Хелпикс

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       Judith hatte die Satteltasche von ihrem Fahrrad gelö st und breitete nun eine Picknickdecke aus. Sie hatte Mö hren, Gurken und Kohlrabi klein geschnitten, einen Dip angerü hrt und Brot gekauft. Dazu gab es kleine Frikadellen, die vom Mittagessen ü brig geblieben waren.

       Niels ließ sich auf dem Gras nieder und hebelte mit seinem Feuerzeug drei Kronkorken auf. »Hier«, sagte er und reichte zwei der Flaschen weiter. »Mä dchenbier fü r euch und das echte fü r mich. Prost. «

       Sie stieß en miteinander an und Judith nahm einen tiefen Schluck. Das Mä dchenbier, das eigentlich ein Radler war, hatte genau die richtige Temperatur.

       »Also? «, fragte Niels und blickte Judith besorgt an.

       Sie ließ sich auf der Decke nieder, nahm sich eine Mö hre und knabberte nervö s daran herum. »Ich weiß, wer die Fotos gemacht hat«, sagte sie schließ lich und trank noch einen Schluck.

       Kim hatte die Flasche schon angesetzt, als sie die Hand wieder sinken ließ. Ein kleines Kind lief an ihnen vorbei und trat ungeschickt nach einem bunten Ball.

       »Wer? «, fragte sie nur.

       Judith holte tief Luft und ließ den Blick ü ber die Frankfurter Skyline schweifen. »Er heiß t Gabriel. « Sie zuckte mit den Schultern und strich mit den Fingern ü ber das beschlagene Etikett ihrer Flasche. »So nennt er sich jedenfalls. Aber ich glaube nicht, dass es sein richtiger Name ist. «

       Kim runzelte die Stirn und suchte Judiths Blick. »Wo hast du ihn kennengelernt? «

       »Vor einigen Tagen im Internet«, sagte Judith leise.

       Niels gab ein tiefes, unglä ubiges Lachen von sich. »Im Internet? «

       Judith schä mte sich auf einmal. »Ja, im Internet. Es war Zufall, das habe ich zumindest am Anfang gedacht. In meinem Posteingang war eine E-Mail. Gabriel hatte bei eBay ein Buch ersteigert und es nicht bekommen. In der Adresse war ein Tippfehler und so landete die Nachricht bei mir. Irgendwann haben wir angefangen, uns zu mailen. « Judith zuckte erneut mit den Schultern. »Er war nett und witzig. Nach all dem Mist mit Jan hat mir das gutgetan. Zum Schluss haben wir ü ber Skype gechattet. «

       »Und du hast dich wirklich mit ihm getroffen? «, fragte Kim unglä ubig.

       »Ja, im Metropol. Das Café war voller Leute. « Judith hielt inne. »Gabriel war in seinen Mails und im Chat so offen. Und plö tzlich saß mir da so ein komischer, gehemmter Typ gegenü ber. Und das Schlimme ist: Dass wir uns kennengelernt haben, war kein Zufall. Da bin ich mir sicher. Vor allen Dingen nicht die erste Mail. «

       »Die du fü r einen Irrlä ufer gehalten hast«, sagte Niels.

       »Ich glaube, dieses Treffen war von langer Hand geplant«, sagte sie, wä hrend sie den Park mit den Augen scannte. »Und er wird so schnell nicht aufgeben. «

       »Ist er verliebt in dich? «, fragte Kim.

       »Ich bin mir jedenfalls ziemlich sicher, dass er die Bilder von Zoey und Jan gemacht hat. «

       »Aber ich verstehe immer noch nicht, warum«, sagte Kim.

       »Um einen Rivalen aus dem Weg zu rä umen«, sagte Niels. »Jan hat ihm eine Steilvorlage geboten. Einen grö ß eren Gefallen konnte er dem Kerl nicht tun. Dieser Gabriel kann sich ja nur Hoffnungen machen, wenn Judith frei ist. Also hat er ein bisschen nachgeholfen. Und Judith mit diesen Paparazzibildern beglü ckt. « Er trank das Bier aus und ö ffnete mit dem Feuerzeug eine neue Flasche.

