Хелпикс

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       »Wer sind Sie? «, fragte Gabriel zurü ck, obwohl er es schon lä ngst ahnte.

       »Mein Name ist Camberger. Finanzamt. « Camberger hielt einen Ausweis in die Hö he, den Gabriel aber ignorierte. »Darf ich reinkommen? «

       »Nein, dü rfen Sie nicht«, erwiderte Gabriel. Sein Blick fiel auf den silbernen Astra, der unter der mä chtigen Linde im Schatten stand, die Fenster heruntergelassen.

       Camberger holte ein Klemmbrett aus seiner Tasche und ü berflog einige Blä tter. »In meinen Unterlagen steht, dass Sie meinen Kollegen letzten Monat nicht reingelassen haben. « Er wischte sich einen Schweiß tropfen von der Nase, die so spitz war, dass sie seinem schmalen Gesicht etwas Nagetierhaftes verlieh. Wie der Kopf einer Ratte, dachte Gabriel. Einer mü den, gereizten Ratte.

       Gabriel zuckte mit den Schultern. »Also? «

       »Das ist natü rlich Ihr gutes Recht. Aber wenn Sie mich heute nicht ins Haus lassen, werde ich wiederkommen mü ssen. Mit einem Mann vom Schlü sseldienst. Und einer richterlichen Befugnis. Ich hoffe, das ist Ihnen klar. « Camberger seufzte und musterte Gabriel genauer, der halb nackt vor ihm stand. »Sehen Sie, ich kann Sie nur darum bitten, kooperativer zu sein. Ich fü rchte, Sie haben nicht die geringste Vorstellung davon, was fü r einen Ä rger Sie sich mit Ihrem Verhalten einhandeln. «

       »Ich werde es Herrn Kischek ausrichten, wenn ich ihn sehe«, sagte Gabriel. Der Mann ging ihm auf die Nerven. Das ganze Gehabe, diese spieß ige Arroganz, der selbstgerechte Tonfall, all das erweckte in ihm den Wunsch, dem Kerl eine reinzuhauen. Immer und immer wieder, bis er sich winselnd fü r seine Aufdringlichkeit entschuldigte.

       Camberger lä chelte schief. »Ja, tun Sie das. «

       Die beiden sahen einander an, als wü ssten sie, dass dies hier ein ziemlich dummes, unsinniges Spiel war.

       Camberger wischte sich erneut die Stirn ab und steckte die Papiere zurü ck in seine Ledertasche, die ihn wie einen verklemmten Deutschlehrer aussehen ließ. Er drehte sich um und ging zu seinem Auto. Gabriel beobachtete mit verschrä nkten Armen, wie der silberne Astra in einer Staubwolke den Hof verließ. Erst als der Wagen nach einer Kurve hinter einem Waldstü ck verschwand, schloss er die Tü r, leise und mit Bedacht, so als wä re er nicht allein. Nachdenklich strich er sich ü ber das unrasierte Kinn und ging die Briefumschlä ge durch, die sich im Flur stapelten. Vier Schreiben waren vom Finanzamt und drei weitere von einem Inkassounternehmen, das ihm schon seit Lä ngerem auf der Pelle saß. Sollten die ruhig. Solange er sie mit kleinen Beträ gen fü tterte, zeigte er seine Zahlungsfä higkeit.

       Nur bei diesem Camberger ging das nicht, denn der war im Auftrag des Herrn unterwegs. Und dieser Herr war das zustä ndige Finanzamt. Das ließ sich nicht vertrö sten. Das Dumme war allerdings, dass Gabriel tatsä chlich kein Geld ü brig hatte, um sein Steuerkonto auszugleichen.

       Gabriel nahm die Briefe und ging in die Kü che, um sich einen altmodischen Filterkaffee aufzubrü hen. Als Erstes schaltete er das alte Rö hrenradio ein. Das magische Auge leuchtete auf und zeigte an, dass die Senderfrequenz des Deutschlandfunks optimal eingestellt war. Da gab es den ganzen Tag Reportagen und Interviews. Musik mochte Gabriel nicht. Auß erdem fü hlte er sich nicht so allein, wenn das Radio ihm etwas zu erzä hlen hatte.

