Хелпикс

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       Von: gabriel23@sysop. net

 

       An: gwendolin@myweb. de

 

       Betr.: Stubenrein

 

       Ich habe ein Handelsprogramm fü r Bö rsengeschä fte geschrieben. Und verkauft, das war das Allerbeste. Seitdem muss ich morgens nicht mehr um sechs Uhr aufstehen. Zumindest nicht mehr, um zur Arbeit zu fahren. Stattdessen laufe ich jetzt immer zu dieser Zeit durch den Park.

 

       Gabriel

 

       Von: gwendolin@myweb. de

 

       An: gabriel23@sysop. net

 

       Betr.: Stubenrein

 

       Du arbeitest also gar nicht mehr? Nicht schlecht. Ich hoffe, dass du immer einen von diesen kleinen schwarzen Plastikbeuteln bei dir hast, wenn du mit deinem Hund drauß en unterwegs bist.

 

       Liebe Grü ß e

 

       Judith

 

       Von: gabriel23@sysop. net

 

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       Betr.: Stubenrein

 

       Liebe Judith!

 

       Natü rlich arbeite ich noch! Meinst du etwa, ich wä re schon in Rente? Ich bin doch erst neunzehn. Nein, das Programm muss stä ndig ü berarbeitet und verbessert werden. Die Leute wollen Updates haben. Aber ich halte die Sache bewusst klein, weil ich niemanden anstellen mö chte. Ich bin gerne mein eigener Herr. Und ja, natü rlich nehme ich diese kleinen Plastikbeutel mit. Immerhin bin ich ein verantwortungsbewusster Hundebesitzer. Und du glaubst gar nicht, mit wem man so alles in Kontakt kommt, wenn man einen Hund hat.

 

       Liebe Grü ß e

 

       Gabriel

 

       Von: gwendolin@myweb. de

 

       An: gabriel23@sysop. net

 

       Betr.: Stubenrein

 

       Doch, das kann ich mir gut vorstellen. Aber die meisten Herrschaften, die ihren Hund spazieren fü hren, sind nicht mein Fall. Ist dir schon mal aufgefallen, dass viele Hunde ihrem Herrchen ä hneln? Ganz im Ernst. Das hab ich frü her nie geglaubt, aber es stimmt.

 

       Liebe Grü ß e

 

       Judith

 

       Von: gabriel23@sysop. net

 

       An: gwendolin@myweb. de

 

       Betr.: Stubenrein

 

       Dann frage ich mich, wie du aussiehst, meine liebe Judith. Irgendwie kann ich mir das Gesicht eines Beagles nur schlecht bei einer Frau vorstellen. Falls du verstehst, was ich meine. Und ganz ehrlich: Wenn ich Ä hnlichkeit mit einem Hund hä tte, dann wohl eher mit einem Border Collie. Und das auch nur vom Charakter her. Ich bin ein Arbeitstier. Wollen wir chatten? Hast du Lust?

 

       Judith runzelte die Stirn und lä chelte. Ihr gefiel Gabriels lockere Art und seine Selbstironie. Auß erdem hatte sie etwas Zeit, und sie wollte nicht wieder mit Kim telefonieren, zumal ihre Freundin ohnehin bei Niels war. »Ach, was soll’s«, murmelte sie. Sie hatte Lust auf eine Unterhaltung und Gabriel schien in diesem Moment der beste Partner fü r einen unverbindlichen Plausch zu sein.

       Von: gwendolin@myweb. de

 

       An: gabriel23@sysop. net

 

       Betr.: Stubenrein

 

       Ich habe einen Skype-Account. Schick mir einfach eine Anfrage.

 

       Sie drü ckte auf das blaue Icon und Skype fuhr mit diesem seltsam seufzenden Ton hoch. Es dauerte keine Minute und die Anfrage traf ein.

       Judith: Musst du nicht arbeiten?

 

       Gabriel: Doch, eigentlich schon. Aber ich lass mich gerne ablenken.

 

       Judith: Ich kann aber nicht lange chatten. Muss noch etwas fü r die Schule erledigen. Das Abitur steht an.