       »Du meinst, er wollte Jan diskreditieren, damit er freie Bahn hatte? «, fragte Kim.

       »Diskrediwas? «, fragte Niels.

       »In Verruf bringen«, sagte Kim. Plö tzlich wurde sie blass. Entsetzt schaute sie Judith an. »Sag mal, du und Jan, ihr habt euch doch noch mal getroffen, oder? «

       Judith nickte. Sie wusste nicht, worauf ihre Freundin hinauswollte, aber Kims Blick alarmierte sie.

       »Habt ihr euch ausgesö hnt? «

       »Nein, nicht so richtig«, erwiderte Judith. »Aber er hat sich bei mir entschuldigt und mir erzä hlt, dass Zoey ihm ganz schö n die Hö lle heiß macht. Da hat er mir sogar ein bisschen leidgetan. «

       »Wo wart ihr da? «

       »Im Malewitsch. « Plö tzlich verstummte sie. Es war, als hä tte sie eine Eiskugel im Magen. »Auweia! «, flü sterte sie.

       »Auweia! « Auch Kims Stimme zitterte leicht.

       Niels sah die beiden Mä dchen ü berrascht an. »Moment mal. Ihr glaubt doch nicht etwa, dass dieser Kerl Zoey umgebracht hat? «

       »Und alles so gedreht hat, damit der Verdacht auf Jan fä llt«, sagte Kim ernst.

       »Das ist doch Wahnsinn …«, stotterte Niels.

       »Wenn du seine Augen gesehen hä ttest«, sagte Judith und schluckte, »dann wü rdest du anders denken. «

       »Weiß die Polizei von den Bildern? «, fragte Niels.

       Judith schü ttelte den Kopf.

       Niels stand auf und klopfte sich den Schmutz vom Hosenboden. »Dann solltest du das schleunigst ä ndern«

       »Jetzt sofort? «

       Niels reichte ihr die Hand und zog Judith hoch.

       »Jetzt sofort. Ist der Freund deiner Mutter nicht bei der Staatsanwaltschaft? «

       »Ja«, sagte Judith und holte das Handy aus ihrer Hosentasche. »Ich rufe ihn an. «

        

 

       Am Ende machte Judith ihre Aussage nicht nur vor dem Freund ihrer Mutter, sondern auch vor den beiden Ermittlern, die sie schon einmal wegen Jan befragt hatten. Sie saß en in der Kü che der Schramms. Jeder hatte eine Tasse Kaffee vor sich, der mittlerweile kalt war. Judiths Mutter war bei den Schilderungen ihrer Tochter leichenblass geworden. Ihr hilfloser Blick wanderte zwischen Robert und den beiden Beamten hin und her.

       Nach ihrer Aussage fü hlte sich Judith erleichtert. Die Polizistin holte tief Luft und faltete die Hä nde vor dem Gesicht. »Also … Sie behaupten, dass dieser Gabriel alles sehr lange vorbereitet hat. «

       Judith nickte energisch. »Er hat mich beobachtet. Und tut es noch immer. Ich wette, er weiß auch, dass ich in diesem Moment mit Ihnen spreche. «

       Judiths Mutter drehte sich unwillkü rlich um und warf einen Blick aus dem Kü chenfenster. Kim und Niels, die mit am Tisch saß en, folgten ihrem Blick.

       Dokupil holte Stift und Block aus seiner Umhä ngetasche. »Beschreiben Sie mir diesen Gabriel. «

       Sie schloss die Augen. »Klein, kurz geschorene helle Haare, dunkle Augen. Rundes Gesicht. Er hat mir geschrieben, er sei neunzehn. Kann hinkommen. Er trug eine beige Cargohose, ein schwarzes T-Shirt und eine dunkle Kappe. «

       Dokupil hob die Augenbrauen. »Irgendetwas, was ihn von etwa einer Million anderer junger Mä nner unterscheidet, die exakt genauso aussehen? «

       »Seine Augen«, antwortete Judith leise. »Sie waren … ich weiß nicht … wie aus Glas. Wie schwarze Murmeln. Ohne Leben. «

       Dokupil blickte seine Kollegin ratlos an.

