Хелпикс

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       Er parkte seinen Wagen schrä g gegenü ber an einer Straß enecke, von wo aus er das Haus der Wagners gut beobachten konnte. Der Vater war Dozent fü r Wirtschaftsrecht an der Frankfurter Universitä t, die Mutter betrieb eine psychologische Praxis im Nordend. Die perfekte Kleinstfamilie. Wenn man davon absah, dass der Sohn etwas zu kurz kam. Jan musste als Kind viel allein gewesen sein. Auch jetzt stand kein Wagen in der Auffahrt.

       Um herauszufinden, ob jemand zu Hause war, rief er ü ber ein Prepaid-Handy ein Taxi an. Zehn Minuten spä ter hielt ein beiger Mercedes vor der Tü r. Der Fahrer stieg aus und klingelte an der Haustü r. Nichts. Er versuchte es noch einmal und schaute durch die Fenster hinein. Niemand ö ffnete ihm. Er ging zurü ck zu seinem Wagen und fuhr davon.

       Jetzt erst stieg Gabriel aus und nahm die kleine Tasche, die hinter ihm auf dem Rü cksitz lag. Dann erkundete er einen Fuß weg in der Nä he des Hauses, um herauszufinden, ob man von hinten in den Garten kam. Auch oder gerade wenn bei den Wagners niemand zu Hause war, wü rde ein wildfremder Mann, der sich an der Haustü r zu schaffen machte, jedem Nachbarn sofort auffallen.

       Ein ruhiger Fleck. Total langweilig. In manchen Gä rten wuchsen alte Obstbä ume, groß e Birken rauschten im Wind. Den schmalen Fuß weg sä umten hohe Hecken. Niemand konnte ihn von auß en sehen. Das kleine Gartentor stand weit offen. Sehr unvorsichtig.

       Er stieg die Kellertreppe hinunter und ö ffnete die Tasche, in der sich ein Einwegschutzanzug befand und mehrere Paar Latexhandschuhe, Ü berzieher fü r seine Schuhe und eine groß e Rolle Packband. Auß erdem hatte er einen kleinen Werkzeugkasten fü r das Schloss mitgebracht. Er zog die Schutzkleidung an, so wü rde er nicht die geringste Spur hinterlassen.

       Nach gerade mal fü nf Sekunden hatte er das Tü rschloss geknackt. Vorsichtig schloss er die Tü r hinter sich und lauschte. Alles still.

       Er befand sich im Wä schekeller, der so penibel aufgerä umt und sauber war, dass man auf dem Wä schetisch in der Ecke eine Operation am offenen Herzen hä tte durchfü hren kö nnen.

       Er stieg die Treppe hinauf und hielt oben ein weiteres Mal inne, um zu lauschen. Noch immer war alles still. Es roch nach Essen. Spaghetti bolognese, tippte Gabriel. Zuerst ging er hinauf in Jans Zimmer. Er benö tigte nicht viel: Haare aus dem Kamm, Schuhe und ein Stü ck getragene Unterwä sche.

       Die Haare fand er auf dem Kopfkissen, die Shorts am Fuß ende des ungemachten Bettes. Alle Funde verpackte er einzeln in kleine Plastiktü ten. Spä ter hä tte er nicht mehr sagen kö nnen, wie das Zimmer aussah, so sehr war er in seine Aufgabe vertieft. Er erinnerte sich nur an eine Gitarre in der Ecke und ein schmales Bü cherregal.

       Auf dem Weg nach unten machte er einen Abstecher in die Kü che. Dort fand er wie erhofft in der Spü le ein scharfes Messer, das neben einem benutzten Lö ffel und einer schmutzigen Gabel lag. Eine angebrochene Salami vertrocknete auf der Arbeitsplatte. Jans Mutter wü rde ganz bestimmt nicht begeistert sein, wenn sie sah, dass ihr Sohn Geschirr und Besteck noch nicht einmal in die Spü lmaschine gerä umt hatte. Er nahm das benutzte Messer vorsichtig an der Klinge und verstaute es in einem dritten Beutel.

       Jetzt hatte er alles, was er brauchte.

