang durch das geö ffnete Fenster. Der Himmel strahlte in makellosem Blau. Und Zerberus war tot. Plö tzlich hatte sie wieder den kleinen, leblosen Kö rper ihres Hundes vor Augen. Sie schluchzte und wandte das Gesicht ab.

       »Scht, alles wird gut«, sagte ihre Mutter und strich sanft eine rote Locke aus Judiths Stirn. »Du bist in Sicherheit. «

       »Wie lange bin ich schon hier? «

       »Seit gestern Nachmittag. Die Ä rzte haben dir fü r die Nacht ein Beruhigungsmittel gegeben. «

       »Davon weiß ich gar nichts mehr. « Tausend Erinnerungsbilder schossen Judith durch den Kopf, doch sie konnte sie einfach nicht in einen sinnvollen Zusammenhang bringen, sosehr sie sich auch mü hte. Dann fiel ihr die Mail wieder ein. Die Mail mit dem Foto von Zerberus.

       »Hat er sich noch einmal gemeldet? «

       »Wer, Gabriel? «, fragte ihre Mutter. »Nein. «

       Judith wusste sofort, dass das gelogen war. »Ich will nicht mehr nach Hause«, sagte sie. »Ich will weg. Irgendwohin. Aber nicht mehr nach Hause. «

       »Ich versteh dich nur zu gut. Aber es gibt keine Alternative. Willst du dich von diesem Psychopathen aus deinem Heim vertreiben lassen? «

       »Du hast ja Recht«, erwiderte Judith matt. »Gibst du mir bitte noch was zu trinken? «

       »Natü rlich. « Marion reichte ihr das Glas. »Ich stell dir Flasche so hin, dass du drankommst. Mö chtest du auch was essen? «

       »Nein. Ich wü rde gerne noch ein bisschen schlafen. «

       »Tu das. Ich bleibe bei dir. «

       »Das ist gut«, murmelte Judith. »Das ist gut …« Und schon war sie wieder weggedä mmert.

       Sie trä umte: Gras kitzelte ihre Fü ß e. Ein sanfter Wind streichelte ihr Gesicht. Hundewelpen tollten auf dem Rasen herum.

       Judith? Judith, wach auf. Sieh mich an.

       Mü hsam ö ffnete sie die Augen.

       Auf dem Stuhl neben ihrem Bett saß jetzt nicht mehr ihre Mutter, sondern ein Mann, ganz in Weiß gekleidet. Das Haar war kurz geschoren, er trug eine schwarze Brille.

       »Gabriel. «

       »Wen hast du sonst erwartet? « Er lä chelte sie an.

       Seltsamerweise hatte Judith ü berhaupt keine Angst. »Was machst du hier? « Ihr war heiter zumute, fast frö hlich, so als hä tte sie jemand in Watte gepackt.

       »Ich bin da, wo mein Platz ist: an deiner Seite. «

       Judith runzelte die Stirn. »Geh weg. « Nur mit Mü he formte ihr Mund diese zwei kleinen Worte.

       Gabriel strich ihr zä rtlich ü bers Haar. »Genieß e es einfach. Es ist so schö n mit dir. Ich will mein ganzes Leben mit dir verbringen. «

       »Geh weg«, wiederholte sie. Ihr Gesicht fü hlte sich taub an.

       »Warum, meine schö ne Kö nigin? « Gabriels Stimme klang sanft und melodiö s. Stundenlang hä tte sie ihm zuhö ren kö nnen.

       »Ich habe Angst. Ich habe Angst vor dir. «

       Er lä chelte nachsichtig. »Aber dafü r gibt es doch ü berhaupt keinen Grund. Ich liebe dich. Das darfst du nie vergessen. «

       »Geh weg …«

       »Liebst du mich auch? «

       Judith ö ffnete den Mund zu einem Schrei, doch ihre Kraft reichte nur fü r ein leises Stö hnen.

       »Schon gut«, sagte Gabriel und lä chelte.

       »Warum hast du Zerberus umgebracht? Er hat dir doch nichts getan«, flü sterte sie.

       »Ich musste dir beweisen, wie wichtig du mir bist. Deswegen musste ich dir etwas nehmen, was du liebst. « Er beugte sich ü ber sie. »Hast du schon einmal geliebt? Von ganzem Herzen? So sehr, dass es wehtut? «

       Judith konnte sich nicht rü hren. Wieder sank sie zurü ck in dieses watteweiche, schmeichelnde Nichts. »Ich glaube, nein. «

       »Ich kann dir den Weg zur wahren Liebe zeigen. Du musst mir nur vertrauen. «

       »Geh weg …« Jetzt war ihre Stimme nur noch ein Wispern.

       Gabriel drü ckte ihre Hand. »Nein«, sagte er und schü ttelte nachsichtig den Kopf. »Ich werde von jetzt an immer bei dir sein. Auch wenn du eine Weile nichts von mir hö ren wirst. Hab Geduld, ich werde alles vorbereiten. Und wenn es so weit ist, kann uns nichts mehr trennen. Ich weiß, dass du mich brauchst. So wie ich dich brauche. « Einen schrecklichen Moment lang schien es, als wollte er sie auf den Mund kü ssen, doch dann berü hrten seine Lippen nur leicht ihre Stirn. Judiths Lider wurden bleischwer und im nä chsten Augenblick war sie wieder eingeschlafen.

       Nach etwa zwei Stunden erwachte sie und dachte: Was fü r ein seltsamer Traum!



  

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