       Sein Vater war schon seit einem Jahr tot. Unfriede seiner Asche. Die hatte Gabriel anonym beisetzen lassen, irgendwo in einem grasbewachsenen Urnenfeld. Da war er gerade achtzehn gewesen und hatte sich endlich frei gefü hlt. Er hatte gehofft, dass er mit seinem Vater auch seinen Schmerz zu Grabe tragen wü rde. Einen Schmerz, den er erst gespü rt hatte, als der Vater nicht mehr da war.

       Ein Jahr war vergangen, in dem er versucht hatte, irgendwie ü ber die Runden zu kommen. Und das war wirklich nicht einfach gewesen. Auß er einem Berg Schulden und diesem baufä lligen Hof im finstersten Nirgendwo besaß er nichts. Drei Ausbildungen musste er abbrechen, weil Vorgesetzte mit dem Intelligenzquotienten eines Badeschwamms ihm das Leben erklä ren wollten. Unerträ glich. Gabriel hielt sich mit seinem eBay-Handel und kleinen Dienstleistungen fü r Firmen, die Sicherheitssoftware programmierten, ü ber Wasser.

       Das war sein Traum: irgendwann eine eigene Firma aufzumachen und an der Dummheit der Leute so richtig Geld zu verdienen. Er hatte von einem Typ gelesen, der im Alter von fü nfundzwanzig Jahren mit der Entwicklung von Algorithmen fü r den Aktienhandel so reich geworden war, dass er in Rente gehen konnte. Mit fü nfundzwanzig!

       Ja, es gab viel zu tun. Sehr viel. Gabriel wusste, dass ihm die Welt offen stand, er musste nur etwas dafü r tun. Hart arbeiten. Und einen festen Willen haben. Mit der richtigen Portion Entschlossenheit wü rde es ihm gelingen, die Welt aus den Angeln zu heben. Und verdammt noch mal, er hatte einen Anspruch auf ein gutes Leben! Er hatte keine Lust, ein kleines Rä dchen im Getriebe zu sein. Wenn man etwas wollte, musste man es sich nehmen, bevor jemand anders es tat. So einfach war das!

       Er nahm das Foto einer jungen, rothaarigen Frau, das er mit einem Magnet befestigt hatte, vom Kü hlschrank und betrachtete es zä rtlich. Er hatte es vor knapp einem halben Jahr im Frü hling gemacht, als Judith unter einem Kirschbaum saß, lesend und ganz in sich versunken, wä hrend um sie herum Myriaden von Blü ten zu Boden fielen. Die Welt konnte noch so schlecht und hart sein, seine Liebe zu Judith wü rde alles ä ndern. Sie allein gab ihm die Kraft, das alles zu ertragen.

       Er setzte sich an den Kü chentisch und lehnte das Foto gegen eine Vase mit Strohblumen, so konnte er es betrachten, wä hrend er frü hstü ckte. Er hatte noch eine Menge Arbeit vor sich. Doch immerhin war der erste Kontakt hergestellt. Selbstverstä ndlich wü rde sie nicht darauf reagieren. Das wä re auch zu einfach gewesen. Was jetzt begann, war ein Spiel mit Worten. Natü rlich war er dabei im Vorteil. Weil er Judith schon kannte. So gut, als wä ren sie schon seit Jahren befreundet. Das Profil, das er von ihr erstellt hatte, war beinahe lü ckenlos.

       Und trotzdem musste er behutsam vorgehen, durfte sie auf keinen Fall bedrä ngen. Alles musste zwanglos und spielerisch wirken.

       Ich bin charmant, geistreich und witzig.

       Ich bin ein guter Zuhö rer, spü re das Unausgesprochene zwischen den Zeilen.

       Ich bin sensibel und verstä ndnisvoll.

       Ich kann ü ber mich selbst lachen.

       Ich weiß mich einem anderen vertraut zu machen.

       Worte sind Zauberei. Mit Worten male ich ein Bild von mir, das mich fü r sie interessant macht. Nach auß en hin ist sie vielleicht kü hl und abweisend. Doch damit will sie nur ihre Verletzlichkeit verbergen. Im Grunde sehnt sie sich nach Liebe. Nach meiner Liebe.

