Хелпикс

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       »Judith, verdammt! « Jetzt ü berschlug sich Kims Stimme. Knurrend wandte sich der Hund von Judith ab und rannte wild bellend auf die Gruppe zu, die panisch zu dem Loch im Zaun flü chtete.

       »Du! «, rief eine Mä nnerstimme.

       Judith drehte sich um.

       »Komm her! «

       Judith war noch immer ganz benommen. Eine massige Gestalt lö ste sich aus dem Schatten der Bä ume. In der Hand hielt sie etwas, was wie eine Peitsche aussah. Seltsamerweise verspü rte Judith keine Angst. Sie runzelte nur die Stirn und bü ckte sich nach der Taschenlampe.

       »Ich sagte: Du sollst herkommen! «

       Die Gestalt stapfte auf sie zu. Unter dem Overall spannten sich Muskeln von der Sorte, fü r die man jeden Tag zwei Stunden Hanteln stemmen muss. Der kahle Kopf saß auf einem kurzen, viel zu dicken Hals, an dessen rechter Seite sich ein Tribal-Tattoo emporschlä ngelte. In der Hand hielt er eine Hundeleine.

       Kim und den anderen war offenbar die Flucht geglü ckt. Und das schien dem Typ ü berhaupt nicht zu passen. Er pfiff scharf durch die Finger. Der Hund verstummte, machte auf der Stelle kehrt und sauste zu seinem Herrchen zurü ck, das sich inzwischen vor Judith aufgebaut hatte.

       Ihr war noch immer, als stü nde sie vollkommen neben sich. Alles, was um sie herum geschah, nahm sie wie ein unbeteiligter Beobachter wahr. Der Mann trat ganz nah zu ihr hin und musterte sie von oben bis unten, so als ginge er im Geiste durch, was er nun, da sie beide alleine waren, alles mit ihr anstellen konnte. Doch Judith hielt seinem Blick stand und wich keinen Zentimeter zurü ck.

       Er lä chelte trä ge. »Also, es gibt jetzt zwei Mö glichkeiten: Entweder du kommst freiwillig mit oder ich rufe die Polizei und die verknackt dich wegen Hausfriedensbruch. «

       Die Polizei. Dieses Wort riss sie schlagartig aus ihrer Trance. Sie war noch keine achtzehn. Vermutlich wü rde man sie nach Hause eskortieren, was in Anbetracht der zu erwartenden Anzeige keine besonders erheiternde Vorstellung war.

       Judith nickte. Der Mann wies auf die hell erleuchtete Tü r eines flachen Anbaus. »Da lang. «

       Das Bü ro, wenn man es denn so nennen wollte, war ein schä biger, schummriger Raum mit zwei kleinen Fenstern, an denen die Jalousien heruntergelassen waren. In seiner Mitte stand ein unordentlicher Schreibtisch, vermutlich ein Sperrmü llfund. Kisten und Kä sten tü rmten sich in einem vollgestopften Regal; mittendrin gurgelte eine alte Kaffeemaschine lustlos vor sich hin. Aus einem kleinen, unsauber eingestellten Radio plä rrte ein Schlager.

       »Setz dich«, sagte der Mann und wies auf einen billigen weiß en Klappstuhl, der vor dem Schreibtisch stand.

       Judith nahm Platz. Mit einem Mal kam sie sich unter dem forschenden Blick dieses Kerls ziemlich nackt vor. Sie verschrä nkte die Arme vor der Brust.

       Der Hund kam herein und beä ugte sie neugierig. Judith streckte die Hand aus, damit er an ihr schnü ffeln konnte. Schließ lich leckte er ü ber ihre Finger und ließ sich streicheln.

       »Hast du Angst vor mir? «, fragte der Mann.

       Sie schwieg. Der Hund verzog sich auf seine Decke und begann, an einem getrockneten Schweineohr herumzukauen.