       Zü gig, aber ohne Hast eilte er in den Keller, trat hinaus, schloss die Tü r wieder hinter sich ab und entledigte sich seines Schutzanzuges. Einen zweiten hatte er noch im Kofferraum seines Autos. Den wü rde er spä ter brauchen.

       Zoey Schreiber wohnte in Seckbach, einen Ort weiter. Die Fahrt dauerte nur fü nf Minuten. Er stellte den Wagen so ab, dass er Zoeys Haus gut im Blick hatte. Dann wartete er. Ein Mountainbike stand vor der Haustü r. Es gehö rte Jan. Hatte es wohl furchtbar eilig, Zoey den Laufpass zu geben. Sie wü rde ihm bestimmt eine Szene machen. Das konnte dauern.

       Gabriel nahm sein Netbook aus dem Fuß raum des Beifahrersitzes. Tatsä chlich gab es in dieser Straß e einige ungesicherte WLAN-Netze. Er wä hlte das mit der stä rksten Sendeleistung und aktivierte einen Proxy. Ein Klick auf Skype und er sah, dass Judith online war. Er schaltete auf Grü n und wartete.

       Judith: Hallo.

 

       Er grinste.

       Gabriel: Auch hallo! Wie war dein Tag?

 

       Judith: Verwirrend.

 

       Gabriel: ???

 

       Judith: Ach, es gibt Probleme mit meinem Freund, von dem ich nicht weiß, ob er noch mein Freund ist.

 

       Er grinste noch breiter.

       Gabriel: Willst du darü ber sprechen?

 

       Es dauerte eine Weile, bis er Antwort erhielt.

       Judith: Nein, eher nicht.

 

       Scheiß e, fluchte er.

       Gabriel: Ich dachte, dass es vielleicht einfacher ist, mit jemandem darü ber zu reden, der etwas mehr Abstand hat. Die Erfahrung habe ich jedenfalls gemacht, als mich damals meine Freundin verlassen hat.

 

       Judith: Mit wem hast du darü ber gesprochen?

 

       Jetzt blitzschnell eine glaubwü rdige Antwort erfinden, dachte er, sonst schö pft sie am Ende noch Verdacht.

       Gabriel: Mit der Schwester eines Freundes. War gut, das Ganze auch mal aus der Sicht einer Frau zu betrachten. Ich hab zwar meine Freundin dann trotzdem nicht verstanden, aber dafü r war ich dann die nä chsten Jahre mit ebendieser Schwester zusammen.

 

       Falsch. Falsch! FALSCH. Das wä re ja gerade so, als wü rde er sich ihr als Ersatz anbieten.

       Judith: Na, dann ist ja alles am Ende gut ausgegangen fü r dich. : )

 

       Gabriel: So gesehen schon. Aber trotzdem habe ich am Anfang gelitten wie ein Hund.

 

       Pause.

       Judith: Ehrlich gesagt, vermisse ich meinen Freund gar nicht besonders. Meinen Exfreund.

 

       Gabriel schloss erleichtert die Augen und lehnte sich zurü ck.

       Judith: Trotzdem will ich ihm vielleicht noch eine Chance geben.

 

       Sein Herz setzte fü r einen Moment aus.

       Gabriel: Klingt ziemlich groß zü gig.

 

       Judith: Nicht dumm?

 

       Gabriel: Nein, ü berhaupt nicht.

 

       Judith: Ich bin auch ein bisschen mit schuld daran, dass es so weit gekommen ist. Ich glaube, ich habe ihn nicht wirklich gut behandelt.

 

       Gabriel: Dann hat er auf jeden Fall eine zweite Chance verdient.

 

       Von wegen …

       Gabriel blickte auf und sah, wie Jan Zoeys Haus verließ. Er schloss sein Fahrrad auf, schwang sich auf den Sattel und fuhr davon.

       Gabriel: Moment mal, ich hab gerade noch was zu erledigen. Hast du nachher Zeit?

 

       Judith: Sicher. Ich muss sowieso Sachen fü r die Schule aufarbeiten, bin also fü r jede Ablenkung dankbar.

 

       Gabriel: Dann bis nachher?