       Sie weiß es nur noch nicht.

        

 

       Am anderen Morgen, nach einer schrecklichen, viel zu heiß en Nacht, duschte Judith kurz, erst warm, dann kalt, zog sich an und schminkte sich. Nur ein bisschen – damit sie nicht wie ihr eigener Geist aussah.

       Sie klappte das Badezimmerfenster auf und ging hinunter in die Kü che. Das Radio lief. Es roch nach Kaffee und frisch gebackenen Brö tchen.

       Robert saß schon am Tisch und tippte auf seinem Telefon herum. Als er sie kommen hö rte, blickte er auf. Robert hatte schon einige Male hier im Haus ü bernachtet, fü hlte sich aber offensichtlich noch immer fremd genug, um sie verlegen anzulä cheln. Er war groß gewachsen, sportlich und strahlte eine ruhige Selbstsicherheit aus. Wie jemand, der es gewohnt ist, dass andere tun, was er will. Er war Staatsanwalt, und wenn die Erzä hlungen ihrer Mutter stimmten, ein ziemlich erfolgreicher.

       »Guten Morgen«, sagte er und steckte sein Telefon weg. »Magst du einen Kaffee? « Er deutete auf die Thermoskanne, die auf dem Tisch stand.

       Judith setzte sich zu ihm. »Gerne«, sagte sie. Er nahm ihr die Tasse aus der Hand, die sie ihm entgegenhielt, und fü llte sie. »Wo ist Mama? «

       »Sie geht mit Zerberus gerade ums Eck. « Ein peinlicher Moment des Schweigens entstand. Sie waren noch nie miteinander alleine gewesen. Sonst war es immer ihre Mutter gewesen, die das Gesprä ch ankurbelte. »Du hast doch heute deinen ersten Schultag, oder? «

       »Stimmt«, erwiderte Judith und nahm sich ein Brö tchen. »Luxus! Sonst gibt es bei uns morgens nur Mü sli und alten Toast! «

       »Ich bin schon lä nger auf«, sagte Robert. »War laufen. Das kann man momentan nur morgens um sechs machen, wenn man nicht nach hundert Metern von einem Hitzschlag niedergestreckt werden will. « Er zuckte mit den Schultern und lä chelte. »Und auf dem Rü ckweg war ich beim Bä cker. «

       Judith bestrich die beiden Hä lften mit Butter und Honig. Eigentlich hatte sie noch keinen Hunger, aber sie musste vorsorgen: Ihr Kö rper rebellierte immer, wenn er nicht rechtzeitig Treibstoff bekam.

       Wieder schien Robert entschlossen, kein Schweigen zuzulassen. »Es muss ziemlich merkwü rdig fü r dich sein, allein mit einem Typ zu frü hstü cken, den du gar nicht richtig kennst und der auch noch der Freund deiner Mutter ist. «

       »Aber ich glaube, ich bin nicht die Einzige am Tisch, der ein bisschen mulmig ist. «

       »Stimmt«, sagte Robert. »Das schafft Waffengleichheit. Und ich muss ehrlich zugeben, dass ich in Sachen Smalltalk eine echte Niete bin. «

       »Geht mir genauso. « Sie betrachtete ihn genauer. Er war nett, stellte sie ü berrascht fest! Richtig nett! »Verrä tst du mir, wie ihr euch kennengelernt habt? «

       Robert verzog das Gesicht, als hä tte er Zahnschmerzen.

       »Natü rlich nur, wenn’s dir nicht unangenehm ist! «, beeilte sie sich zu sagen. »Kein Problem, wirklich. «

       »Ich habe damit kein Problem. Aber deine Mutter vielleicht«, erwiderte er vorsichtig. »Wenn sie es dir nicht verraten hat, wird sie ihre Grü nde haben. «

       »Ich habe sie nicht gefragt. Das dü rfte der einzige Grund sein«, gab Judith zu.

       Robert zö gerte. »Ü ber eine Partnerbö rse«, sagte er schließ lich.

       Judith ließ langsam das Messer sinken.

       »Ü berrascht? «, fragte Robert.