       »Lassen Sie Jan jetzt frei? «, fragte Judith.

       »Nein«, sagte Dokupil. »Weshalb? «

       »Weil er unschuldig ist«, sagt Judith.

       »Das sehen meine Kollegen bei der Staatsanwaltschaft anders«, sagte Robert.

       »Haben Sie eine Vorstellung, wie Gabriel an Ihre E-Mail-Adresse gekommen sein kö nnte? «

       »Ü ber Facebook. «

       »Dann konnte er auch leicht Ihre Adresse herausfinden: Er kannte Ihren Namen, er wusste, in welcher Stadt Sie wohnen. Der Rest war ein Kinderspiel. «

       »Tatsä chlich? «, fragte Marion.

       »Es kommt darauf an, welche Spuren Sie im Internet hinterlassen. Es reicht schon aus, wenn Sie in einem Verein ein Ehrenamt haben und Sie auf der Website erwä hnt werden. Ein Blick ins Telefonbuch genü gt, um die Adresse herauszubekommen. Sie glauben nicht, welche Informationen vollkommen bedenkenlos in der Altpapiertonne landen: Kontoverbindungen, Kreditkartennummern, in welcher Krankenversicherung Sie sind, welche Schule Sie besuchen, wer Ihr Arbeitgeber ist. So kann man leicht von einer Person ein umfassendes Profil herstellen. Wenn Gabriel schlau genug war, so vorzugehen, hat er umgekehrt seine eigene Identitä t verschleiert. «

       Judith nahm ihr Handy und ö ffnete die Liste der zuletzt eingegangenen Nachrichten. »Das hier ist seine Nummer. Vielleicht kö nnen Sie ja damit was anfangen. «

       »Gut, das ist doch schon mal ein Anfang«, sagte die Polizistin und schrieb sie sich auf. »Wir werden die Nummer ü berprü fen. Aber machen Sie sich keine groß en Hoffnungen. Vermutlich benutzt er eine gestohlene Prepaid-Karte. Viele Menschen haben ein Zweithandy. Wenn sie es vermissen, machen sie sich nicht die Mü he, es sperren zu lassen, denn meist ist es ein Billiggerä t und das Guthaben auf der Karte ü berschaubar. «

       »Und was kann ich in der Zwischenzeit tun? «, fragte Judith.

       »Sie sollten alle Nachrichten von Gabriel aufheben und alles aufschreiben, was passiert. In Ihrer jetzigen Situation hilft leider keine einstweilige Verfü gung oder Schutzanordnung, die es ihm verbietet, Kontakt zu Ihnen aufzunehmen. Denn wenn wir nicht wissen, wer er ist und wo er wohnt, kö nnen wir diese Anordnung ja nicht durchsetzen. Deswegen ist es wichtig, dass Sie seine E-Mails aufbewahren. Ü ber die IP-Adresse lä sst sich vielleicht herausfinden, um wen es sich handelt. Dazu werden wir Ihren Rechner mitnehmen mü ssen. «

       »Und was ist, wenn sich auf dem Rechner Dateien befinden, die dort nichts zu suchen haben? «, fragte Judith vorsichtig.

       »Musik? Filme? So was in der Art? «, fragte Dokupil und steckte seine Kladde wieder in die Tasche.

       »So was in der Art, ja«, gab Judith zu.

       »Machen Sie Filesharing? «

       »Ob ich was mache? «

       »Filesharing. Laden Sie Musik runter und verteilen Sie sie gleich weiter? «

       »Nein«, sagte Judith. »Die Sachen, die ich auf der Festplatte habe, sind kopiert. Von Freunden. «

       Kim machte ein unschuldiges Gesicht.

       Dokupil winkte ab. »Nicht unsere Wiese. Was haben Sie denn fü r einen Rechner? «

       »Ein Notebook. «

       »Nichts, was man abbauen mü sste? «

       Judith schü ttelte den Kopf. »Wann bekomme ich es wieder? «

       »Kann ich Ihnen nicht sagen. Hä ngt davon ab, ob es ausreicht, die Festplatte zu kopieren. Jedenfalls benö tigen wir noch Ihre Passwö rter. «

       Judith verzog gequä lt den Mund. Dieser Dokupil verlangte von ihr, dass sie praktisch alles ü ber sich preisgab. Aber was ihr noch mehr Bauchschmerzen machte, war der Gedanke, dass auch Gabriel schon alles von ihr wusste.