 

       Gabriel: Panik?

 

       Judith: Nicht unbedingt. Ich wü rde es erwartungsfrohe Spannung nennen.

 

       Gabriel: So schlimm?

 

       Judith: Schlimmer.

 

       Gabriel: Du Arme. Aber glaub mir, wenn du’s erst mal hinter dir hast, wirst du dich erleichtert fü hlen.

 

       Judith: Das hoffe ich. Zu irgendwas muss die ganze Plackerei ja gut gewesen sein.

 

       Gabriel: Schon eine Vorstellung, was du machen willst, wenn du fertig bist?

 

       Judith: Nein, nicht unbedingt. Vielleicht fahre ich erst noch mal in Urlaub, keine Ahnung.

 

       Gabriel: So eine Art Sabbatical.

 

       Judith: Ja, ich glaube, so nennt man das. Ich habe ein bisschen was gespart. Mal sehen, wo es hingeht.

 

       Gabriel: Eine gute Idee. Hä tte ich vielleicht damals auch machen sollen.

 

       Judith: Warum? Macht dir das Programmieren denn keinen Spaß?

 

       Gabriel: Na ja, ich will mich nicht beklagen. Finanziell bin ich abgesichert, aber ich wü rde mir auch gerne mal eine Auszeit gö nnen.

 

       Judith: Dann tu es doch. Wer hindert dich daran?

 

       Gabriel: Ich mich selbst. Ich kann nicht Nein sagen. Was meinen Job angeht, bin ich fü r die nä chsten zwei Jahre ziemlich ausgelastet.

 

       Judith: Das tut mir leid.

 

       Gabriel: Ach, mein Mitleid fü r mich selbst hä lt sich in Grenzen.

 

       Es trat eine kurze Pause ein, die Judith ein wenig nervö s machte. Sie wusste nicht, was sie schreiben sollte. Eigentlich chattete sie ungern, und wenn, dann auch nur mit Leuten, die sie gut kannte. Umso erstaunlicher war es, wie vertraut der Ton zwischen Gabriel und ihr in so kurzer Zeit geworden war.

       Gabriel: Ich glaube, ich muss etwas tun. War schö n mit dir.

 

       Sie zö gerte einen Moment, dann tippte sie:

       Judith: Das kö nnen wir gerne wiederholen.

 

       Gabriel: Dann werde ich Ausschau nach dir erhalten. Einen schö nen Tag noch. Und grü ß mir deinen Hund.

 

       Judith: Der Gruß geht selbstverstä ndlich zurü ck an von Richthofen.

 

       Gabriel: Bis dann.

 

       Judith: Bis dann.

 

       Gabriel ging offline und Judith lehnte sich ein wenig benommen in ihrem Stuhl zurü ck. Was zum Teufel war da gerade geschehen? Sie hatte mit einem wildfremden Typ gechattet und es genossen. Gabriel schien viel selbstbewusster als Jan – unabhä ngig, ruhig und locker. Er konnte ü ber sich selbst lachen, gab seine Schwä chen offen zu, ohne dass er sich dafü r schä mte.

       Judith atmete langsam aus und strich sich die roten Locken aus der Stirn. Wo war eigentlich das Problem? Sie hatte sich von Jan getrennt und konnte tun und lassen, was sie wollte. Sie hatte nichts zu verlieren. Gabriel wusste nicht, wer sie war, kannte sie nur aus den wenigen Mails und dem Chat, den sie gerade gefü hrt hatten. So gesehen stand sie auf der sicheren Seite. Judith ü berflog noch mal den Wortwechsel. Schade, hä tte gut noch weitergehen kö nnen. Sie spü rte ein leichtes Kribbeln im Bauch.

        

 

       Sie ist an einem Dienstag gestorben. Man lä sst ihn nicht zu ihr. Der Anblick sei nichts fü r einen Jungen von zwö lf Jahren, sagt sein Vater in jenem kalten Ton, der keinen Widerspruch duldet.