       Sie zö gerte einen Moment, bevor sie nickte.

       »Weil sie diesen Weg gewä hlt hat? «

       »Nein«, sagte Judith. »Ich wusste nur nicht, dass sie sich so allein gefü hlt hat. « Sie zö gerte einen weiteren Moment. »Hat sie dich angeschrieben? «

       »Ja«, sagte Robert und schenkte sich Kaffee nach.

       »Und du hast geantwortet. «

       Robert lachte. »Natü rlich! Sonst sä ß e ich nicht hier! «

       Judith bestrich in Zeitlupe ihr Brö tchen mit Butter. »Das ist alles irgendwie so … unromantisch …«

       Robert zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Aber bei deiner Mutter und mir funktioniert es. «

       Sie rä usperte sich, denn sie hatte Angst, die Frage zu stellen, die sie in diesem Moment bewegte und die so intim war. Aber sie konnte nicht anders. »Liebt ihr euch? «

       Robert sah Judith ü berrascht an. »Ja, ich glaub schon. «

       Judith ließ sich nicht beirren. »Aber es war keine Liebe auf den ersten Blick, oder? «

       »Also, ich wü rde nicht sagen, dass deine Mutter und mich der Blitz getroffen hat. Aber als wir uns das erste Mal verabredet haben, hatten wir einen netten Abend. Die Chemie stimmte. Und wir hatten denselben Humor. Das Schö ne war: Wir wussten beide, was wir suchten. Da gab es kein Versteckspiel, die Karten lagen auf dem Tisch. « Er zuckte mit den Schultern und lä chelte breit. »So ging das. «

       So ging das. »Darf ich noch eine indiskrete Frage stellen? «, sagte sie zö gernd.

       »Nur zu«, sagte Robert.

       »Warst du schon mal verheiratet? «, fragte Judith.

       »Ich bin geschieden, wenn du das wissen willst«, sagte Robert. »Aber ich habe keine Kinder. «

       Judith errö tete. »Entschuldigung, ich wollte nicht unhö flich sein. Eigentlich geht mich das alles auch gar nichts an. «

       »Doch. Tut es«, sagte er. »Immerhin ist dies euer Haus. Ich bin mit deiner Mutter zusammen. Fü r dich bin ich ein Eindringling. « Judith wollte etwas sagen, aber Robert hob nur die Hand. »Deshalb darfst du mir ruhig solche Fragen stellen. Ich weiß nicht, wie du mich siehst – oder sehen wirst, wenn wir uns besser kennengelernt haben. Aber ich wü nsche mir, dass wir gute Freunde werden. Ich werd nicht die Vaternummer durchziehen oder den Erziehungsberechtigten spielen. Das musst du alles mit deiner Mutter ausmachen, da halte ich mich komplett raus. Und wenn du das Gefü hl hast, dass ich mich im Hause Schramm nicht anstä ndig benehme, erwarte ich, dass du mir das sagst. Okay? «

       Bevor Judith antworten konnte, klingelte es an der Tü r. »Ich muss los! « Sie sprang auf und trank hastig einen letzten Schluck Kaffee. Im Flur nahm sie ihren schwarzen Jethelm von der Garderobe und schnappte sich den Rucksack, der in der Ecke lag. Drauß en hö rte sie Stimmen, und gerade als sie die Tü r ö ffnen wollte, wurde sie aufgeschlossen.

       Kim stand vor der Schwelle und unterhielt sich mit Judiths Mutter, die ganz jung aussah in ihrem leichten roten Sommerkleid. Mit den roten Korkenzieherlocken und der schmalen Figur hä tten Judith und ihre Mutter gut als Schwerstern durchgehen kö nnen. Zudem hatte Marion ihre Tochter mit siebzehn bekommen, war also viel jü nger als die Mü tter von Judiths Klassenkameradinnen.

       »Wir kö nnen los«, sagte Judith zu Kim, quetschte sich an ihrer Mutter vorbei und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Zerberus sprang schwanzwedelnd an ihr hoch.

       »Eigentlich hä ttest du heute mit ihm rausgemusst«, sagte Marion leicht tadelnd.