       »Werden Sie etwas unternehmen, wenn er sich bei mir meldet? «, fragte Judith. »Ü ber Skype, Facebook oder E-Mail? «

       »Dann lesen wir mit und versuchen seine Spur zurü ckzuverfolgen«, sagte Dokupil. »Dasselbe gilt fü rs Telefon. Wir werden eine Fangschaltung einrichten. «

       »Und was ist mit mir? «, fragte Judith. »Auf welchem Rechner lese ich mit, wenn Sie mein Notebook haben? «

       »Auf meinem«, sagte Marion spontan.

       Judith war von dieser Idee nicht sonderlich begeistert. Sie fü hlte sich auf einmal wieder wie ein kleines Mä dchen, dem die Mutter am Computer ü ber die Schulter schaut. Aber offline zu sein, wä re noch unerträ glicher gewesen.

       Dokupil schob Judith seine Visitenkarte hin. »Hier. Sie kö nnen mich jederzeit anrufen, wenn etwas passiert, einverstanden? «

       »Soll ich ihm antworten, wenn er Kontakt mit mir aufnimmt? «, fragte Judith.

       Dokupil schwieg einen Moment nachdenklich. »Nein«, sagte er schließ lich. »Jede Reaktion von Ihnen, sei sie auch noch so negativ, wird ihn dazu ermuntern, Ihnen weiter nachzustellen. «

       »Gut«, sagte Judith und stand auf. »Dann werde ich mal alles vorbereiten. «

        

 

       Noch nie in seinem Leben war Gabriel so wü tend gewesen. Wü tend auf sich selbst. Auf seine Dummheit! Wie hatte er sich nur so dä mlich anstellen kö nnen!

       Er hä tte sich besser vorbereiten mü ssen. Immerhin hatte er gewusst, dass sie eine starke Persö nlichkeit war, der man ebenso stark gegenü bertreten musste. Er hatte die Initiative aus der Hand gegeben und das hatte sich als unverzeihlicher Fehler erwiesen. Aber durch so einen kleinen Rü ckschlag ließ er sich nicht entmutigen. Auch dass gerade die Polizei bei Judith war, beunruhigte ihn kaum. Im Gegenteil! Er fü hlte sich angespornt.

       Er holte seinen Roller aus der Garage und machte sich auf den Weg nach Frankfurt. Da Judith nicht auf seine flehentlichen Botschaften reagierte, wü rde er ihr auf andere Weise die Augen ö ffnen mü ssen. Sie musste endlich begreifen, dass sie beide fü reinander bestimmt waren. Und wenn Worte sie nicht ü berzeugen konnten, wü rde er nachhelfen mü ssen. So leid ihm das tat. Denn nichts verabscheute er so sehr wie Gewalt.

       Aber vielleicht reichte es ja auch, ihr eine Lehre zu erteilen. Vielleicht reichte es, wenn sie am eigenen Leib spü rte, was sie ihm angetan hatte. Dann wü rde sie verstehen, was er schon lange wusste: Liebe tat weh. So weh.

        

 

       Gabriel mailte nicht mehr. Judith hatte auf dem Rechner ihrer Mutter alle nö tigen Accounts eingerichtet, doch die Postfä cher blieben leer. Auch ü ber Skype kam keine Anfrage rein. Funkstille. Aber diese Stille machte Judith erst recht Angst.

       Zoeys schrecklicher Tod ü berschattete noch immer jeden Tag. Auch wenn der Mordfall schließ lich von der Titelseite in den Lokalteil wanderte – Judith konnte nicht aufhö ren, an diesen Albtraum zu denken. Jan saß noch immer in Untersuchungshaft. Wer weiß, wie lange es noch dauerte, bis die Ermittlungen abgeschlossen waren und der Prozess begann. Sein Anwalt hatte zwar eine Freilassung auf Kaution beantragt, aber in Anbetracht der Schwere der Anklage wurde diesem Antrag nicht stattgegeben.