 

       Judith: Gerne.

 

       Er klappte das Netbook zusammen, schob es wieder zurü ck in seine Tasche und versteckte es diesmal unter dem Beifahrersitz. Dann stieg er aus und holte die Tasche mit den kleinen Tü ten und einen frischen Anzug aus dem Kofferraum.

       Judith konnte sich einfach nicht auf diesen bescheuerten Zitronensä urezyklus konzentrieren; er war fü r sie so was wie eine Gleichung mit mehreren Unbekannten. Und ausgerechnet der Zitronensä urezyklus war dieses Jahr in Bio ein Riesenthema.

       Immer wieder schielte sie auf ihren Skype-Account, doch Gabriel blieb trotz seines Versprechens offline. Erneut ging sie das alte Protokoll durch, um irgendeinen Hinweis darauf zu finden, ob sie etwas Falsches gesagt, ihn irgendwie vor den Kopf gestoß en hatte. Aber sie fand beim besten Willen nichts, aus dem man eine Beleidigung herauslesen konnte.

       Wieder ü berprü fte sie, ob er online war, und ö ffnete das E-Mail-Programm. Nirgendwo konnte sie ein Lebenszeichen von ihm entdecken.

       Zerberus, der die ganze Zeit auf ihrem Bett gelegen hatte, hob winselnd den Kopf, als ob er Judiths Unruhe spü rte.

       »Nein, Dicker, das hat wirklich nichts mit dir zu tun«, sagte sie leise, ohne den Blick vom Monitor zu wenden. Sie seufzte und aktualisierte noch einmal den Nachrichteneingang.

       Kim meckerte und forderte Judith dazu auf, sich endlich bei ihr zu melden. Sie mache sich Sorgen und wolle wissen, wie es Judith gehe. Ob sie sich tatsä chlich mit Jan getroffen habe. Und wenn ja, wie das Treffen denn ausgegangen sei.

       Judith bestä tigte Kims Vermutungen, gab aber deutlich zu verstehen, dass sie im Moment nicht darü ber reden wolle. Danach ö ffnete sie das Skype-Fenster. Keine Spur von Gabriel.

       Da kam noch eine Mail von Kim – mit dem Vorschlag, am Abend ins Kino zu gehen. Judith war hin und her gerissen. Einerseits hatte sie Lust auf ein wenig Abwechslung. Andererseits hatte sie keine Lust, das fü nfte Rad am Wagen zu spielen. Also sagte sie ab mit der Begrü ndung, sie mü sse fü r die Schule lernen. Warum meldete sich Gabriel bloß nicht?

       Nervö s trommelte sie mit den Fingern auf der Tischplatte und stand dann auf. Ihr Magen knurrte. Sie ging hinunter in die Kü che, machte sich ein Kä sebrot, schnitt sich einen Apfel klein und klemmte sich einen Karton Mangosaft unter den Arm. Schon auf der Tü rschwelle zu ihrem Zimmer sah sie die grü ne Anwesenheitsanzeige. Gabriel war online.

       Judith steckte sich ein Stü ck Apfel in den Mund und ö ffnete das Chat-Fenster.

       Gabriel: Tut mir leid, wenn es etwas lä nger gedauert hat. Von Richthofen hatte einen Rü ckfall in Sachen Blasenschwä che. Und da ich heute Abend noch einen Kunden erwarte, wollte ich erst einmal grü ndlich sauber machen.

 

       Judith: Kein Problem. Ich war auch beschä ftigt.

 

       Wie leicht ihr das Lü gen fiel.

       Gabriel: Wie kommst du mit dem Lernen voran?

 

       Wahnsinn. Konnte der Typ etwa Gedanken gelesen?

       Judith: Ganz schö n vertrackt. Biologie. Zitronensä urezyklus. Ich hab nicht den blassesten Schimmer.

 

       Gabriel: Ah, die Umwandlung von ADP in ATP und wieder zurü ck. Kenne ich. Habe ich auch gehasst.

 

       Sie zö gerte einen Moment.

       Judith: Erzä hl mir mehr von dir.

 

       Gabriel: Was willst du wissen?