       »Mach dir keine Gedanken. « Seine Stimme klang jetzt freundlicher. »Du bist nicht mein Typ. Falsches Beuteschema. « Er deutete auf den Hund. »Aljoscha mag dich. Willst du was trinken? «

       Judith stellte fest, dass sie tatsä chlich einen Riesendurst hatte. Sie nickte.

       Der Mann nahm eine Flasche aus einem Geträ nkekasten und fü llte ein groß es Glas, das er ihr reichte. »Ich heiß e Bogdan. « Das Wasser war warm und ohne Kohlensä ure.

       Bogdan setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl, lehnte sich zurü ck und trommelte mit den Fingern auf der Armlehne. Dann seufzte er, als hä tte er einen Entschluss gefasst.

       »Dauernd steigen hier nachts irgendwelche Spinner wie ihr ein, die Party machen wollen und dabei eine unglaubliche Sauerei hinterlassen: Glasscherben auf der Wiese, wo alle barfuß rumlaufen, sind nicht wirklich witzig. Jeden Morgen muss ich erst mal aufrä umen. Aber was glaubst du, wie oft ich einen Krankenwagen rufen muss, weil irgend so ein besoffener Idiot meint, einen Kopfsprung ins Babybecken machen zu mü ssen. – Und ü brigens bin ich ein ziemlich netter Kerl. Ehrenwort. Auch wenn ich nicht so aussehe. «

       Judith musste unwillkü rlich lä cheln. »Nein, Sie sehen wirklich nicht so aus, als wü rden sie Ü berraschungseier sammeln. «

       Er sah sie verdutzt an. Dann lachte er drö hnend und schü ttelte den Kopf. »Wie kommst du denn jetzt nach Hause? «

       »Mit dem Fahrrad«, sagte sie.

       Er blickte zur Uhr ü ber der Tü r hinü ber. »Es ist nach eins. Um diese Zeit sollten sich Mä dchen in deinem Alter nicht mehr aufs Fahrrad schwingen. « Er zog einen Zwanzigeuroschein aus seiner Brusttasche. »Hier. Ich rufe dir ein Taxi. Du kannst mir das Geld ja wiedergeben, wenn du morgen dein Rad abholst. Gib’s einfach an der Kasse ab. Sag, es ist fü r Bogdan. «

       »Danke«, sagte sie ü berrascht.

       »Bedank dich bei Aljoscha. « Der Hund hob den Kopf und spitzte die Ohren, als er seinen Namen hö rte.

       »Danke, Aljoscha«, sagte Judith matt. Sie wollte aufstehen, knickte aber plö tzlich ein. Der Boden schwankte unter ihren Fü ß en. Sie bekam zwar noch die Stuhllehne zu fassen, stolperte aber und wä re hingefallen, wenn Bogdan nicht geistesgegenwä rtig aus seinem Sessel gesprungen wä re und sie aufgefangen hä tte.

       »Whoa! «, rief er aus. »Vorsicht! «

       Judith schloss die Augen, spü rte die krä ftigen Muskeln und roch das Rasierwasser des Mannes. Jan benutzt dasselbe, schoss es ihr durch den Kopf. Ich habe es ihm geschenkt. Ihr wurde schlecht, eine Welle der Ü belkeit stieg in ihr hoch und sie stö hnte.

       »Vielleicht sollte ich lieber einen Notarzt rufen«, sagte Bogdan.

       »Nein! «, wehrte Judith ab und wand sich aus Bogdans Armen, nur um sich an der Schreibtischkante festzuhalten. »Mir geht es gut! «

       »Ja, natü rlich. Und ich bin der Kassenwart des hessischen Landfrauenverbandes«, sagte Bogdan trocken. »Hö r mal, Kind …«

       »Judith«, sagte sie. »Ich heiß e Judith. «

       »Hö r mal, Judith, ich will dir nicht zu nahe treten, aber du siehst nicht gerade wie das blü hende Leben aus …«

       »Ein Taxi reicht vö llig – wirklich«, schnitt sie ihm das Wort ab und holte ihr Handy aus der Hosentasche. Sie hatte es stumm gestellt und deswegen nicht bemerkt, dass ihre Mutter in der Zwischenzeit dreimal angerufen hatte. Auch Kims Nummer war auf dem Display. »Das Einzige, was mir fehlt, ist Schlaf. « Sie setzte sich wieder auf den Stuhl. Aljoscha saß noch immer aufrecht auf seiner Decke und spitzte die Ohren.