       Sie sitzen in der kleinen Aussegnungshalle. Der Vater trä gt einen Anzug, der ihm viel zu klein ist. Das graue Jackett spannt ü ber dem Bauch, die schwarze Krawatte ist zu kurz und nachlä ssig gebunden. Schweiß rinnt ihm ü ber die gerö teten, grobporigen Wangen. Es riecht so stark nach Rasierwasser, dass dem Jungen schlecht wird.

 

       Auf dem Eichensarg liegt ein Gebinde aus weiß en Rosen, davor ein Kranz mit einer Schleife: »In ewigem Angedenken, Walter und Daniel. « Bis auf den Beerdigungsunternehmer und einige ä ltere Frauen, die wie Totenkrä hen in der letzten Reihe sitzen, ist die kalte Halle leer. Der Pfarrer wirkt mü de. Seine Ansprache klingt wie einstudiert.

 

       Der Junge war vorher noch nie bei einer Beerdigung. Er wü rde gerne die Hand seines Vaters nehmen, doch der hä lt die ganze Zeit die Arme vor der Brust verschrä nkt und starrt auf seine Fü ß e.

 

       Es lä uft Orgelmusik vom Band, die groß en Panelfenster werden beiseitegeschoben und sechs Mä nner, die wie Zugschaffner aussehen, rollen den Sarg auf einem ungeschmü ckten schwarzen Wagen ü ber einen Kiesweg zum offenen Grab.

 

       Als der Junge vor der Grube steht und der Sarg hinabgelassen wird, kann er endlich weinen. Der Vater steht stumm neben ihm. Er legt nicht einmal die Hand auf die Schulter des Jungen. Er dreht sich einfach um und geht. Der Kies knirscht unter seinen Schuhen.

 

       Der Junge sieht ihm nach, schaut ins Grab und wischt sich ü ber die Augen. Zwei Namen stehen auf dem Holzkreuz. Der eine ist der Name seiner Mutter. Den anderen kennt er nicht, obwohl sie denselben Nachnamen haben. Doch er erinnert ihn an

 

       Rot.

       Warmes Rot.

        

 

       Gabriel ö ffnete die schwere, hö lzerne Haustü r und trat hinaus in die Abenddä mmerung. Seine Finger suchten in den weiten Taschen seiner Hose nach Zigaretten und Feuerzeug. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, mit dem Rauchen aufzuhö ren. Zwei Schachteln am Tag konnte er sich schlichtweg nicht leisten. Und er kannte sich. Vielleicht eine Woche lang wü rde er sich auf drei Zigaretten am Tag beschrä nken kö nnen, dann wü rde er im Nu wieder sein altes Pensum erreichen. Aber das war ihm jetzt egal. Er musste um jeden Preis diese schreckliche Anspannung lö sen, und am einfachsten gelang das mit alten Gewohnheiten. So ungesund sie auch sein mochten.

       Gabriel schlenderte den Weg hinunter zu dem groß en, schmiedeeisernen Tor, das rostig und schief in den Angeln hing und seit Jahren nicht mehr geschlossen worden war. Efeu und wilder Wein rankten sich um die Pfeiler, von denen der Putz abgeblä ttert war, sodass die roten Backsteine zu sehen waren. Zwischen wild wucherndem Brombeergestrü pp rostete ein alter Heuwender vor sich hin. Gabriel hasste das Haus, in dem er lebte. Zu viele ungute Erinnerungen, zu viele bö se Geister aus der Vergangenheit umgaben ihn hier. Frü her war alles einmal ein Bauernhof gewesen. Die ungenutzte Scheune und die Stä lle gab es noch. So viele schreckliche Dinge waren hier geschehen. Aber er hatte es einfach nicht ü bers Herz bringen kö nnen, diesen Teil seiner Vergangenheit zu verkaufen. Denn diese Vergangenheit hatte ihn zu dem gemacht, was er heute war. Und darauf war Gabriel stolz.

       Ich habe mich nicht brechen lassen.

       Ich bin stark.

       Und bald werde ich nicht mehr alleine sein.