 

       Judith: Wo bist du geboren? Wo lebst du?

 

       Gabriel: Ich komme aus Frankfurt und da wohne ich immer noch.

 

       Er lebte in derselben Stadt!

       Judith: Ich auch. In Preungesheim.

 

       Gabriel: Du bist sehr freizü gig mit deinen Informationen.

 

       Judith: So freizü gig auch wieder nicht. Du kennst meinen Nachnamen nicht, auch nicht meine Adresse. Und ich glaube, in Preungesheim wohnen noch ein paar Leute mehr.

 

       Gabriel: Stimmt. Ich lebe in Sachsenhausen. In der Nä he der Schweizer Straß e.

 

       Judith: Wow! Teures Pflaster.

 

       Gabriel: Ja, und eine nicht gerade hundefreundliche Gegend. Das hab ich schon zu spü ren bekommen. Aber ich wohne allein und brauche nicht viel Platz. Deshalb ist mein Apartment einigermaß en bezahlbar.

 

       Judith biss von ihrem Brot ab. Eigentlich hatte sie keine Lust, sich mit Gabriel ü ber die Frankfurter Lebenshaltungskosten zu unterhalten. Sie trank einen Schluck Saft und ü berlegte kurz.

       Judith: Wie sieht denn dein Tag so aus?

 

       Gabriel: Wie gesagt, der hat sich in der letzten Zeit geä ndert. Frü her habe ich ausschlafen kö nnen, aber spä testens morgens um acht fordert von Richthofen sein Recht ein. Dann muss ich mit ihm raus. Auf dem Rü ckweg hole ich dann Brö tchen und frü hstü cke erst mal. Nicht viel. Es gibt Butter und Marmelade, dazu einen Kaffee. Anschließ end kü mmere ich mich um meine E-Mails, telefoniere ein wenig und arbeite. Mittags lasse ich mir meist etwas kommen. Ich kann nicht kochen, habe aber auch ehrlich gesagt keine Lust, mich an den Herd zu stellen. Dann mache ich ein Mittagsschlä fchen – neidisch geworden? – und arbeite weiter, bis sich von Richthofen ein zweites Mal meldet. Dann machen wir einen ausgedehnten Spaziergang, unten am Main entlang. Abendessen, arbeiten und dann ins Bett. Das ist es.

 

       Judith: Klingt nicht gerade abwechslungsreich.

 

       Gabriel: Nein, ist es auch nicht.

 

       Judith: Keine Freunde?

 

       Gabriel: Nein, nicht sehr viele. Ehrlich gesagt bin ich auch kein Herdentier. Auf Partys hab ich immer schon nach zehn Minuten einen Fluchtreflex. Ab und zu verabrede ich mich mit ein paar Freunden. Bin so ganz zufrieden. Ich bin mein eigener Herr und kann tun und lassen, was ich will.

 

       Judiths Finger schwebten einen Moment ü ber der Tastatur.

       Judith: Wollen wir uns mal treffen?

 

       Nach ein paar Sekunden kam die Antwort.

       Gabriel: Vielleicht. Mal sehen.

 

       Judith spü rte, wie dieser kleine Rausch, der sie erfasst hatte, plö tzlich wieder verflog. Sie hatte das Gefü hl, dass sie sich gerade aufgedrä ngt hatte.

       Judith: Muss nicht sein.

 

       Gabriel: Entschuldigung, es hat wirklich nichts mit dir zu tun. Ich bin nur unsicher im Umgang mit Fremden.

 

       Judith: Das Gefü hl habe ich aber gerade nicht.

 

       Gabriel: Chatten ist etwas anderes. Da gibt’s noch etwas Abstand. Am liebsten maile ich, dann kann ich mir die Worte genauer zurechtlegen.

 

       Eine Pause.

       Gabriel: Also, drü cke ich jetzt einmal den Resetknopf: Ja, ich wü rde mich gerne mit dir treffen. Aber erwarte nicht zu viel von mir.

 

       Judith: Nur dass wir uns nicht falsch verstehen. Ich will nichts von dir.

 

       Gabriel: Aber?

