Хелпикс

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       Herr Martinez, der Biolehrer, sonst ein lä ssiger Typ, der so jung war, dass man ihn mit einem Oberstufenschü ler hä tte verwechseln kö nnen, trug heute statt eines verwaschenen T-Shirts einen schwarzen Anzug. Alles verstummte, als er leise die Tü r hinter sich schloss. Er nickte knapp zur Begrü ß ung

       Es war jetzt so leise, dass Judith sich atmen hö rte. Kim drü ckte unter der Bank ihre Hand.

       »Gestern Nachmittag ist Zoey Gerber gestorben«, begann Herr Martinez schließ lich mit belegter Stimme. »Ein Schü ler aus Ihrem Jahrgang steht im Verdacht, sie ermordet zu haben. Jemand, den Sie alle gut kennen. «

       Wieder trafen Judith misstrauische Blicke.

       Martinez rä usperte sich und schluckte trocken. »Es ist fü r uns alle eine schwierige Situation, und ich bitte Sie, mit Ihren Urteilen und Verdä chtigungen vorsichtig zu sein. « Sein Blick wanderte von einem Schü ler zum anderen und streifte am Schluss nur kurz Judith. »Morgen um neun findet in der Kirche der Dornbuschgemeinde eine Andacht fü r Zoey statt. Ich wü rde mich freuen, Sie dort zu sehen. Fü r den Rest des Tages fä llt der Unterricht aus. «

       Schweigend packten alle ihre Sachen zusammen. Judith wartete zusammen mit Kim und Niels ab, bis ihre Mitschü ler den Raum verlassen hatten.

       »Ich muss mit Judith unter vier Augen sprechen«, sagte Martinez.

       Kim und Niels zö gerten einen Moment, gingen dann aber. Martinez rieb sich die Augen, als wä re er auf einmal mü de und erschö pft. »Die Polizei mö chte mit Ihnen reden«, sagte er schließ lich.

       »Wo? «, fragte Judith nur.

       »Im Chemieraum. « Martinez sah sie traurig an. »Sie haben keine Ahnung, wie leid mir das alles fü r Sie tut. «

       Judith nickte nur.

       »Ich weiß, dass Sie an all dem keine Schuld tragen«, fuhr Martinez fort. »Und Sie sollen wissen, dass die Schule hinter Ihnen steht. «

       Ja, dachte Judith. Und wie. Das hab ich heute gemerkt.

       Judith hatte noch nie mit der Polizei zu tun gehabt. Jedenfalls nicht mit Beamten in Zivil. Zwei Hauptkommissare, ein Mann und eine Frau, vernahmen sie. Sie hatten sich zwar vorgestellt, aber Judith hatte die Namen in der Aufregung sofort wieder vergessen. Im Chemieraum roch es, als wä re etwas angebrannt. Selbst die geö ffneten Fenster ä nderten kaum etwas daran.

       Sie setzten sich an einen Tisch und die Polizisten begannen, ihren Fragenkatalog abzuarbeiten. Die Frau fragte und der Mann machte sich Notizen. Als Judith von ihrem Treffen mit Jan im Malewitsch berichtete, wurden die Beamten sehr aufmerksam.

       »Er hat Sie also auf der Straß e abgepasst? «, fragte die Polizistin, eine schlanke, hochgewachsene Frau mit schwarzen Haaren und dunklen Augen. Sie hatte lange, rot lackierte Fingernä gel, trug hochhackige Sandalen zu den engen Jeans und eine weiß e Bluse.