       Alles verlief nach Plan. Er konnte beginnen, das Haus fü r sie herzurichten. Es wü rde ihr hier gefallen, dessen war er sich absolut sicher. Sie beide wü rden zusammen ihre eigene Welt erschaffen. Eine Welt, in der sie einander genug sein wü rden. Sie wü rde im Glanz seiner Liebe erblü hen wie eine Blume, die den Sommer herbeisehnt.

       Es wü rde ihr hier an nichts fehlen.

       Sie wü rde ihr altes Leben nicht vermissen.

       Dafü r wü rde er sorgen.

        

 

       Nach der Schule, auf dem Weg zur Bushaltestelle, sah Judith Jan allein an der Straß enecke stehen, wo er offensichtlich schon lä nger gewartet hatte. Vor den wiederkehrenden, heftigen Regengü ssen hatte er Schutz unter einem Baum gesucht. Trotzdem klebte ihm das dunkle lange Haar am Kopf, die dü nne beige Jacke hatte sich an den Schultern dunkel verfä rbt. Sein blauer Schulrucksack stand zu seinen Fü ß en, die Riemen hingen in einer Pfü tze.

       Judith wollte gerade diskret umkehren und einen anderen Weg einschlagen, als Jan den Blick hob. Er nahm die Ohrstö psel raus und drü ckte eine Taste auf seinem Handy.

       Judith wü rdigte ihn keines Blickes und wollte rasch an ihm vorbei. Doch er schnappte seinen durchweichten Rucksack und warf ihn ü ber die Schulter. »Judith«, rief er, »warte auf mich! «, und hastete hinter ihr her.

       »Warum sollte ich? « Judith machte sich nicht die Mü he, einen Blick ü ber die Schulter zu werfen. Autos brausten durch Pfü tzen an ihnen vorü ber. Ein Fahrradfahrer fluchte, als er von einem Bus geschnitten wurde.

       »Du musst gar nichts tun, Judith«, sagte Jan beschwö rend und hob dabei vorsichtig die Hä nde. »Aber es wä re fair, wenn du mir einfach nur mal zuhö ren wü rdest. «

       Judith hielt den Blick noch immer starr nach vorne gerichtet. »Fairness? Du weiß t doch gar nicht, was das ist. «

       Jan packte sie am Arm. »Bitte, hö r mir zu! «

       Mit einer brü sken Bewegung schü ttelte sie seine Hand ab. Schließ lich stellte er sich ihr breitbeinig in den Weg. »Es tut mir leid, das musst du mir glauben. «

       »Dass du mich betrogen hast oder dass ich es herausgefunden habe? «, fuhr sie ihn an.

       »Beides«, gab er zerknirscht zu.

       Eine Frau mit klatschnasser Jacke versuchte ihren Kinderwagen um ihn herum zu manö vrieren.

       Judith zog Jan beiseite. »Wir stehen im Weg. «

       »Kö nnen wir nicht irgendwo hingehen, wo wir ungestö rt reden kö nnen? «, sagte Jan.

       »Danke, nein. Mit dir bin ich fertig. Schö nen Tag auch. « Sie setzte ein gequä ltes Lä cheln auf und ging weiter.

       »Wie kannst du nur so selbstgerecht sein«, rief Jan hinter ihr her. »Das ist schon immer dein Problem gewesen! Alles, was du machst, ist richtig. Kritik unerwü nscht. Nur die anderen machen Fehler. Kannst du dir auch nur ansatzweise vorstellen, wie es mir in der letzten Zeit ging? «

       Judith blieb stehen, drehte sich aber nicht um. »Doch. Ein wenig schon«, gab sie zu.

       »Dann hö r mir zu! Dann kannst du immer noch entscheiden, was du tun willst. «

        

 

       Das Malewitsch war eines jener liebevoll verkommenen Café s, die an den Wochenenden von jungen Familien bevö lkert wurden. Die vergilbten Wä nde kü ndeten von einer Zeit, in der das Rauchen in Lokalen noch erlaubt gewesen war. Hinter der Kuchentheke befand sich ein alter Apothekerschrank. Jede der zwei Dutzend Schubladen hatte ein handbeschriebenes Schild, auf dem der Name einer Kaffeesorte gekritzelt war. Durch einen schmalen Durchgang konnte man in einen Nebenraum schauen, in dem eine in die Jahre gekommene Rö stmaschine noch immer Tag fü r Tag ihre Arbeit verrichtete.