 

       Judith: Ich finde dich interessant. Du kannst dich gut ausdrü cken. Und du scheinst nicht auf den Kopf gefallen zu sein.

 

       Gabriel: Danke.

 

       Judith fluchte leise. Was war das denn fü r ein Kompliment? Du bist nicht auf den Kopf gefallen! Herr im Himmel, hilf!

       Judith: Damit meinte ich nur, dass man sich sehr gut mit dir unterhalten kann. Jedenfalls habe ich mich mit dir bis jetzt noch nicht gelangweilt.

 

       Sie hatte das beunruhigende Gefü hl, sich gerade um Kopf und Kragen zu schreiben.

       Judith: Tut mir leid. Irgendwie tippe ich hier gerade ziemlichen Mist.

 

       Gabriel: Nein, tust du nicht. Du schreibst sehr nett. Und deine Komplimente gefallen mir.

 

       Judith: Im Komplimentemachen war ich noch nie gut.

 

       Gabriel: Du bist ehrlich, offen und sehr selbstbewusst. Das gefä llt mir.

 

       Judith lä chelte unwillkü rlich. Von wegen herrschsü chtig, dachte sie. Wenn Jan das lesen kö nnte … Sie wollte gerade eine Antwort tippen, als das Festnetztelefon klingelte.

       Judith: Moment. Bin gleich wieder da.

 

       Gabriel: Kein Problem.

 

       Sie ä nderte ihren Status auf abwesend und lief hinunter in den Flur, wo das Telefon auf der Eingangskommode lag. Kurz bevor der Anrufbeantworter anspringen konnte, nahm sie das Gesprä ch an.

       »Ja? «

       »Judith? « Es war Kim. Ihre Stimme zitterte.

       »Was ist los? « Judith spü rte, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte. So aufgebracht hatte sie ihre Freundin noch nie gehö rt. Sie hö rte ein Schluchzen.

       »Zoey ist tot. «

       Judiths Magen verwandelte sich in einen Klumpen Eis. Sie hat sich umgebracht, schoss es ihr durch den Kopf. Jan hat Schluss mit ihr gemacht und diese blö de Kuh hat ihre Drohung in die Tat umgesetzt.

       »Scheiß e«, sagte sie nur.

       »Ja. Scheiß e«, brachte Kim mü hsam hervor. »Und die Polizei hat Jan festgenommen. «

       Jetzt musste sich Judith auf die Treppe setzen. »Was? «, hauchte sie. Ihr war schwindelig. »Wieso das denn? «

       »Zoey wurde ermordet. Jan soll es getan haben. « Kim begann laut zu schluchzen. Judith hö rte, wie Niels im Hintergrund versuchte sie zu beruhigen.

       »Das ist nicht wahr«, flü sterte Judith.

       »Jan war heute bei ihr, so viel ist sicher. Mehr weiß ich aber auch nicht. «

       Judith ließ das Telefon sinken. Ihr Gesicht fü hlte sich kalt und taub an. Sie spü rte, wie ihre Augen brannten und sich mit Trä nen fü llten. Ihr Kopf war auf einmal ein einziges, groß es Vakuum. Weit entfernt hö rte sie Kims Stimme aus dem Telefon.

       »Ich fahre hin«, sagte Judith.

       »Wohin? «, fragte Kim verwirrt. »Zu Zoeys Haus? Da sind wir gerade. Die Polizei hat alles abgesperrt. Die Presse ist da und hat auch schon versucht mit uns zu sprechen. «

       »Dann fahre ich zu Jans Mutter«, sagte Judith entnervt.

       Kim wollte etwas sagen, aber jemand nahm ihr das Telefon aus der Hand.

       »Judith? « Es war Niels. »Wir kommen zu dir. «

       In ihrem Kopf fuhren die Gedanken Achterbahn. Sie brachte kein Wort heraus.

       »Kim hat gesagt, du willst zu Jans Mutter. «

       Judith schwieg noch immer.