       »Ja, das wohl auch schon ziemlich lange. Es hatte an diesem Tag geregnet und er war nass bis auf die Knochen. «

       »Warum haben Sie beide sich nicht schon frü her ausgesprochen? «

       Judith fragte verblü fft zurü ck: »Anders herum gefragt: Warum hä tte ich mich mit Jan aussprechen sollen? «

       Die Beamtin zuckte mit den Schultern. »Vielleicht, weil Ihnen etwas an ihm liegt. «

       »Er hat sich von Zoey einfangen lassen. Er hat sich entschieden. «

       »Waren Sie nicht wü tend? Verletzt? «

       Judith verschrä nkte die Arme vor der Brust und schlug die Beine ü bereinander. »Natü rlich war ich das. «

       »Aber Sie haben Ihren Stolz. «

       Judith hob die Augenbrauen. »Hä tten Sie den etwa nicht? «

       »Wie wü rden Sie Ihr Verhä ltnis zu Jan beschreiben? «, fragte die Beamtin kü hl.

       »Darü ber habe ich auch schon nachgedacht«, sagte Judith leise.

       »Haben Sie ihn geliebt? «

       Judith schwieg einen sehr langen Moment. »Ich weiß es nicht. Wie fü hlt es sich denn an, verliebt zu sein? «, fragte sie trotzig.

       Die beiden Beamten wechselten einen Blick, den Judith nicht deuten konnte.

       »Haben Sie Jan dazu ermuntert, mit Zoey zu sprechen? «, fragte jetzt der Mann, ein kleiner Buchhaltertyp jenseits der Fü nfzig mit schü tterem, grauem Haar und Bauchansatz.

       »Nein, ich habe nur zugehö rt. Ich gebe nie Ratschlä ge. «

       »War Jan klar, dass es zwischen Ihnen beiden endgü ltig aus war? « Die Lesebrille des Beamten war auf seine Nasenspitze gerutscht.

       »Weiß ich nicht. Da mü ssen Sie ihn selbst fragen. Ich war mir zu diesem Zeitpunkt nicht sicher«, gab Judith zu und sah dann auf. »Hat er den Mord gestanden? «

       Die Beamtin verzog keine Miene.

       Judith kaute auf ihrer Unterlippe herum und rä usperte sich. »Kann ich ihn besuchen? «

       »Sie mü ssen beim zustä ndigen Staatsanwalt einen Besuchsschein beantragen«, sagte der Polizist und setzte seine Lesebrille ab. »Aber in Ihrem Fall dü rfte dieser Antrag nicht genehmigt werden. Sie sind eine wichtige Zeugin. «

       Judith nickte nachdenklich. »War auch nur eine Frage. «

       Die beiden Polizisten standen auf und gaben ihr die Hand. Die Frau lä chelte. »Wenn wir noch Fragen haben, melden wir uns. «

       »Ja, und bis dahin darf ich die Stadt nicht verlassen«, murmelte Judith.

       »Bitte? «, fragte die Beamtin.

       »Sagt man das nicht so in einem Krimi? « Judith machte eine wegwerfende Handbewegung. »Vergessen Sie es einfach, okay? «

        

 

       Nach dem Albtraum der letzten vierundzwanzig Stunden sehnte sich Judith nach Ablenkung. Sie startete Skype. Gabriel war zu ihrer Erleichterung online.

       Judith: Hallo Gabriel, wie war dein Tag?

 

       Gabriel: Durchwachsen.

 

       Judith: Ä rger mit der Arbeit? Oder mit von Richthofen?

 

       Gabriel: Mit der Arbeit. Nein, eigentlich nicht mit der Arbeit, sondern mit einem Kunden.

 

       Judith: Ist das nicht dasselbe?

 

       Gabriel: Ü berhaupt nicht! Meine Arbeit ist immer noch das Wichtigste in meinem Leben. Sie macht mir Spaß. Nur auf diese bescheuerten Krä merseelen kann ich verzichten.

 

       Judith: Aber nicht auf ihr Geld.

 

       Gabriel: Erwischt. Ich bekenne mich schuldig im Sinne der Anklage. Wie sieht es denn bei dir aus? Was macht der Zitronensä urezyklus? «

 

       Judith: Gestern ist mein Exfreund verhaftet worden. Er soll seine neue Freundin umgebracht haben.

 

       Gabriel ließ einen Moment mit der Antwort auf sich warten.

       Gabriel: Der Fall aus der Zeitung?

 

       Judith: Genau.