       Judith hatte in der Zwischenzeit einen Berg von Klausuren zu bestehen. Die Biologiearbeit hatte sie natü rlich mit Pauken und Trompeten in den Sand gesetzt. Der Zitronensä urezyklus hatte sozusagen ohne sie stattgefunden. Englisch und Deutsch liefen besser, sodass sie im Groß en und Ganzen dennoch zufrieden sein konnte. Sie hatte Gabriel schon fast vergessen, als ihre Mutter ihr beim Mittagstisch einen Brief gab.

       »Ist jemand gestorben? «, fragte sie.

       »Wieso fragst du das? « Judith legte das Besteck beiseite und betrachtete das Kuvert genauer. Es hatte einen schwarzen Rand und die Adresse war aufgedruckt. Sie ö ffnete den Umschlag und zog eine Karte heraus. Sie war aus feinstem Bü ttenpapier, doch auch hier war der Text getippt worden.

       Seltsam und voller Wandlungen ist das Leben. Eine Kleinigkeit reicht hin, uns zugrunde zu richten oder uns emporzutragen.

       Kein Absender. Keine Unterschrift.

       Plö tzlich brummte Judiths Handy in der Hosentasche. Mit zitternden Fingern holte sie es hervor. Sie hatte eine SMS erhalten.

       Hast du meine Nachricht gelesen?

       Judiths Herz setzte fü r einen Schlag aus. Der Absender war eine unbekannte Telefonnummer. Es brummte erneut.

       Wenn du mich weiter missachtest, werde ich dich zerstö ren.

       Judith stand auf. Ihre Beine fü hlten sich an wie Gummi. Sie trat zum Kü chenfenster und schob vorsichtig den Vorhang einen Spaltbreit beiseite. Wieder brummte es.

       Ich sehe, wohin du gehst oder was du tust. Ich werde dir eine Mail schicken und du wirst sie beantworten. Jetzt.

       Judith stieß einen erstickten Schrei aus und zog den Vorhang wieder zu.

       »Um Himmels willen, was ist los mit dir? «, rief ihre Mutter. »War das Gabriel? «

       »Ja«, murmelte Judith und eilte hinauf in ihr Zimmer.

       Es dauerte einen Moment, bis der Rechner hochgefahren war.

       Von: gabriel23@sysop. net

 

       An: gwendolin@myweb. de

 

       Betr.: Ich und du

 

       Meine allerliebste Judith,

 

       es tut mir leid, dass ich zu solchen Mitteln greifen muss, um deine Aufmerksamkeit zu bekommen. Aber du lä sst mir keine Wahl. Dabei will ich doch nur unser Bestes, das musst du mir glauben!

 

       Ich will dir nicht wehtun. Bitte, ich mö chte dich nur sehen und dir sagen, was ich fü r dich empfinde. Sag nicht Nein. Befrei mich aus meiner Qual.

 

       In Liebe

 

       Gabriel

 

       »Dieser Kerl ist krank! «, sagte Marion, die unbemerkt hinter Judith getreten war. »Du willst ihm doch nicht etwa antworten? «

       »Doch«, sagte Judith. Ihre Finger huschten ü ber die Tastatur. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

       »Tu es nicht! «, flehte ihre Mutter. Zerberus, der ihr gefolgt war, winselte leise.

       Judith wirbelte herum. »Entweder du lä sst mich hier machen oder du gehst raus! «

       Marion zuckte zusammen, schwieg aber. Judith schickte ihre Antwort ab.

       Von: gwendolin@myweb. de

 

       An: gabriel23@sysop. net

 

       Betr.:

 

       Die Polizei weiß Bescheid. Sie hat meinen Rechner. Sie liest deine Mails. Und sie weiß, dass du Zoey ermordet hast.

 

       Der letzte Satz war natü rlich gelogen, aber Judith hatte der Versuchung einfach nicht wiederstehen kö nnen. Ein Mal, nur ein einziges Mal wollte sie die Kontrolle haben.