       »Lass das lieber«, sagte Niels beschwö rend. »Du weiß t, dass sie dich nie hat leiden kö nnen. Die Polizei ist gerade bei ihr. Wenn du verstehst, was ich meine. «

       Judith wischte sich mit zitternden Fingern eine Trä ne aus dem Auge. »Nein, tue ich nicht. «

       Niels seufzte. »Irgend so ein Psychoarzt spricht mit ihr. Ich glaube nicht, dass sie dich jetzt sehen mö chte. «

       Niels mochte sonst zwar fast alles auf die leichte Schulter nehmen, aber er war nicht dumm. Wenn es darauf ankam, war er der Einzige, der einen kü hlen Kopf bewahrte.

       »Wir kommen bei dir vorbei, okay? «, sagte er.

       »In Ordnung. Danke«, sagte Judith und fü hlte sich auf einmal erleichtert.

       »In fü nf Minuten sind wir da. «

       Judith legte auf.

       Verbrechen kannte Judith nur aus der Zeitung und aus dem Fernsehen. Niels wurde einmal wegen Ladendiebstahls erwischt, aber das war schon zwei Jahre her. Und zwei Tafeln Schokolade zu klauen, das war Kinderkram. Aber Mord. In ihrem Freundeskreis! Das konnte einfach nicht wahr sein. Und dann auch noch Jan. Jemand, mit dem man nicht mal richtig streiten konnte.

       Judith saß noch immer auf der Treppe, das Telefon in der Hand, als es an der Haustü r klingelte. Sie stand auf und ö ffnete. Kim fiel ihr um den Hals. Niels war kreideweiß im Gesicht.

       »Kommt«, sagte Judith. »Wir gehen in die Kü che. «

       Sie setzten sich an den groß en Tisch. Judith schaltete die Espressomaschine ein und holte fü r jeden eine Tasse aus dem Schrank. Zerberus, der das Klingeln gehö rt hatte, kam die Treppe heruntergepoltert und blieb verwirrt auf der Schwelle stehen, als er die gedrü ckte Stimmung bemerkte. Kim streckte ihre Hand aus und Zerberus ließ sich von ihr streicheln. Als er sie winselnd mit seiner feuchten Nase anstupste, begann sie wieder zu weinen.

       Judith wollte sich gerade zu ihren Freunden setzen, als die Haustü r aufgeschlossen wurde.

       »Wir sind wieder da! «, hö rten sie Judith Mutter rufen.

       »Ich bin hier«, sagte Judith leise. Sie hatte ihre Stimme noch immer nicht im Griff.

       Marion sah zur Tü r hinein, ein wenig atemlos und verschwitzt. Der Regen hatte aufgehö rt und die Sonne schien wieder unerbittlich aus einem wolkenlosen Himmel. Ihr Lä cheln erstarb, als sie in das verweinte Gesicht der beiden Mä dchen sah.

       »Um Gottes willen, was ist passiert? «

       »Jan …« Mehr brachte Judith nicht heraus.

       »Hat er einen Unfall gehabt? «, fragte ihre Mutter erschrocken.

       »Man hat ihn festgenommen. Er soll ein Mä dchen aus unserer Schule ermordet haben«, sagte Niels.

       Judiths Mutter sah Robert an, der nun ebenfalls die Kü che betreten hatte. Er runzelte die Stirn.

       »Wisst ihr Genaueres? «, fragte er.

       Niels schü ttelte den Kopf. »Nur Gerü chte. Dass es heute am frü hen Nachmittag passiert sein soll und dass die Mutter die Leiche gefunden hat. «

       Judiths Mutter brauchte einen Moment, bis sie sich gesammelt hatte, und wandte sich an ihren Freund: »Kannst du da irgendetwas herausfinden? «

       Robert schwieg und runzelte die Stirn. Schließ lich seufzte er und holte aus seiner Hosentasche ein Blackberry hervor. Er drü ckte auf eine Kurzwahltaste und verließ die Kü che. Niels blickte ihm verwirrt nach.

       Marion setzte sich neben Judith und legte einen Arm um ihre Schultern. »Robert arbeitet fü r die Staatsanwaltschaft«, sagte sie mit einem Blick zu Niels hinü ber.

       Robert erschien in der Tü r. Alle Augen waren fragend auf ihn gerichtet.