 

       Gabriel: Grauenhaft.

 

       Judith: Kann man wohl so sagen.

 

       Wieder gab es eine kleine Verzö gerung.

       Gabriel: Wie fü hlst du dich?

 

       Judith: Na, dreimal darfst du raten.

 

       Gabriel: Hast du jemanden zum Reden?

 

       Judith: Meine Mutter und ihren Freund. Und meine beste Freundin.

 

       Gabriel: Das scheint dir aber nicht zu helfen.

 

       Judith: Wenn ich ehrlich sein soll, nein. Ich wü rde am liebsten mit jemandem sprechen, der mit alldem nichts zu tun hat. Der mich nicht kennt. Und der Jan nicht kennt.

 

       Gabriel schwieg. Judith fü hlte sich ermuntert.

       Judith: Wollen wir uns sehen? Aber ich warne dich: Das wird kein lustiges Date.

 

       Gabriel: Ich wü rde mich gerne mit dir treffen. Wann?

 

       Judith: Ich weiß, es ist ein wenig knapp. Aber am besten wä r’s heute noch.

 

       Gabriel: Kein Problem. Ich freu mich. Wo?

 

       Judith: Café Metropol am Dom. Ist das in Ordnung fü r dich?

 

       Gabriel: Ja, kenne ich. Uhrzeit?

 

       Judith: So um sechs? Wü rde dir das passen?

 

       Gabriel: Perfekt. Wie erkenne ich dich?

 

       Judith: Mein rotes Haar ist nicht zu ü bersehen. Und du?

 

       Gabriel: Sehr kurze Haare, schwarze Brille. Ich trage ein T-Shirt, auf dem Infocom steht.

 

       Judith: Dann sehen wir uns nachher.

 

       Gabriel: Ich freu mich.

 

       Judith: Ich mich auch.

 

       Sie ging offline. Einen Augenblick lang verharrte sein Blick wie hypnotisiert auf dem Display seines Notebooks. Er ballte die Faust und stieß einen unterdrü ckten Freudenschrei aus. Es war jetzt kurz nach vier. Mit dem Auto benö tigte er eine gute Dreiviertelstunde, vielleicht etwas lä nger. Es kam darauf an, wie dicht der Verkehr in der Stadt war.

       Duschen war wichtig. Er wollte gut riechen, wenn er ihr das erste Mal in aller Ö ffentlichkeit gegenü bersaß. Es sollte der perfekte Moment sein. Er wollte, dass sie sich augenblicklich in ihn verliebte. Also wü rde er sich Mü he geben, ihr zu gefallen.

       Diesen Moment hatte er so lange herbeigesehnt. Jetzt durfte nichts schiefgehen. Nicht so kurz vor dem Ziel. Er ging ins Schlafzimmer und nahm T-Shirt, Hosen und die dazu passenden Socken aus dem Schrank. Alles schon vor einem Jahr fü r dieses Date gekauft. Alles noch kein einziges Mal getragen. Bedä chtig zog er sich um, strich jede Falte glatt.

       Gabriel schloss die Haustü r hinter sich, warf einen letzten Blick ü ber die Schulter und ging zu seinem Auto, das in der groß en Scheune stand. Als er schließ lich hinter dem Lenkrad saß, atmete er noch dreimal tief durch. Das war der Tag, auf den er ein ganzes Jahr lang gewartet hatte. Mit zitternder Hand stellte er den Rü ckspiegel ein und betrachtete sein Spiegelbild. Eine innere Stimme flü sterte ihm zu: Reiß dich zusammen. Versau’s nicht.

       Die ersten vierhundert Meter waren ein holpriger, von haushohen Pappeln gesä umter Feldweg. Er gab nur vorsichtig Gas, damit der Wagen nicht schmutzig wurde.