       Von: gabriel23@sysop. net

 

       An: gwendolin@myweb. de

 

       Betr.: Warum?

 

       Meine schö ne Kö nigin,

 

       ich weiß, dass du mit der Polizei gesprochen hast, aber sie kann dir nicht helfen. Ich werde immer wissen, wo du bist. Ich lass dich nie allein. Du und ich, wir beide gehö ren zusammen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie stark meine Liebe ist. Du bist so wunderschö n. Ich wü rde dich so gerne kü ssen und in meinen Armen halten. Bitte, nur ein Mal.

 

       Gabriel

 

       Judith starrte auf den Monitor, Angst und Ekel ü berwä ltigten sie. Da klingelte ihr Handy. Judith blickte wie versteinert auf das Display. Die Nummer war dieselbe, von der ihr auch die SMS geschickt worden war. Sie hob ab.

       »Nur damit du es weiß t: Meine Mutter steht neben mir und ich habe auf laut gestellt«, zischte sie wü tend.

       »Hallo Judith. «

       Schweigen. Ein langes Schweigen – ein Krä ftemessen.

       »Was willst du? «, fragte Judith.

       Sie konnte das Lä cheln in seiner Stimme hö ren, als er ihr antwortete. »Dich. «

       Marion schnappte sich das Telefon, und als hä tte sie das Mikrofon vergessen, hielt sie es an ihr Ohr. »Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, was fü r ein armseliger Perverser Sie sind? «

       Es knackte in der Leitung. Aufgelegt.

       Marion warf das Telefon gegen die Wand. Das Display zersplitterte, der Deckel des Akkufachs sprang auf und rutschte unter den Heizkö rper.

       Judith begrub ihr Gesicht in den Hä nden. Ihre Mutter hockte sich neben sie und legte ihr einen Arm um die Schultern. Erst wollte Judith sie wegstoß en, aber dann gab sie nach.

       »Dieser verdammte Psycho! «, schluchzte Judith. Sie weinte nicht aus Verzweiflung, sondern vor Wut.

        

 

       Judith war den ganzen nä chsten Tag damit beschä ftigt, ein Gedä chtnisprotokoll fü r die Polizei zu erstellen. Im Nachhinein bedauerte sie natü rlich, dass sie alle Mails und Chat-Protokolle gelö scht hatte. In den eigenen vier Wä nden fü hlte sie sich einigermaß en sicher, doch sobald sie das Haus verließ, wurde sie nervö s und schaute sich immer wieder um.

       Die Nachbarn waren informiert und hielten die Augen offen. Judith hä tte nie gedacht, dass sie sich einmal mit ä lteren Herrschaften verbü nden wü rde, die Falschparker anzeigten oder Kinder maß regelten, wenn sie zu laut herumtollten.

       Kim und Niels betä tigten sich als Bodyguards, was Judith manchmal fast zu viel wurde.

       Robert half ihr dabei, alle wichtigen Informationen fü r die Polizei zusammenzutragen. Er blieb immer die Ruhe in Person und das lernte Judith sehr zu schä tzen. Sie rä umte ihm sogar im Bad eins ihrer Fä cher, wo er seine Sachen ausbreiten konnte.

       Doch die trü gerische Ruhe wä hrte nicht lang. Eines Nachts um zwei klingelte es plö tzlich an der Haustü r. Judith, die einen leichten Schlaf hatte, erwachte mit einem Ruck. Sie schlug die Decke beiseite, tappte zum Fenster und schob den Vorhang zurü ck.

       Vor dem Haus stand ein Taxi mit laufendem Motor. Es klingelte erneut.

       Als Judith ihre Zimmertü r ö ffnete, sah sie, dass bereits Licht brannte. Ihre Mutter unterhielt sich mit einem Mann, allerdings so leise, dass Judith nichts verstehen konnte.

       »Was ist los? «, fragte sie Robert, der oben am Treppenabsatz stand.

       »Keine Ahnung. « Er trug blaue Boxershorts und darü ber ein weiß es T-Shirt. Seine Haare standen wirr nach allen Seiten ab.

       Die Tü r wurde geschlossen und Marion kam die Treppe hinauf.