       Selbst unter der Woche war es um die Mittagszeit schwierig, einen freien Platz zu ergattern, denn die reich belegten Sandwiches, die man fü r schmales Geld kaufen konnte, waren im ganzen Viertel beliebt. Dennoch fand Judith einem kleinen Tisch etwas abseits, in der hintersten Ecke. Sie bestellte sich einen Milchkaffee, Jan entschied sich fü r ein Wasser.

       »Also erzä hl«, sagte sie schroff. Judith konnte sehen, wie Jan kurz die Lippen aufeinanderpresste. Sie fuhr sich mit beiden Hä nden durch die nassen Locken. »Entschuldige, aber ganz im Ernst, ich bin immer noch ziemlich sauer auf dich. «

       Jan verschrä nkte die Finger ineinander. »Ich weiß. «

       »Und das wird sich auch nicht so schnell geben, glaub mir das. «

       »Auch das ist mir klar. « Seine Stimme klang mü de und gereizt.

       »Also? « Judith sah ihm jetzt direkt in die Augen.

       Die Bedienung brachte die Geträ nke. Erst als sie wieder alleine waren, entspannte sich Jans Haltung. »Ich habe zwei Fehler gemacht, und ich weiß nicht, welcher von beiden der schlimmere ist. «

       »Na, von dem einen weiß ich ja schon«, sagte Judith und gab etwas Zucker in ihren Kaffee. Im Hintergrund spielte leise Jazz.

       »Der zweite Fehler ist, dass wir uns erst jetzt aussprechen«, sagte Jan, fischte die Zitrone aus seinem Wasserglas und legte sie auf den Bierdeckel.

       Judith knabberte herausfordernd an dem Keks, der auf der Untertasse gelegen hatte, herum. »Unsere Gesprä che waren etwas einseitig, stimmt. «

       »Du hast geredet und ich hab zugehö rt«, sagte Jan, und es klang noch nicht einmal bitter. »Weiß t du eigentlich, wie Niels und die anderen mich immer genannt haben? «

       Judith zuckte mit den Schultern und rü hrte ihren Kaffee um, wandte aber den Blick nicht von Jan.

       »Judiths Pudel. «

       Sie hielt in der Bewegung inne. »Ehrlich? «

       »So was denk ich mir doch nicht aus. « Jan trank einen Schluck Wasser. »Aber weiß t du was? Die meiste Zeit habe ich mich genauso gefü hlt. «

       Judith legte behutsam den kleinen Lö ffel auf den Tisch. »Das tut mir leid. «

       Jan nickte kaum merklich. »Zu so einem Spiel gehö ren immer zwei. «

       Sie zö gerte einen Augenblick. »War ich wirklich so eine Zicke? «

       Jan lachte trocken. »So heftig war’s nun auch wieder nicht. Du hast einfach gemacht, was du wolltest. «

       »Und hab dich vor vollendete Tatsachen gestellt. «

       »Das lag aber auch an mir«, fuhr Jan fort. »Ich hä tte etwas sagen kö nnen. Aber du bist ziemlich dominant. «

       Judith hob die Augenbrauen. »Ich bin, bitteschö n, was? «

       »Dominant. Andere Menschen haben sich dir unterzuordnen. «

       »Mann, ich weiß, was ›dominant‹ bedeutet. «

       »Du siehst das offenbar nicht so«, stellte Jan nü chtern fest.

       »Natü rlich nicht«, erwiderte Judith aufgebracht. »Ich lasse jeden so, wie er ist. Und ich erwarte dasselbe aber auch umgekehrt. «

       »Ich hab immer gedacht, du wü rdest dich gar nicht wirklich fü r mich interessieren. « Die Musik verstummte.

       »Du hast geglaubt, dass ich dich nicht mag? « Sie sah ihn an, als hä tte sie nicht richtig gehö rt.