       Am Ende des Weges bog er in eine asphaltierte Straß e ein, die ihn zum nä chsten Ort brachte. Von da aus benö tigte er noch eine Viertelstunde, um die Autobahn zu erreichen. Er hielt sich peinlich genau an die vorgeschriebene Hö chstgeschwindigkeit. Er durfte auf keinen Fall geblitzt werden! Obwohl es vielleicht kü rzere Wege zur Innenstadt gab, nahm er den, den er schon kannte, selbst wenn das einen Umweg bedeutete. Er durfte nicht das Risiko eingehen, sich zu verfahren und womö glich unpü nktlich zu sein.

       Gabriel liebte es zwar, in der Menge unsichtbar zu werden, aber sonst machte ihn die Stadt nur nervö s, denn er mochte die Nä he anderer Menschen nicht. Er brauchte nur einen einzigen Menschen: Judith.

       Fü r einen kurzen Moment spielte er tatsä chlich mit dem Gedanken, den Mercedes im Parkhaus am Rö mer abzustellen. Es wä re bequem gewesen. Doch die Bequemlichkeit war ein schlechter Ratgeber, und so stellte er den Wagen in Seckbach ab, um mit der U4 in die Stadt zu fahren. Er bezahlte das Ticket bar, nicht mit seiner EC-Karte, die er nur zum Abheben von Bargeld nutzte.

       Von der U-Bahn-Station in Frankfurt waren es keine hundert Meter bis zum Café Metropol, an der Schirn und am Dom vorbei. Er schaute auf seine Uhr: perfekt. Er hatte noch genug Zeit, um sich einen Platz zu suchen, von dem aus er alle Gä ste im Blick hatte.

       Die Plä tze auf der Terrasse waren glü cklicherweise alle besetzt. Er mochte nicht drauß en sitzen. Dort war es ihm zu hell. Stattdessen wä hlte er einen Tisch in einer der hinteren Ecken des Gastraums. Eine Kellnerin erschien und lä chelte ihn freundlich an, Gabriel lä chelte verwirrt zurü ck. Als sie ihn nach seiner Bestellung fragte, kam ihm ihre Stimme ungewö hnlich tief vor. Er erwiderte, dass er noch auf seine Freundin warte, bestellte aber gleich einen Kaffee. Keine Latte macchiato, keinen Cappuccino oder Espresso. Nur einen ganz normalen Filterkaffee.

       Dann studierte er die Karte, legte sie wieder weg, schaute aus dem Fenster und beobachtete die Gä ste. Immer wieder blickte er auf seine Uhr. Es war schon fü nf Minuten ü ber der Zeit. Vielleicht hatte sie es sich anders ü berlegt.

       Eigentlich ein nicht tolerierbares Verhalten. Er wü rde irgendwann einmal mit ihr darü ber reden mü ssen, denn Pü nktlichkeit hatte viel mit Respekt zu tun. Beides Dinge, auf die er sehr viel Wert legte. Die Bedienung brachte ihm den Kaffee.

       Gabriel bedankte sich und wischte mit der Handflä che einige Krü mel vom Tisch, bevor er zwei Stü cke Zucker und etwas Sahne in die Tasse gab. Immer wieder wanderte sein Blick von der Uhr zur Tü r und wieder zurü ck.

       Plö tzlich sah er sie. Die widerspenstigen roten Locken hatte sie zu einem Zopf gebunden. Sie trug ein weiß es Top mit dü nnen Trä gern und enge blaue Dreiviertelhosen. Als sie den Blick suchend durch das Lokal schweifen ließ, hob er die Hand. Ein Lä cheln huschte ü ber ihr Gesicht und sie trat auf ihn zu. Seine Kehle war auf einmal wie zugeschnü rt.

       »Gabriel? «, fragte sie.

       Gabriel stand auf und streckte ihr seine Hand entgegen. »Hallo«, sagte er. Mehr brachte er nicht heraus. »Du bist spä t dran. «

       Fü r den Bruchteil einer Sekunde flackerte etwas in ihren Augen auf. Als hä tte man einen kleinen Stein in einen spiegelglatten See geworfen.

       »Tut mir leid, aber ich habe eine U-Bahn verpasst«, sagte sie und setzte sich ihm gegenü ber hin. Sie war wunderschö n.