       »Wer war das? «, wollte Judith wissen.

       »Ein Taxi zum Flughafen. Der Fahrer hat sich an der Haustü r geirrt. « Judiths Mutter gä hnte. »Kommt, lasst uns zu Bett gehen. Wir mü ssen alle frü h raus. «

       Sie wollte gerade das Flurlicht lö schen, als es erneut klingelte. Marion verdrehte die Augen. »Was ist denn jetzt schon wieder? «

       »Guten Morgen«, sagte ein Mann, klein, stä mmig und unrasiert. »Ihr Taxi ist da. «

       »Vor fü nf Minuten habe ich einen Ihrer Kollegen weggeschickt«, sagte Judiths Mutter. »Wir wollen nicht zum Flughafen. Wir wollen schlafen. «

       »Sie heiß en Schramm? «

       »Ja. «

       »Und das ist doch die Hausnummer sechzehn? «

       »Ja. « Marions Stimme klang wie ein mü des Echo.

       »Dann haben Sie ein Taxi bestellt«, sagte der Mann trotzig.

       Marion schloss die Augen. »Hö ren Sie mal, sehen wir so aus, als wollten wir in Urlaub fahren? Ganz bestimmt nicht. Es kann sich nur um ein Versehen handeln. «

       Der Taxifahrer fluchte leise in einer fremden Sprache, machte auf dem Absatz kehrt und wä re beinahe mit einem anderen Mann zusammengeprallt, der den Weg zum Haus hinaufkam.

       »Haben Sie ein Taxi bestellt? «, wollte er wissen. Ein mä chtiger Bierbauch wö lbte sich unter seiner Lederjacke.

       »Nein, haben die Herrschaften nicht«, sagte sein Kollege. »Da hat sich wohl jemand einen ziemlich blö den Scherz mit uns erlaubt. « Er deutete zur Straß e, wo sich mittlerweile eine ganze Kolonne von Taxis staute. Die laufenden Motoren und schlagenden Tü ren machten einen derartigen Lä rm, dass ü berall in den benachbarten Hä usern die Lichter angingen.

       Mit einem Mal klingelte Judiths Ersatzhandy, das auf der Kommode im Flur neben ihrem Schlü ssel lag. Eine SMS.

       Sä mtliche Schar, die du siehst, ist hilflos, ohne Bestattung; Charon steuert das Boot; die die Flut trä gt, sind die Begrabenen; aber es wird zum grausigen Strand durch die rauschenden Fluten niemand ü bergesetzt, bis still im Grab sein Gebein ruht.

       Robert nahm ihr das Handy aus der Hand und las die Nachricht. »Sieht so aus, als wä re dein Freund sehr belesen. Das ist aus der Aeneis. « Er sah auf. »Tausch die Karte aus. Dann wird er dich mit seinen Literaturzitaten verschonen. «

       Judith nahm das Handy wieder an sich und schaltete es aus. Drauß en auf der Straß e lö ste sich der Stau langsam auf. Ruhe kehrte ein. Ihre Beine begannen zu zittern und sie musste sich auf die Treppe setzen.

       »Ich rufe gleich bei allen Taxizentralen an und warne sie, damit sie keinen Wagen mehr an diese Adresse schicken«, sagte Robert. »Und ihr beide solltet jetzt zu Bett gehen. Wenn ihr mö chtet, bleib ich noch ein bisschen auf, falls unser Stalker selbst auftauchen sollte. «

       »Das ist lieb, aber das musst du nicht. « Zu ihrer Mutter gewandt sagte Judith mit einem matten Lä cheln: »Ich bin wirklich froh bin, dass du den Typ hier aufgegabelt hast. «

       Marion lä chelte und legte ihren Arm um Roberts Hü fte. »Da bist du nicht die Einzige. Manchmal ist ein Mann im Haus ganz nü tzlich. «

       »Nanu? Geben die emanzipierten Damen jetzt ihren Standpunkt auf? «, fragte Robert mit einer hochgezogenen Augenbraue.