       »Ich weiß «, sagte Judith und kraulte ihren Hund hinter den Ohren. Genieß erisch legte er den Kopf zur Seite und schloss die Augen. »Heute Abend, mein Sü ß er, okay? Dann machen wir einen Ausflug! « Sie musste noch ihr Fahrrad im Schwimmbad abholen und Bogdan das Taxigeld zurü ckgeben.

       Kim schwang sich auf den Roller und Judith setzte sich auf den Sozius. »Er ist nett«, sagte sie zu ihrer Mutter und zurrte den Helm unter dem Kinn fest. »Robert, mein ich. Ziemlich in Ordnung. «

       Marion lä chelte, machte aber gleich darauf ein misstrauisches Gesicht. »Worü ber habt ihr denn geredet? «, fragte sie. »Komm, raus mit der Sprache. «

       Judith beugte sich zu ihrer Mutter und gab ihr noch einen Kuss. Dann gab sie Kim mit der flachen Hand einen Klaps auf den Helm.

       Kim seufzte. »Auf Wiedersehen, Frau Schramm. « Sie betä tigte den Kickstarter und schon fuhr der Roller mit einem Lä rm wie von einer frisierten Kreissä ge davon.

       Die Wochen vor den Sommerferien hatten sich, so kurz vor der Zielgeraden zum Abschlussjahr, irgendwie merkwü rdig angefü hlt. Fü r jemanden mit dem Abitur vor Augen wirkten die Frischlinge der fü nften Klasse mit ihren bunten Scout-Ranzen wie Zwerge von einem anderen Stern. Judith konnte sich noch genau an ihren ersten Tag an der Wö hler-Schule erinnern. Wie stolz war sie gewesen, das Kinderbiotop der Cusanus-Grundschule hinter sich zu lassen. Damals hatte sie sich unglaublich erwachsen gefü hlt. Umso mehr hatte es sie geschockt, dass sie wieder als letztes Glied in der Nahrungskette hatte anfangen mü ssen, also bei null.

       Acht Jahre hatte sie hier verbracht oder vielmehr gelitten und nun war ein Ende in Sicht. Alles hatte sich den Abschlussprü fungen unterzuordnen. Es war wie auf den letzten Metern beim Iron Man, auf denen der Lä ufer hofft, dass ihn die zweite Luft ü ber die Ziellinie trä gt. Wenn Judith sich keinen grö ß eren Patzer leistete, wü rden die letzten Prü fungen zumindest nicht so eine Qual werden wie bei vielen anderen.

       Kims Freund Niels, der auß er in Sport in allen Fä chern grandios zu scheitern drohte, war so ein Kandidat. Er hatte das Privileg, seine Entschuldigungen selbst unterschreiben zu dü rfen, bis ü ber alle Schmerzgrenzen zu seinen Gunsten ausgelegt. Wie er und Kim, die eine wahre Lernsoldatin war, ü berhaupt zusammengefunden hatten, war fü r Judith bis heute ein Rä tsel.

       Kim steuerte den Roller an den Straß enrand vor der Schule, wo ein paar Oberstufenschü ler hastig eine letzte Zigarette vor Unterrichtsbeginn rauchten. Judith zog den Helm ab und fuhr sich mit der Hand durch das dichte rote Haar. Kein Wind bewegte das blassgrü ne Blattwerk der ausladenden Buchen vor dem Tor. Das Gras war so dü rr und staubig, dass sich kaum jemand in den Schatten der Bä ume setzen wollte.

       Je nä her Kim und Judith der Schule kamen, desto nervö ser wurde Judith. Sie wollte Jan nicht sehen. Aber das war unvermeidlich, denn sie waren beide im selben Jahrgang und teilten einige Kurse miteinander. Ein Glü ck, dass Zoey erst in die Elfte ging.

       Kim schien Judiths Gedanken zu lesen und blickte sie mitleidig an. Doch Judith wollte kein Mitleid. Von niemandem. Auch nicht von ihrer besten Freundin.

       Kim schloss den Roller ab und gemeinsam gingen sie ü ber das plattgetretene Gras zum Haupteingang, wo ein riesiges Gedrä nge herrschte.