       »Wie geht es dir? «, fragte er. Ein weiterer Stein, der in den kalten See geworfen wird.

       Ihr Lä cheln war jetzt nur noch zu erahnen. Sie musterte ihn. Er wich ihrem Blick aus.

       »Mö chtest du was trinken? «

       »Gerne. «

       Gabriel schob ihr die Karte hin.

       »Ich weiß schon, was ich mö chte. «

       »Ah«, machte er nur und gab der Bedienung ein Zeichen, die daraufhin nickte und mit dem Mund stumm die Worte »Eine Minute« formte.

       »Ich hab mir schon einen Kaffee bestellt. « Sein Herz schlug wild. Sein Hä nde wurden feucht, er wischte sie an seiner Hose ab.

       »Kein Problem«, sagte Judith. Und schwieg.

       Sein Mund war wie ausgetrocknet. Monatelang hatte er auf diesen Moment gewartet und nun fehlten ihm die Worte. »Wie geht es deinem Hund? «, brachte er schließ lich hervor.

       »Bitte? «, Sie sah ihn an, als wä re er ein vollkommen Fremder. Gabriels Stuhl schien zu schwanken. So sehr, dass er sich am Tisch festhalten musste. Er rä usperte sich. »Von Richthofen ist auf dem Weg der Besserung. «

       »Ist er immer noch nicht stubenrein? «, fragte Judith nicht sonderlich interessiert.

       »Nein, deine Tipps waren gut, aber manchmal will er einfach nicht hö ren. «

       »Das ist natü rlich ein Problem«, sagte Judith.

       Diesmal kam eine andere Bedienung und fragte nach der Bestellung. Judith ü berlegte einen kurzen Moment und schü ttelte dann den Kopf.

       »Nein, im Moment nicht. Dankeschö n. «

       Der Kellner blickte Gabriel kopfschü ttelnd an, auch er bestellte nichts. Seufzend rä umte er die leere Kaffeetasse ab.

       »Wie geht es deinem Freund? «, fragte er.

       »Meinem Exfreund? «, sagte Judith vorsichtig.

       »Dem, der in Haft sitzt. «

       »Ich weiß sehr genau, ü ber wen du sprichst. « Ihre Stimme war gereizt. Sprö de.

       »Entschuldige«, sagte er verwirrt. »Ich versuche nur, mich mit dir zu unterhalten. «

       »Das misslingt dir aber gerade grü ndlich. «

       »Entschuldige«, wiederholte er sich. »Ich mö chte dir ein guter Freund zu sein. « Er holte aus seiner Tasche eine Packung mit Pfefferminz und bot ihr eine Pastille an.

       Sie schaute ihn an, als hä tte er den Verstand verloren. »Wenn ich einen Freund will, suche ich mir einen. « Sie stand auf.

       »Nein! Warte! « Gabriel sprang ebenfalls auf und stieß dabei den Stuhl um, auf dem er saß. Einige Gä ste drehten sich zu ihm um. Mist, das ist gar nicht gut, dachte er. Ich darf nicht auffallen. Gabriel stellte den Stuhl vorsichtig wieder auf und setzte sich, wä hrend Judith ohne ein weiteres Wort das Café verließ.

        

 

       Judith war total durcheinander. Natü rlich wusste sie, dass Leute, die man online kennenlernte, in der Realitä t oft ganz anders waren, als man sie sich vorgestellt hatte. Aber das hier war geradezu bizarr gewesen! Der Gabriel, den sie aus den Chats und E-Mails kannte, war charmant, selbstsicher und witzig. Der Typ aus dem Café war ein vollkommen anderer Mensch. Auf den ersten Blick hatte er einen harmlosen, verschü chterten Eindruck gemacht. Wie ein Junge, der sich zum ersten Mal mit einem Mä dchen verabredet hatte.

       Aber da war noch etwas anderes gewesen.

       Etwas, was viel verstö render war.