       »Ich habe geglaubt … nein, ich weiß, dass du mich eigentlich nie geliebt hast. «

       Judith holte Luft, als wollte sie etwas sagen, doch ihr fehlten die Worte. Dass Jan ein Wort wie »Liebe« ü berhaupt in den Mund nahm! Das passte gar nicht zu ihm. Er war nicht gerade der groß e Romantiker. Oder hatte sie sich da in ihm getä uscht? Noch unangenehmer berü hrte sie allerdings die Ahnung, dass sein Bild von ihren Gefü hlen richtig sein kö nnte.

       Und dann tat sie etwas, was sie selbst ü berraschte: Sie ergriff ü ber den Tisch hinweg Jans Hand und drü ckte sie. »Es tut mir leid«, sagte sie leise.

       »Was tut dir leid? «, fragte er.

       »Dass du mit mir nicht glü cklich warst. Und ich es nicht bemerkt habe. «

       »Aber ich habe Recht, nicht wahr? « Seine Augen flackerten ein wenig, als er das sagte.

       Judith zog ihre Hand wieder zurü ck und sagte: »Auch wenn du mir vermutlich nicht glauben wirst, aber es hat nichts mit dir zu tun. Die letzten Tage habe ich mich selbst gefragt, was in meinem Leben schieflä uft. «

       »Du warst immer schon ziemlich unnahbar, weiß t du das? «, sagte Jan.

       »Ja, da kannst du wohl Recht haben. «

       »Und du meinst, das ä ndert sich jetzt? «

       »Weiß nicht. Ich bin momentan ziemlich durcheinander. «

       »Aha«, sagte Jan nur. Dann schwieg er.

       Judith wechselte plö tzlich das Thema: »Wie lä uft es denn mit dir und Zoey? Nicht, dass mich das was angeht, aber …«

       »Aber? «

       »Aber du machst mir keinen besonders verliebten Eindruck. « Kaum hatte sie diesen Satz gesprochen, wollte sie ihn auch schon wieder zurü cknehmen, doch es war zu spä t.

       »Und nun meinst du, dass ich es bei dir noch besser hatte? «, antwortete er kü hl.

       Judith schü ttelte den Kopf, das Gesprä ch schien ihr eine vö llig verrü ckte Wendung zu nehmen. »Ich wollte dir nur sagen, dass es mir leidtut, dass alles so gelaufen ist. « Sie nahm ihren Rucksack und wollte aufstehen, doch da legte Jan seine Hand auf ihren Arm.

       Judith setzte sich wieder hin, doch ihr wurde immer unwohler.

       Jan schnaubte leise. »Sie ist besitzergreifend und eifersü chtig. Ein Kontrollfreak. «

       »Das bin ich auch«, gab Judith zu.

       »Ja, aber nur, was dich betrifft. Mich hast du immer in Ruhe gelassen. Bei Zoey ist es genau anders herum. Sie hat sich nicht im Griff, spioniert mir hinterher. Ruft mich alle halbe Stunde an und will wissen, wo ich bin. Wenn sie wü sste, dass wir beide hier sitzen, wü rde sie mich umbringen. «

       Judith wusste darauf nichts zu sagen.

       »Ich hä tte nie was mit ihr anfangen sollen«, fuhr Jan fort.

       »Du kannst doch jederzeit mit ihr Schluss machen«, sagte Judith. »Wer hindert dich daran? Du bist ein freier Mensch. «

       »Sie hat damit gedroht, sich umzubringen, wenn ich gehe«, sagte Jan mit bleichem Gesicht. »Und sie ist so durchgeknallt, dass ich diese Drohung tatsä chlich ernst nehme. «

       »Jan, wenn du meinen freundschaftlichen Rat willst: Mach Schluss, solange es noch geht. «

       Jan nahm den Kopf in beide Hä nde und massierte sich mit festem Druck die Schlä fen. »Ja, vielleicht sollte ich das wirklich tun. Aber ich kann es nicht. Was ist, wenn sie es wirklich tut? «

       Judith konnte nicht anders. Sie sah Jan liebevoll an und hä tte ihn am liebsten in den Arm genommen. Judith wusste, dass er die Drohung, so kindisch sie war, tatsä chlich ernst nahm. Aber da war noch immer dieser Groll auf ihn. Der Groll und ihr gottverdammter Stolz.