       »Davon dann aber ziemlich viel«, meinte Bogdan und holte ihr eine Tasse Kaffee. »Milch und Zucker sind aus. Du musst ihn so trinken. «

       Judith nippte an der Tasse und verzog das Gesicht.

       »Zu heiß? «, fragte Bogdan.

       »Wie oft ist der schon aufgebrü ht worden? «, fragte sie und nahm noch einen Schluck. Besser wurde er davon nicht.

       »Er steht schon etwas lä nger«, gab Bogdan zu. »Willst du reden? «

       Judith sah ihn fragend an.

       »Du siehst aus, als wü rdest du gerade eine ziemlich beschissene Zeit durchmachen«, sagte Bogdan.

       »Ist das so offensichtlich? « Sie stellte die Tasse auf dem Schreibtisch ab. Der Kaffee war zwar hö llisch stark und schmeckte nach allem Mö glichen, nur nicht nach hundert Prozent Arabica.

       »Als ich so alt war wie du, hab ich so einiges durchgemacht. Und konnte damit nicht zu meinen Eltern gehen. Wenn du verstehst, was ich meine. «

       Judith verstand. Wenn Bogdan in ihrem Alter herausgefunden hatte, dass Mä dchen nicht in sein Beuteschema fielen, hatte er nicht nur zu Hause ein Problem gehabt.

       »Es ist nichts«, sagte sie. »Wirklich. «

       »Dafü r raubt es dir aber ganz schö n den Schlaf. Lass mich raten: Enttä uschte Liebe? «, fragte er.

       »Ich sag ja: Es ist nichts«, sagte Judith leise.

       Bogdan lä chelte. »Ganz im Gegenteil: Enttä uschte Liebe ist alles! Sie quä lt dich wie ein schleichendes Gift. Sie raubt dir die Kraft. Sie macht dich kalt und hart. Und das ist wie eine doppelte Strafe. Wusstest du, dass Menschen wirklich an gebrochenem Herzen sterben kö nnen? Kein Witz! Dafü r gibt’s sogar einen medizinischen Begriff: Stress-Kardiomyopathie. «

       »Nein, wusste ich nicht«, gab sie zu. Zum zweiten Mal in dieser Nacht hatte er sie ü berrascht. Erst durch seine verstä ndnisvolle Art, die im krassen Gegensatz zu seinem Ä uß eren stand. Und dann benutzte er auch noch diese hochgestochenen Wö rter! Von wegen schlicht gestricktes Muskelpaket. Auf einmal schä mte sie sich, weil sie ihn so unterschä tzt hatte.

       »Nun, dann hast du heute was fü rs Leben gelernt«, sagte er. »Liebe kann dich umbringen. Zu viel oder zu wenig davon, vollkommen egal. Sie ist das Schö nste auf der Welt. Aber wehe die Dosis stimmt nicht, dann erwischt dich eine Stress-Kardiomyopathie. «

       »Ich versuch daran zu denken«, sagte Judith.

       Bogdan kniff ein Auge zu und musterte sie spö ttisch. »Ich will jetzt nicht wissen, was du von mir denkst. Aber eines sage ich dir …« Er beugte sich vor und sah sie ernst an. »Die wirklich gefä hrlichen Jungs erkennt man nicht auf Anhieb. So, und jetzt rufen wir ein Taxi. «

        

 

       Der Wind rauscht leise in den Blä ttern des Kirschbaums, erzä hlt seine Geschichte vom endlosen Himmel, von Blumen und frisch gemä htem Gras, das so grü n ist wie die Augen der Mutter, die hinter dem Haus ein weiß es Laken auf die Leine hä ngt und sich dann das Haar mit einer mü den Geste aus dem blassen Gesicht streicht. Der Junge liegt auf einer groben Decke, die nach Stall und Tieren riecht und ein wenig kratzt.