       »Sieht nicht gut aus fü r Jan«, sagte er und setzte sich zu den anderen an den Tisch. »Er sitzt jetzt in U-Haft und wartet darauf, dem Ermittlungsrichter vorgefü hrt zu werden. Es besteht dringender Mordverdacht. «

       »Kann ein Selbstmord wirklich ausgeschlossen werden? «, fragte Judith.

       »Wenn man in Betracht zieht, wie das Mä dchen zu Tode gekommen ist? Ja, eigentlich schon. Wie kommst du ü berhaupt darauf, dass Zoey Selbstmord begangen haben kö nnte? «, fragte Robert.

       »Jan und ich, wir haben uns gestern nach der Schule getroffen und lange miteinander geredet. « Sie stand auf, zog das Kuvert mit den Fotos hervor, das noch immer zwischen den Kochbü chern steckte, und reichte es Robert. Seine Augenlider zuckten kurz, als er die Bilder sah.

       »Wo hast du die her? «

       »Sie lagen neulich im Briefkasten. Ich weiß nicht, wer sie gemacht hat. «

       Robert blickte sie schweigend an.

       »Ich glaube, Jan bereut, dass er mich mit Zoey betrogen hat«, fuhr Judith fort. »Irgendwie lief es zwischen den beiden nicht besonders gut. Jan wirkte verzweifelt. Er wollte wohl Schluss mit ihr machen. Aber Zoey hat ihm damit gedroht, sich umzubringen. « Sie strich sich nervö s das Haar aus dem Gesicht.

       Robert holte tief Luft und lehnte sich zurü ck. »Ich darf nicht viel dazu sagen, aber alles deutet darauf hin, dass er aus Vorsatz gehandelt hat. «

       »Wirst du den Fall ü bernehmen? «, wollte Judiths Mutter wissen, die noch immer ihren Arm um die Schultern ihrer Tochter gelegt hatte.

       »Nein. Ganz bestimmt nicht. «

       »Wegen mir? «, fragte Marion.

       »Wegen deiner Tochter. Dass wir hier sitzen und darü ber reden, kann mir schon einen Heidenä rger einbrocken. «

       »Wird die Polizei auch Judith befragen? «, fragte Niels.

       »Mit Sicherheit. Und ich mö chte nicht, dass Judith wegen mir lü gen muss. Was ich hier am Tisch gesagt habe, steht ohnehin morgen in der Zeitung. «

       Schweigen machte sich in der Kü che breit.

        

 

       Robert sollte Recht behalten. Die Zeitungen waren voll von Berichten ü ber den mutmaß lichen Mord. Ein besonders sensationslü sternes Blatt wartete mit einigen unappetitlichen Details auf, da es den Tathergang in allen Einzelheiten beschrieb. Offenbar war Zoey erstochen worden. Und der Autor des Artikels schien von einem heimtü ckisch geplanten Mord auszugehen.

       Zoeys Mutter hatte beim Anblick ihrer toten Tochter einen so heftigen Zusammenbruch erlitten, dass man sie in eine Nervenklinik eingewiesen hatte.

       Die Reporter hatten versucht, auch Jans Mutter zu interviewen. Ein Foto zeigte sie beim Verlassen ihres Hauses; ihre Haltung verriet, wie sehr sie das Leid niederdrü ckte. Obwohl ihre Augenpartie mit einem schwarzen Balken unkenntlich gemacht worden war, erkannte Judith sie sofort.

       Angewidert hatte ihre Mutter die Zeitung in den Mü ll geworfen. Beide wussten: Es war nur eine Frage der Zeit, bis Polizei und Presse an ihrer Tü r klingeln wü rden.

       Judith wä re heute am liebsten zu Hause geblieben, ihre Mutter hä tte ihr sogar eine Entschuldigung geschrieben. Doch was hä tte das gebracht? Sie hä tte nur sinnlos rumgegrü belt und sich selbst die Schuld an der Tragö die gegeben. Nein, sie musste raus. In die Schule gehen. Sich zeigen. Sonst wü rde sie noch wahnsinnig werden.