       »Bilde du dir mal keine Schwachheiten ein, mein Freund«, sagte Marion und knuffte ihn in die Seite. »Meine Selbststä ndigkeit steht hier nicht zur Debatte. «

       Er drü ckte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Dass, meine Liebe, hä tte mich ehrlich gesagt auch ziemlich enttä uscht. Du hast eine wunderbare Mutter, Judith. «

       »Ja, manchmal«, erwiderte sie grinsend.

       Marion hob den Zeigefinger und grinste zurü ck.

       »Das ist das Allerwichtigste: Ihr mü sst immer zusammenhalten«, sagte Robert ernst. »Denn wenn mich nicht alles tä uscht, steht euch noch eine schwere Zeit bevor. «

       »Nimm dich da mal nicht aus«, sagte Marion. »Mitgefangen, mitgehangen. «

       »Ich gehe ins Bett«, sagte Judith. »Macht das unter euch aus. «

       Doch Judith war zu aufgedreht, als dass sie sofort hä tte einschlafen kö nnen. Zerberus legte winselnd seine Schnauze aufs Bett.

       »Na, komm her«, sagte Judith und klopfte neben sich auf die Matratze. »Aber dass eins klar ist: Das ist eine Ausnahme! Normalerweise ist dein Platz am Fuß ende, auf der Decke. Aber heute Nacht brauch ich jemand zum Kuscheln. « Judith musste unwillkü rlich lachen.

       Sie und kuscheln! So weit war es schon gekommen.

        

 

       Erstaunlicherweise blieb am nä chsten Tag der Telefonterror aus und auch in der darauffolgenden Nacht war es ruhig. Judith war sich nicht ganz sicher, ob das ein gutes Zeichen war.

       Sie ging nicht mehr alleine zur Schule. Sie wurde entweder von ihrer Mutter oder von Robert hingefahren und wieder abgeholt. Der Direktor und die Lehrer waren informiert, doch keiner sprach mit Judith ü ber die Gefahr.

       Auch wenn der Alltag scheinbar normal weiterging, war Judith in stä ndiger Alarmbereitschaft. Selbst in den weitlä ufigen Korridoren des Schulgebä udes fü hlte sie sich beobachtet.

       Als sie am Nachmittag ihre E-Mails abrief, wusste sie, warum: Gabriel hatte ihr nur eine einzige Nachricht geschickt, aber die war so groß, dass ihr Rechner einige Minuten zum Herunterladen benö tigte. Im Anhang waren mehr als zwanzig Fotos.

       Judith am Fenster ihres Zimmers.

       Judith mit ihrer Mutter beim Verlassen des Hauses.

       Judith beim Betreten der Schule.

       Judith vor dem Physiksaal, wie sie sich mit Niels unterhä lt.

       Judith in der Pause auf der Bank unter der Buche.

       Judith, die nach Schulschluss ins Auto ihrer Mutter steigt.

       Und alle sahen so aus, als wä re sei der Fotograf keine zehn Meter von ihr entfernt gewesen. Judith biss die Zä hne zusammen. Am liebsten hä tte sie alles gelö scht. Aber die Polizei brauchte Anhaltspunkte.

       Da sie in der letzten Nacht kaum ein Auge zugetan hatte, war sie hundemü de. Dem Unterricht hatte sie kaum folgen kö nnen und mehrmals hatten die Lehrer sie aus ihren finsteren Grü beleien gerissen. Eines hatte Gabriel auf jeden Fall erreicht: Judith dachte an ihn, Tag und Nacht.

       Als sie ihre Tasche ö ffnete, um die Notizen fü r das Geschichtsreferat herauszuholen, das sie kommende Woche halten sollte, fiel ein Umschlag heraus, auf den ihr Name gedruckt war.

       Sie wich erschrocken zurü ck, als hä tte sie plö tzlich eine tote Ratte gesehen. Zitternd hob sie das Kuvert auf. Am liebsten hä tte sie es ungeö ffnet in den Mü lleimer geworfen. Verdammt, wie war er so nah an sie herangekommen, ohne dass sie es bemerkt hatte? Und vor allen Dingen: Wann? Sie war heute nicht U-Bahn oder Bus gefahren und sie hatte die Tasche keine Minute aus den Augen gelassen.



  

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