       Im Inneren des Schulgebä udes, das den Waschbeton-Charme einer Kreisverwaltung hatte, war es nicht viel besser. Ü berall stand die Luft. Selbst die sonst so zappeligen Unterstufenschü ler standen wie betä ubt herum und sprachen kaum ein Wort miteinander. Fü r sie wü rde es sicher irgendwann hitzefrei geben. Aber nicht fü r Judiths Abschlussjahrgang.

       Vor dem Schwarzen Brett mit den Listen standen so viele Schü ler, dass sich Judith erst einmal abseits hielt. Kim blickte wä hrenddessen wie magnetisiert in eine einzige Richtung.

       »Was ist los? «, fragte Judith und versuchte dem Blick ihrer Freundin zu folgen. »Stimmt irgendwas nicht? «

       Doch die Frage erü brigte sich in dem Moment, als sie Jan beim Treppenaufgang an der Wand lehnen sah. Zoey war bei ihm. Fü r einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke.

       Zoey verzog herablassend den Mund und hob die sorgsam gezupften Augenbrauen, dann stellte sie sich so vor Jan, dass sie Judith die Sicht versperrte.

       Kim gab ein unterdrü cktes Stö hnen von sich. Judith kochte. Der Rucksack rutschte ihr von der Schulter und fiel zu Boden. Dann war sie mit einem Mal ganz ruhig. Die Gerä usche um sie herum verstummten. Ihr Gesicht fü hlte sich kalt und taub an. Unwillkü rlich ballte sie die Fä uste. Noch nie im Leben hatte sie jemandem wehtun wollen, Impulskontrolle hin oder her. Aber die Unverfrorenheit ihrer Rivalin ließ sie fü r einen Moment alle guten Vorsä tze vergessen.

       Da spü rte sie eine Hand auf ihrem Arm. »Sie will dich doch nur provozieren«, sagte Kim. »Sie will, dass du ihr vor allen Leuten eine Szene machst. Tu ihr bloß nicht den Gefallen. «

       Manchmal hat die Stimme der Vernunft einen vertrauten Klang, stellte Judith fest. Manchmal klingt sie wie Kim.

       Zoey drehte ihr demonstrativ den Rü cken zu und kü sste Jan.

       Kim bü ckte sich nach dem Rucksack und drü ckte ihn Judith an die Brust. Der Gong ertö nte ein zweites Mal.

       »Heute wird es noch genug Gelegenheiten geben, um mit Jan zu sprechen«, flü sterte Kim.

       Endlich schü ttelte Judith ihre Benommenheit ab. »Ich will aber gar nicht mit ihm reden«, sagte sie und atmete tief durch. »Ü ber diesen Punkt bin ich hinaus. « Sie presste die Lippen zusammen und zwang sich zu einem Lä cheln.

       »Wirklich? « Kim sah sie zweifelnd an. »Ganz ehrlich, im Moment siehst du aus, als wolltest du gleich einen Mord begehen. «

       Judith schwieg und vertiefte sich in die Kursliste.

       »Lass ihn ziehen«, flü sterte Kim, die noch immer ihre Hand auf Judiths Arm gelegt hatte. »Der verdient dich doch gar nicht. «

       Judith schloss die Augen und drehte sich langsam zu Kim um. »Du bist meine beste Freundin. Wirklich. Aber es gibt Momente, da weiß t du nicht, dass es besser ist, einfach mal die Klappe zu halten. «

       Kim ö ffnete den Mund und schnappte nach Luft wie ein gestrandeter Koi. Doch noch bevor sie etwas sagen konnte, nahm Judith sie in den Arm.

       »Entschuldige. Ich hab es nicht so gemeint. Aber mit Jan und Zoey muss ich alleine fertig werden. « Die Fotos kamen ihr wieder in den Sinn. Jan war nicht grade der Entschlussfreudigste. Vielleicht hatte ja Zoey den Umschlag an Judith geschickt, um der Sache etwas nachzuhelfen? Und jetzt hatte sie erreicht, was sie wollte: Jan war frei fü r sie. Aber war er wirklich glü cklich? Judiths Blick suchte ihn. Doch er war bereits mit Zoey verschwunden.