       Normalerweise glaubte Judith nicht, dass die Augen das Fenster zur Seele waren. Das war ausgemachter Unsinn. Und doch hatte sie etwas an seinem Blick zutiefst irritiert. Seine Augen waren leer, geradezu leblos gewesen, obwohl sich in seinem Gesicht Verzweiflung widergespiegelt hatte. Weiß der Teufel, was er sich von diesem Treffen erhofft hat, dachte Judith, aber sie war froh, jetzt hinaus in die Sonne zu treten, denn ihr war plö tzlich kalt.

       Sie ü berquerte den Weckmarkt in Richtung Rö mer. Auf der obersten Stufe der Treppe zur U-Bahn-Haltestelle hielt sie inne. Da war noch etwas anderes gewesen, was sie irritiert hatte. Sie kam einfach nicht drauf. Es war wie bei einem Wort, das einem auf der Zunge lag. Sie gab das Nachdenken auf und ging langsam die Treppe hinab.

       Zu Hause ging sie sofort zu ihrem Rechner und ö ffnete Skype. Gabriel war online.

       Judith atmete einmal tief durch und setzte dann auch ihren eigenen Status auf »Online«.

       Gabriel: Da bist du ja!

 

       Judith: Ja, da bin ich.

 

       Gabriel: Ich glaube, ich muss mich bei dir entschuldigen.

 

       Judith: Wofü r? Dafü r, dass du so bist, wie du bist? Kein Problem.

 

       Gabriel: Ich hatte das Gefü hl, du hast dir jemand ganz anderes vorgestellt. Kann das sein?

 

       Judith: Stimmt. Ist aber auch nicht weiter wichtig.

 

       Gabriel: Ist es doch, sonst wä rst du nicht einfach aufgestanden und gegangen.

 

       Judith: Ich war ein bisschen irritiert.

 

       Gabriel: Ich muss zugeben, dass ich heute einen schlechten Tag hatte. Aber ich hatte dich ja davor gewarnt, dass du mich fü r einen Langweiler halten wü rdest.

 

       Plö tzlich wusste sie, was nicht stimmte. Ein kalter Schauer lief ihr ü ber den Rü cken.

       Judith: Du hast mich heute nicht zum ersten Mal gesehen. Kann das sein?

 

       Gabriel: Wie meinst du das?

 

       Judith: Versuch nicht, mich fü r dumm zu verkaufen. Wie lange beobachtest du mich schon?

 

       Gabriel: Ich verstehe nicht, was du meinst!

 

       Judith: Du liebst Pfefferminz-Bonbons. Und zwar eine ganz bestimmte Sorte.

 

       Gabriel: Und?

 

       Judith: Als ich vor einigen Tagen mein Fahrrad beim Schwimmbad abgeholt habe, hä tte ich schwö ren kö nnen, dass mich jemand beobachtet. Tatsä chlich habe ich bei einem Baum eine leere Pfefferminzpackung gefunden. Wilhelmina.

 

       Gabriel: Aber die kann doch jeder da weggeworfen haben.

 

       Judith: Das glaube ich nicht. Mach’s gut.

 

       Nach diesen Worten kappte sie die Verbindung. Benommen ließ sie sich aufs Bett fallen. Es war unglaublich: Tagelang hatten sie miteinander gemailt und gechattet. Sie hatte Vertrauen zu ihm gefasst. Sich beinahe in ihn verliebt. Und dann so was. Er hatte sie beobachtet. Zumindest an diesem Tag beim Schwimmbad. Dessen war sie sich jetzt sicher. Aber woher hatte er gewusst, dass sie da sein wü rde? War es Zufall gewesen? Immerhin hatte er auch einen Hund, der mal rausmusste. Oder etwa nicht?

       Er hatte sie beobachtet. Er hatte gewusst, wer sie war. Woher? Wie konnte das sein?

       Ihre Gedanken fü hrten einen wilden Tanz auf. Die erste Mail war ein Irrlä ufer gewesen. Ein Zufall.