        

 

       Als sie das Schultor erreichte, bereute sie ihre Entscheidung schon beinahe wieder. Denn dort drä ngten sich Reporter verschiedener Zeitungen und sogar einige Fernsehkameras waren aufgebaut wie bei einem wichtigen politischen Ereignis. Judith zog den Kopf ein, um sich mö glichst klein zu machen, und eilte zum Seiteneingang bei der Sporthalle. Die Einzigen, die noch nicht Bescheid wussten, waren einige kichernde Fü nftklä ssler, die von einem Lehrer mit leiser Stimme zur Ordnung gerufen wurden.

       Judith spü rte, wie sich ihr Kö rper immer mehr in Eis verwandelte. Als sie sich auf den Weg zum Aufenthaltsraum der Oberstufe machte, wo Kim mit Niels auf sie wartete, verknotete sich ihr Magen zu einer kalten Schlange.

       Als sie den Raum betrat, verstummte das Gewirr flü sternder Stimmen sofort und alle Augen richteten sich auf sie. Kim, die bei der Tü r auf Judith gewartet hatte, packte ihre Freundin am Arm, drä ngte sie aus dem Raum und zog sie unter einen Treppenaufgang. Sie war blass und hatte verweinte Augen. Niels kam hinterher. Auch er war bleich, doch blickte er so grimmig drein, als wollte er den Rest der Schule warnen: Legt euch bloß nicht mit uns an.

       »Was ist hier los? « Judiths Stimme zitterte.

       »Hier machen die wildesten Gerü chte die Runde«, sagte Kim. »Jan soll die Tat aus Liebeskummer begangen haben. Und das ist noch die harmloseste Variante. Andere erzä hlen sich hinter vorgehaltener Hand, dass du ihn dazu angestiftet haben kö nntest. Sozusagen aus spä ter Rache. Und als Liebesbeweis. «

       Judith riss die Augen auf. »Wie kommen die denn auf so einen Wahnsinn! « Sie zitterte am ganzen Kö rper. »Oder traut ihr mir allen Ernstes so was zu? «, fragte sie und blickte Niels dabei flehend an.

       »Spinnst du? Natü rlich nicht. «

       »Danke«, sagte Judith, nun wieder in halbsarkastischem Ton. Sie holte tief Luft und strich sich ü ber die Stirn. »Im Ernst. Ich meine das wirklich so. Danke. Ohne euch …« Sie suchte nach Worten, die nicht schal klangen.

       Kim nahm sie in den Arm und schwieg.

       »Wir mü ssen gehen«, sagte Niels, als der Gong zum ersten Mal ertö nte. »Bist du sicher, dass du den Tag ü berstehst? «

       Judith schü ttelte langsam den Kopf. »Da bin ich mir nicht so sicher. Aber jetzt bin ich hier. Und werde nicht flü chten. «

       »Es wä re keine Flucht«, sagte Kim.

       »Doch, fü r mich schon. Was Jan mir angetan hat, ist schlimm genug. Und wenn jemand glaubt, dass Jan Zoey getö tet hat, weil er hoffte, auf diese Weise mit mir zusammenzukommen, dann muss ich mich dem stellen. «

       Sie gingen hinauf in den zweiten Stock, zum Biologie-Kursraum. Judith spü rte, wie sich die Blicke ihrer Mitschü ler in ihren Rü cken bohrten. Sie hö rte das Getuschel und fü hlte die Feindseligkeit der anderen. Sie biss die Zä hne zusammen, drü ckte den Rü cken durch und zwang sich, jedem, der ihr begegnete, in die Augen zu sehen. Als sie sich an ihren Tisch in der letzten Reihe beim Fenster setzte, rief Jans leerer Platz neben dem ihren ein Gefü hl verzweifelter Beklommenheit hervor. Einige aus dem Kurs drehten sich neugierig nach ihr um, andere schauten demonstrativ aus dem Fenster oder suchten etwas in ihren Taschen. Kim und Niels, die eigentlich weiter vorne saß en, zogen mit ihren Stü hlen nach hinten um und nahmen Judith in die Mitte, als hä tten sie immer schon hier gesessen. Judith biss sich auf die Unterlippe, um nicht wieder in Trä nen auszubrechen.



  

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