       Die Bedienung war gerade dabei, einen Nachbartisch abzukassieren. Judith suchte den Blickkontakt zur Kellnerin und gab ihr ein Zeichen, dass sie ebenfalls zahlen wollte. Das Mä dchen, nicht viel ä lter als Judith, tippte auf einem Eingabegerä t herum und nannte dann den Betrag. Judith gab ihr einen Zehneuroschein und rundete auf.

       Jan machte ein Gesicht, als verstü nde er. »War vielleicht doch keine gute Idee, das mit der Aussprache. « Er packte seinen immer noch nassen Rucksack und stand auf.

       »Red keinen Unsinn. «

       »Meinst du, wir kö nnten noch mal von vorne anfangen? «

       Judith holte tief Luft. »Sieh erst mal zu, dass du deine Probleme auf die Reihe kriegst, okay? «

       Ein Lä cheln huschte ü ber Jans Gesicht. »Also darf ich dich anrufen? «

       »Natü rlich, du Blö dmann«, sagte Judith fast schon liebevoll.

       Jan wurde ein bisschen rot.

        

 

       Sie gingen so dicht an ihm vorü ber, dass sie ihn fast streiften. Ein Hauch von Judiths Parfü m wehte zu ihm herü ber und machte ihn ganz benommen. Er blickte den beiden hinter seiner Zeitschrift hervor heimlich nach.

       Erst als sie drauß en waren, ü berließ er sich seiner Wut. Das war nicht geplant! Ganz und gar nicht! Die beiden durften nicht wieder zueinanderkommen! Unter keinen Umstä nden!

       Judith gehö rte ihm! Sie war fü r ihn bestimmt – und nicht fü r diesen lä cherlichen Schwä chling, der vor ihr herumkroch.

       Er musste nachdenken. Ein Gegenmittel finden. Sofort.

       Die Bedienung trat an seinen Tisch und fragte ihn, ob er noch etwas trinken wolle. Ungeduldig bestellte er einen grü nen Tee, seinen zweiten. Er musste sich beruhigen. Und diesen Jan aus dem Verkehr ziehen. Aber wie?

       Mittlerweile zitterten seine Hä nde nicht mehr so stark. Nur sein Herz schlug immer noch schnell.

       Er musste seine Plä ne ä ndern.

       Er musste nach Hause.

       Den Rest des Tees ließ er stehen und zahlte. Er gab nicht zu viel und nicht zu wenig Trinkgeld, gerade so, dass man sich nicht mehr an ihn erinnern wü rde. Gut, dass das Lokal heute so voll war. Es gab viele einzelne Gä ste an kleinen Tischen, die meisten hatten ihr Notebook aufgeklappt. Bestimmt hatte sich kaum einer von ihnen die Mü he gemacht, die Sicherheitseinstellungen anzupassen. Leichte Beute. Aber nicht seine.

       Er verließ das Café und ging zu seinem Auto, das er nicht in einer ü berwachten Tiefgarage abgestellt hatte, sondern in der Parkzone am Straß enrand.

       Er stieg ein, drehte den Zü ndschlü ssel um und fuhr los. Sein Auto war ein knapp zehn Jahre alter Mercedes Kombi, silbern lackiert, mit einem Nummernschild, dass man sich nur merken konnte, wenn man Zeit hatte, zweimal hinzuschauen.

       Die Fahrt aus der Stadt hinaus dauerte etwas lä nger als der Herweg. Der nachmittä gliche Berufsverkehr verdichtete sich langsam, doch als er die Autobahn in Richtung Norden verlassen hatte und in die Wetterau fuhr, gab es keine Staugefahr mehr.

       Eine halbe Stunde spä ter erreichte er den Hof und parkte den Wagen in der Scheune. Es hatte wieder angefangen zu regnen, sodass er im Zickzack um die tiefen Pfü tzen herumlaufen musste, die sich auf dem alten, schmutzigen Kopfsteinpflaster gebildet hatten.