       Judith gab ihre eigene E-Mail-Adresse in Google ein. Es gab keinen direkten Treffer. Und dennoch wusste sie, dass sie auf der richtigen Fä hrte war.

       Facebook!

       Sie ö ffnete ihren Account und sah in ihren Kontakteinstellungen, dass sie tatsä chlich ihre E-Mail-Adresse angegeben hatte.

       Dann ü berprü fte sie ihre Freundeliste. Fü r FB-Verhä ltnisse war sie nicht besonders groß, aber unter den hundertzwanzig Freunden waren etliche, denen sie noch nie begegnet war. Man hatte Videos und Bilder fü reinander gepostet und Statusmeldungen verö ffentlicht, die Rü ckschluss auf persö nliche Vorlieben zuließ en.

       Trotzdem war damit noch immer nicht geklä rt, woher er wusste, dass sie an diesem Tag im Park sein wü rde. Judith bekam Gä nsehaut.

       Gabriel musste sie beobachtet haben, es gab keine andere Mö glichkeit. Er musste ihr tatsä chlich gefolgt sein. Und das sehr wahrscheinlich nicht nur an diesem Tag.

       »Oh Mist«, sagte sie leise und stö hnte auf. Die Fotos! Kein Zweifel: Nur er konnte die Fotos geschossen haben.

       Der Kerl war mit Sicherheit ein Spinner. Eine arme Wurst, die noch nie in seinem Leben eine Freundin gehabt hatte. Doch wie war er ausgerechnet auf sie gekommen?

       Darauf wusste sie keine Antwort. Aber das war egal. Hauptsache, sie brach den Kontakt sofort ab. Allerdings: Wenn er sie wirklich schon lä ngere Zeit beobachtete, dann wusste er wahrscheinlich auch, wo sie wohnte. Bei dem Gedanken daran wurde ihr ganz flau im Magen.

       Vielleicht aber war das alles auch gar nicht so schlimm. Vielleicht hatte er den Warnschuss gehö rt und wü rde sie von nun an in Ruhe lassen.

       Vielleicht.

       Sie stand auf und ü berprü fte ihre E-Mails. Natü rlich hatte er geschrieben.

       Von: gabriel23@sysop. net

 

       An: gwendolin@myweb. de

 

       Betr.: Wir beide

 

       Liebe, liebste Judith!

 

       Es tut mir wirklich aufrichtig leid, wenn ich dich so erschreckt haben sollte. Das wollte ich nicht. Bitte. Ich wü rde so gern wieder mit dir chatten. Kö nnen wir noch einmal von vorne beginnen?

 

       Alles Liebe

 

       Gabriel

 

       Judith antwortete nicht, sondern lö schte die Mail sofort. Kaum war die Nachricht in dem kleinen Papierkorb verschwunden, erhielt sie eine neue Mail.

       Von: gabriel23@sysop. net

 

       An: gwendolin@myweb. de

 

       Betr.: Wir beide

 

       Meine liebe Judith!

 

       Ich bin ganz zerknirscht. Wenn ich dir zu nahe getreten sein sollte, verzeih bitte. Ich will dir nichts Bö ses. Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt. Hast du eine Ahnung, wie sich das fü r mich anfü hlt? Bitte, lass mich nicht durch die Hö lle gehen.

 

       Liebe Grü ß e

 

       Gabriel

 

       Judith kam noch nicht mal dazu, die Mail zu lö schen, als schon die nä chste Nachricht eintraf.

       Von: gabriel23@sysop. net

 

       An: gwendolin@myweb. de

 

       Betr.: Wir beide

 

       Judith, bitte!

 

       Melde dich bei mir. Ich mö chte mich mit dir treffen, damit wir alles bereden kö nnen. Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun soll.

 

       Verzweifelt,

 

       Gabriel

 

       Judith schlug die Hand vor den Mund. Sie ahnte, dass dieser Typ nicht so schnell lockerlassen wü rde. Also beschloss sie, ihm eine letzte, unmissverstä ndliche Botschaft zu senden.