       Er will nicht mehr alleine unter dem Baum liegen.

 

       Das Rauschen des Windes hat ihn mü de gemacht, aber er will nicht schlafen.

 

       Er will bei seiner Mutter sein, ruft nach ihr. Aber sie wartet nicht auf ihn, dreht sich noch nicht einmal nach ihm um. Er sieht nur ihre roten Haare und das helle Sommerkleid. Als sie um die Ecke verschwindet, wird sein Rufen zu einem Heulen. Er lä uft schneller, stü rzt, schü rft sich die Hä nde auf, betrachtet die blutenden Knie.

 

       Rot.

       Warmes, klebriges Rot.

       Er steht wieder auf und rennt ihr nach.

 

       Sie spielt nicht mit ihm. Das tut sie nie. Sie lä uft vor ihm davon. Dabei will er nur von ihr in den Arm genommen werden. Aber das macht sie selten. Und wenn, dann fü hlt es sich hart an. Knochig. Kantig. So als mü sste er um eine Liebe kä mpfen, die er schon lange verloren hat.

 

       Aber er kä mpft weiter, Tag um Tag. Sucht ihre Nä he, ihren Geruch, ihre Berü hrung, obwohl sie ihm manchmal wehtut. Besonders wenn er Angst hat, dass sie wegen ihm geht und nicht wiederkommt.

 

       So wie jetzt.

 

       Doch das stimmt nicht. Sie steht im Hof und beschattet die Augen mit der Hand, denn die Sonne steht tief. Der Junge klammert sich an ihrer Hü fte fest und diesmal schü ttelt sie ihn nicht ab. Aber sie schaut ihn nicht an. Deswegen bemerkt sie auch nicht, dass sein Knie blutet.

 

       Ein Auto fä hrt durch das offene schmiedeeiserne Tor auf den Hof. Es ist der Wagen des Vaters, mit groß en Scheinwerfern und einem gefrä ß igen Kü hler, auf dem ein Stern befestigt ist, der aussieht wie das Visier am Lauf eines Gewehrs. Er hä lt beim Stall, der Vater steigt zusammen mit dem Hund aus. Er ö ffnet den Kofferraum.

 

       Die Mutter wendet sich ab. Als der Junge nicht loslä sst, schiebt sie ihn beiseite und geht ins Haus.

 

       Der Vater winkt ihn zu sich heran, doch er zö gert. Er hat Angst vor dem Hund und der Hund spü rt das. Er spü rt es immer. Er ist groß und schwarz und hat keinen Schwanz. Das wundert den Jungen immer wieder, denn die Hunde, die er aus Bilderbü chern kennt, haben immer einen Schwanz. Aber dort sind sie auch echte Freunde: liebevoll, treu. Ein Freund ist Wotan nicht. Nicht fü r ihn.

 

       Der Vater winkt ihn jetzt nachdrü cklicher zu sich. Er holt etwas aus dem Kofferraum. Etwas Groß es, Schweres. Wotan wird nervö s.

 

       Der Vater ist groß, krä ftig, hat ein rotes Gesicht und eine raue Stimme. Er hä ngt das Reh an einen Haken, der am Tü rsturz des Stalls eingeschlagen ist.

 

       Er schiebt den Jungen neben das Reh und setzt ihm einen grü nen Hut auf, der ihm viel zu groß ist. Dann drü ckt er ihm ein Gewehr in die Arme. Es ist so schwer, dass er es beinahe fallen lä sst.

 

       Der Junge starrt das Reh an.

 

       Das Rot tropft auf den Boden.

       Warmes, klebriges Rot.

       Die Augen des toten Tieres sind weit aufgerissen und glä nzen. Vielleicht lebt es ja noch? Er will davonlaufen, aber er traut sich nicht.