        

 

       Sie trafen sich nicht.

       Weder in den Pausen, noch im Gedrä nge auf den Korridoren zwischen den Stunden, wenn sie die Rä ume wechseln mussten. Judith mied die Orte, an denen sich die Clique um Niels traf: die Ecke bei der Schü lervertretung, die Bank am Schulgarten, der Parkplatz auß erhalb des Schulgelä ndes, wo sich alle manchmal auf eine schnelle Zigarette zusammenfanden und den neuesten Tratsch austauschten. Wie zum Beispiel die Sache zwischen ihr und Jan.

       Kim war die Einzige gewesen, die sie gestern Abend im Schwimmbad gewarnt hatte. Alle anderen waren wie die Hasen vor dem Hund davongelaufen und hatten sie im Stich gelassen.

       Kim hatte an diesem Tag eine Stunde lä nger Unterricht und Judith wollte nicht auf sie warten. Also lief sie, den Helm unter dem Arm, zur Bushaltstelle zwei Stationen weiter und setzte sich in den Schatten eines Wartehä uschens. Hier war die Gefahr gering, dass sie jemanden traf, den sie kannte. Hier konnte sie in Ruhe sitzen, bis der Schmerz der Demü tigung irgendwann nachließ.

       Der Bus kam und sie stieg ein.

        

 

       »Mama? «, rief sie, als sie ihren Schlü sselbund auf die Kommode legte. »Bist du da? «

       Keine Antwort. Noch nicht einmal Zerberus kam schwanzwedelnd auf sie zugerannt. Judith warf den Rucksack auf die Treppe und ging in die Kü che, die wie immer makellos aufgerä umt und sauber war. Auf dem Tisch lag ein handgeschriebener Zettel: »Mittagessen im Kü hlschrank. Muss nur noch in die Mikrowelle. XXX Mama«.

       Sie ö ffnete den Kü hlschrank und holte eine angebrochene Flasche Wasser heraus, die sie in wenigen Zü gen lehrte. Doch statt der Plastikdose mit dem Couscous vom Vortag nahm sie einen Becher Joghurt. Der braune Umschlag mit den Fotos steckte noch immer zwischen den Kochbü chern. Sie zog ihn hervor und setzte sich an den Kü chentisch.

       Vier Bilder, schwarz-weiß. Unmö glich auszumachen, in welcher Reihenfolge sie geschossen worden waren. Jan und Zoey auf einer Wiese am Mainufer. Jan lag auf dem Rü cken, Zoey von links ü ber ihn gebeugt. Sie hatte sich das lange blonde Haar hinters Ohr geklemmt und eines ihrer langen Beine ü ber seinen Oberschenkel gelegt, wä hrend Jan, ganz der Genieß er, mit verschrä nkten Armen hinter dem Kopf dalag und liebesblö d zu ihr aufschaute. Die anderen Bilder zeigten die beiden eng umschlungen beim Kü ssen, wobei die Gesichter natü rlich nicht mehr so gut zu erkennen waren. Im Hintergrund offenbar belustigte Fuß gä nger. Was fü r eine billige Show, dachte Judith bitter.

       Die Fotos mussten von einer erhö hten Stelle aus aufgenommen worden sein, vermutlich einer Mainbrü cke. Judith kannte sich nicht besonders gut mit Fotografie aus, vermutete aber, dass keine Digitalkamera benutzt worden war. Bei den Bildern handelte es sich um altmodische, selbst entwickelte Abzü ge. Das Papier war nicht glatt, sondern von der Entwicklerflü ssigkeit ein wenig gewellt. Judith sah genauer hin. Auf die Entfernung konnte man eigentlich nur mit einem Teleobjektiv anstä ndige Bilder machen.

       Also war die ganze Session vorbereitet gewesen. Und zwar grü ndlich.

       Judith kratzte den Mangojoghurt mit dem kleinen Lö ffel aus, warf den Becher in den Mü ll und begab sich hoch in ihr Zimmer, wo sie sich auf das ungemachte Bett fallen ließ. Sie war mü de. Normalerweise legte sie sich immer am Nachmittag fü r eine Stunde hin, hö rte Musik oder las. Aber heute hatte sie nicht die Energie dazu.