       Von: gwendolin@myweb. de

 

       An: gabriel23@sysop. net

 

       Betr.: Wir beide

 

       Gabriel, ich mö chte keinen Kontakt mehr mit dir. Weder per Mail noch persö nlich. Es tut mir leid, aber ich glaube, das ist fü r uns beide das Beste.

 

       Judith

 

       Es dauerte keine zwei Minuten, bis er reagierte.

       Von: gabriel23@sysop. net

 

       An: gwendolin@myweb. de

 

       Betr.: Wir beide

 

       Judith!!!

 

       Tu mir das nicht an! Wir haben uns so gut verstanden! Ich habe doch auch gemerkt, dass du etwas fü r mich empfindest, sonst hä ttest du mich nicht treffen wollen. Ich gebe ja zu, dass ich mich ein wenig seltsam verhalten habe. Ich bin eben sehr schü chtern. Und ich war mü de und aufgeregt. Hatte sogar ein wenig Angst. Aber ist das so schlimm? Oder hä ttest du es lieber, wenn ich einer von diesen hirnlosen Draufgä ngern wä re? Du und ich, wir beide haben so viel gemeinsam! Bitte, gib uns eine Chance! Du kannst doch dein Glü ck nicht mit Fü ß en treten. Ich flehe dich an, denk darü ber nach! Gib uns eine Chance! Wir beide haben sie verdient!

 

       Dein Gabriel

 

       Du kannst doch dein Glü ck nicht mit Fü ß en treten. Um Himmels willen, ein echter Psycho! Auch diese Mail versenkte sie im Papierkorb, den sie sofort leerte. Doch es beschlich sie die schreckliche Ahnung, dass es damit nicht getan war.

       Sie stand auf und ging hinü ber zu ihrem Bü cherregal, auf dem ihr Handy zum Aufladen lag. Nachdem sie es mit ihrer PIN wieder freigeschaltet hatte, wä hlte sie Kims Nummer.

       Es klingelte zweimal, dann wurde abgehoben. »Judith? «

       Sie hatte sich inzwischen wieder an den Rechner gesetzt und festgestellt, dass drei weitere Mails von Gabriel gekommen waren. »Sag, habt ihr heute Nachmittag schon was vor? «

       »Eigentlich nicht«, antwortete Kim.

       »Wollen wir alle zusammen ausgehen? «

       »Fä llt dir die Decke auf den Kopf? «, fragte Kim.

       »Genau«, sagte Judith und schob die neuen Mails ungeö ffnet in den Papierkorb. »Auß erdem habe ich keine Lust, auch nur einen Handschlag fü r die Schule zu tun. «

       »Geht uns auch so«, sagte Kim.

       »Bist du gerade bei Niels? «, fragte Judith.

       »Na, was denkst du denn? Oder meinst du etwa, meine Mutter wü rde sich darü ber freuen, dass ich einen Freund habe? «

       Kurzes Schweigen am anderen Ende der Leitung.

       »Was ist passiert? «, fragte Kim ernst.

       »Das erzä hle ich euch spä ter. «

       »Wo sollen wir uns treffen? «, fragte Kim.

       »Ich hä tte Lust, zum Lohrberg hochzufahren«, sagte Judith. »Ich packe ein paar Sachen zum Essen ein und ihr bringt die Geträ nke mit. Okay? «

       »Alles klar. Bis nachher. « Es knackte in der Leitung. Kim hatte aufgelegt.

        

 

       Frankfurt verlor sich im Dunst der feuchten Hitze. Der Himmel hatte sich milchig eingetrü bt, die gedä mpfte Sonne warf konturlose Schatten auf den braunen Rasen, der mit verbrannten Flecken ü bersä t war, wo die Leute einfach die glü henden Reste ihrer Grillkohle entsorgt hatten.

       »Das wird jedes Jahr schlimmer«, sagte Kim. »Eigentlich hab ich keine Lust mehr hierherzukommen. Der Park wird immer mehr zur Mü llhalde. «



  

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