 

       Der Vater holt einen Fotoapparat aus dem Auto, spannt den Film und richtet das Objektiv auf den Jungen und das Reh. »Lä cheln! «, sagt er grimmig.

 

       Und der Hund knurrt.

 

        

 

       Es war kurz nach halb zwei, als das Taxi vor dem Haus im Preungesheimer Flutgraben hielt. Judith bezahlte den Fahrer, stieg aus und kramte den Schlü sselbund aus der Hosentasche. Doch bevor sie aufschließ en konnte, wurde schon die Tü r geö ffnet.

       »Wo bist du so lange gewesen? Ich habe mir wahnsinnige Sorgen gemacht, weil du nicht an dein Handy gegangen bist! «, sagte ihre Mutter. Sie war noch angezogen, aber ihre zerknitterten Kleider und die Augenringe ließ en erahnen, dass sie auf dem Sofa geschlafen hatte. Wie ihre Tochter hatte sie rotes Haar, das aber bereits von grauen Strä hnen durchzogen war. Zerberus sprang bellend an Judith hoch.

       »Scht …«, machte ihre Mutter. »Ab in die Kü che. «

       »Ich habe mein Telefon stumm geschaltet«, sagte Judith und legte ihren Schlü sselbund auf das Sideboard neben der Garderobe. Ihr war noch immer schwindelig.

       »Warum das denn? «

       Judith schob sich an ihrer Mutter vorbei in die Kü che, um sich aus dem Kü hlschrank einen Joghurt zu holen.

       »Ist es wegen Jan? «

       Judith, die gerade die Besteckschublade geö ffnet hatte, drehte sich ü berrascht zu ihrer Mutter um.

       »Sü ß e, du hast die Fotos nicht besonders gut versteckt«, sagte ihre Mutter und nahm sie in den Arm. Einen Moment lang wurde Judith ganz steif. Es war schon lange her, dass ihre Mutter sie so getrö stet hatte, aber es tat noch immer gut.

       »Es ist alles in Ordnung«, sagte Judith mit zitternder Stimme. »Mach dir keine Gedanken. «

       Ihre Mutter lachte trocken. »Ich werde mir noch Sorgen um dich machen, wenn ich eine alte Frau bin. Das wirst du nicht aus mir herausbekommen. « Sie nahm das Gesicht ihrer Tochter in beide Hä nde und sah ihr in die trä nenfeuchten Augen. »Willst du mit mir darü ber reden? «

       Judith schü ttelte den Kopf und wischte sich mit dem Handrü cken die Nase ab. Sie versuchte tapfer zu lä cheln, aber es wollte ihr nicht gelingen. Ihrer Mutter hatte sie noch nie etwas vorspielen kö nnen. Aber sie hatte ein Recht darauf zu wissen, was heute Nacht geschehen war.

       »Mein Rad steht noch am Schwimmbad«, sagte Judith. »Ich muss es morgen abholen. « Sie setzte sich an den Tisch und zog den Deckel vom Kirschjoghurt ab.

       »Am Schwimmbad? « Judiths Mutter runzelte die Stirn. »Ihr seid ü ber den Zaun gestiegen? «

       »Fast«, sagte Judith und lä chelte schief. »Wir haben ein Loch hineingeschnitten. Und bevor du was sagst: Ja, es war keine gute Idee. Wir sind erwischt worden. «

       Ihre Mutter rollte mit den Augen. »Na klasse. Gab es eine Anzeige? «

       Judith schü ttelte den Kopf und lö ffelte den Becher aus. »Nein. Bogdan hat darauf verzichtet. «

       »Bogdan? «, fragte Judiths Mutter verwirrt. »Wer ist Bogdan? «

       »Der Nachtwä chter. Der Typ, der aufpasst, dass nachts niemand ins Schwimmbad einsteigt. Er hat mir das Geld fü rs Taxi gegeben. Er war der Meinung, dass ich um diese Zeit nicht mehr mit dem Rad fahren sollte. «

       »Sehr verantwortungsvoll, dieser Bogdan. Geradezu rü hrend«, stellte ihre Mutter mit ironischem Unterton fest.