       Eigentlich hä tte sie ins Schwimmbad gemusst, ihr Fahrrad holen und Bogdan die zwanzig Euro zurü ckgeben. Eigentlich.

       Judith rieb sich die Augen und drü ckte das Kopfkissen in Form. Von drauß en wehte gedä mpfter Verkehrslä rm herein, Vogelgezwitscher. Am liebsten hä tte sie jetzt geschlafen, nur zehn Minuten. Oder zwanzig. Aber es war zu heiß dafü r.

       Sie seufzte, stand auf und schaltete den Rechner ein. Nur drei neue Mails. Keine hatte Jans Adresse als Absender. Zwei davon waren Werbung von ihrem Provider. Die dritte war von diesem Gabriel, dem sie angeblich ü ber eBay ein Buch verkauft hatte. Sie war schon kurz davor gewesen, die Nachricht einfach in den Papierkorb zu schieben, als sie schließ lich doch zweimal auf den ungeö ffneten Briefumschlag klickte.

       Von: gabriel23@sysop. net

 

       An: gwendolin@myweb. de

 

       Betr.: Gebot 954852023178

 

       Meine liebe Gwendolyn,

 

       ich wage es kaum zu sagen, doch irgendwie bringst du mich in eine blö de Situation. Mein Welpe wird nicht stubenrein. Vielleicht liegt es auch daran, dass es mein erster Canis lupus familiaris ist und ich deswegen auf verlorenem Posten stehe. Natü rlich kö nnte ich mich auch im Laden um die Ecke mit der entsprechenden Literatur versorgen, aber ich sehe das nicht ein. Ich habe das Buch von dir ersteigert und erwarte eine Lieferung. In solchen Dingen hab ich meinen Stolz.

 

       Liebe Grü ß e

 

       Gabriel

 

       Im Anhang war ein Foto, das keinen Namen, aber einen Zeitstempel hatte. Das Bild war keinen Tag alt und es zeigte einen winzigen Beagle, dessen Blick selbst die hartgesottenste Natur erweichen musste. Neben dem betroffen dreinblickenden Welpen war ein Mehrfachstecker zu sehen, der in einer Pfü tze lag und vor sich hin rauchte.

       »Ach Herrje …«, murmelte Judith. Sie konnte sich noch gut an die Zeit erinnern, als Zerberus auch noch nicht stubenrein war. Mehrmals am Tag hatte sie mit einem Lappen hinter ihm herwischen mü ssen.

       Von: gwendolin@myweb. de

 

       An: gabriel23@sysop. net

 

       Betr.: Gebot 954852023178

 

       Lieber Gabriel,

 

       ganz offensichtlich bin ich nicht die Gwendolyn, von der du dieses Buch ersteigert hast. Mein Nick wird mit i geschrieben, nicht mit y. Tut mir leid.

 

       Liebe Grü ß e

 

       Judith

 

       PS: Ein sü ß er Hund. Wir haben auch so einen, nur ist er schon ein wenig ä lter.

 

       Sie drü ckte auf »Senden« und surfte noch ein wenig herum, als sich kurz darauf mit einem leisen »Ding« der Eingang einer neuen Mail ankü ndigte.

       Von: gabriel23@sysop. net

 

       An: gwendolin@myweb. de

 

       Betr.: Gebot 954852023178

 

       Liebe Judith,

 

       ich bin ganz zerknirscht. Du hast Recht. Da war ein Vertipper in der Mail-Adresse. Entschuldige. Von Richthofen ist ein liebes Tier. Ich habe nicht Nein sagen kö nnen, als eine Freundin ihn mir anbot. Ihre Hü ndin hatte einen ganzen Wurf Welpen bekommen, und sie wusste nicht, was sie mit dem Nachwuchs machen sollte. Ein Tierheim kam natü rlich nicht infrage. Aber so langsam beschleicht mich die Erkenntnis, es wä re vielleicht besser gewesen, wenn ich vorher mit einem Wellensittich oder einer Stabheuschrecke geü bt hä tte. Hast du eventuell einen Tipp, was ich machen kann?



  

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