       Gabriel schloss die klemmende Haustü r auf, zog seine schmutzigen Schuhe im dunklen Flur aus und ging in die Kü che, um ein Glas Wasser zu trinken. Nachdem er es zur Hä lfte geleert hatte, schmetterte er es wü tend gegen den alten Gasherd. Die Trü mmer zerschellten in tausend Scherben auf dem gefliesten Boden. Dann atmete er tief durch und versuchte sich zu konzentrieren.

       Noch war nicht alles verloren. Noch konnte er die Dinge beeinflussen. Aber er musste schnell handeln. Und ohne jeden Skrupel. Er holte Handfeger und Kehrblech aus der Besenkammer, um die Glasscherben einzusammeln.

       Natü rlich kö nnte ich diesen Jan einfach tö ten, dachte Gabriel, als er die letzten Splitter auffegte. Nichts leichter als das. Und es wü rde ganz wie ein Unfall aussehen. Doch was wü rde mir das nü tzen? Judith wü rde Jan fü r den Rest ihrer Tage hinterhertrauern.

       Nein, er musste nicht Jan zerstö ren, sondern seinen Ruf. Jan musste in Judiths Augen zu einem Monster werden.

       Natü rlich wusste Gabriel, wo Jan wohnte.

       Er kannte ja seine Gewohnheiten.

       Und er kannte jedes seiner kleinen Geheimnisse. Doch keines davon konnte fü r Gabriel zur Waffe werden. Also wü rde er – wie immer – dem Leben etwas nachhelfen mü ssen. Nur leider begann ihm die Zeit davonzulaufen: Ein zweites Treffen zwischen Jan und Judith konnte er auf keinen Fall riskieren. Schon jetzt waren sich die beiden wieder viel zu nahegekommen.

       Ganz ruhig.

       Ziel anpeilen.

       Konzentrieren.

       Zerstö ren.

       Sein Rechner war noch an. Er vergewisserte sich, dass seine IP-Adresse verschleiert war – eine Prozedur, die ihm in den letzten Monaten in Fleisch und Blut ü bergegangen war. Er startete Skype und setzte seine Markierung auf Grü n, um anzuzeigen, dass er online war. Judith war es nicht. Er ü berprü fte den E-Mail-Account, den er extra fü r Judiths Nachrichten eingerichtet hatte. Das Posteingangsfach war leer. Er versuchte seinen Atem zu beruhigen. Wieder ü berprü fte er das Chat-Programm. Judith war immer noch nicht online. Es hatte keinen Zweck, so lange konnte er nicht warten. Er wü rde es von unterwegs aus versuchen mü ssen.

       Er packte sein Netbook und sein besonderes Werkzeug ein. Sonnenuntergang war erst in zwei Stunden. Aber das Risiko musste er eingehen.

       Es regnete noch immer aus bleigrauen, tief hä ngenden Wolken. Sein Netbook legte er in den Fuß raum des Beifahrersitzes. Im Auto war es so feucht, dass die Scheiben von innen beschlugen. Er schaltete das Geblä se auf die hö chste Stufe. Es dauerte einige Minuten und er hatte freie Sicht.

       Er hatte kein Navi. Das merkte sich nä mlich die letzten Ziele, die er angesteuert hatte und den Verlauf konnte man nicht lö schen. Deswegen hatte Gabriel den Weg zu Judiths Haus und die Adressen ihrer Freunde auswendig gelernt. Der Weg nach Frankfurt dauerte um diese Zeit eine gute halbe Stunde. Der dichte Berufsverkehr stockte in der anderen Richtung, stadtauswä rts. Erfreulicherweise wohnte dieser Jan nicht im Altstadtteil von Bergen, wo die Gassen zwischen den kleinen, schiefen Fachwerkhä usern so schmal waren, dass man kein Auto abstellen konnte, ohne dass es auffiel. Die Einfamilienhä user etwas weiter im Osten waren etwa dreiß ig Jahre alt. Einstö ckige Flachdachbungalows, die auf groß zü gigen, mittlerweile zugewachsenen Grundstü cken errichtet worden waren.



  

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