       »Ja, das ist er. Obwohl du bei seinem Anblick wahrscheinlich davonlaufen wü rdest. Er sieht aus wie der Tü rsteher eines Nachtclubs. Ist ü brigens schwul«, sagte sie mit vollem Mund.

       »Na dann«, sagte ihre Mutter, so als wü rde sie gar nichts mehr ü berraschen. Schließ lich seufzte sie. Der letzte Rest von Anspannung schien von ihr abzufallen. »Ich gehe ins Bett. «

       »Ist Robert da? « Robert war der Freund ihrer Mutter. Nach der Trennung von Judiths Vater war sie viele Jahre lang Single gewesen. Erst vor Kurzem hatte sie sich wieder auf eine Beziehung eingelassen. Und das tat ihr sichtlich gut. Und Judith ebenso. Denn vieles war seither im Hause Schramm entspannter geworden. Viel entspannter.

       »Ja, aber er schlä ft schon. «

       »Hattet ihr einen schö nen Abend? «, fragte Judith.

       Ihre Mutter gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Das, liebe Tochter, geht dich gar nichts an. « Sie wollte sich gerade zum Gehen wenden, als sie noch einmal innehielt. »Eine Frage habe ich aber noch. «

       »Frag«, sagte Judith und leckte den Lö ffel ab.

       »Wer hat eigentlich diese Fotos von Jan gemacht und sie dir geschickt? «

       Judith hielt inne. Eine gute Frage. Eine, die auch Jan gestellt hatte. Und sie hatte sie vollkommen verdrä ngt. »Ich habe keine Ahnung. Sie lagen vor drei Tagen in der Post. «

       Ihre Mutter blieb einen Moment unentschlossen stehen. »Du hast wirklich keine Ahnung, wer der Absender sein kö nnte? «

       »Nein«, gab Judith zu und ein plö tzliches Unbehagen machte sich in ihrer Magengegend breit. Irgendjemandem schien es offenbar sehr wichtig zu sein, dass sie wusste, mit wem Jan sie betrogen hatte. Und dieser jemand wollte um jeden Preis anonym bleiben.

       Judith hä tte in ihrem Zimmer am liebsten Gegenstä nde an die Wand geworfen. Vorzugsweise Jans Geschenke. Zum Beispiel sein gerahmtes Fotoporträ t, das er ihr zum Geburtstag geschenkt hatte.

       Jan.

       Der Gedanke an ihn versetzte ihr einen Stich. Sie setzte sich aufs Bett und weinte. Doch schließ lich wischte sie sich mit der Hand ü ber die Wangen und suchte in der Schublade ihres Nachtschrä nkchens nach Taschentü chern, fand aber keine.

       Sie wusste nicht, was sie mehr verletzte: die Tatsache, dass er sie verraten und betrogen hatte. Oder dass er es ausgerechnet mit dieser magersü chtigen Vogelscheuche hatte tun mü ssen, deren Herz noch kä lter war als das der Schneekö nigin.

       Judith ballte die Fä uste, presste die Lippen aufeinander und schloss die Augen. Zerberus, der immer ein Gradmesser fü r ihre Stimmungen war, hob winselnd den Kopf und legte seine Schnauze auf ihr Knie. Sie streichelte ihn hinter den Ohren und tä tschelte seine Seite. »Ist schon gut«, sagte sie leise. »Ist schon gut. «

       Dann erhob sie sich, nahm eine Hose von ihrem Bü rostuhl und setzte sich an den Schreibtisch. Sie drü ckte auf die Leertaste, um den Rechner aus dem Stand-by-Modus zu holen. Dann klickte sie das Skype-Icon an.

       Die meisten ihrer Freunde waren noch online. Sie suchte in der Liste nach Kim, drü ckte den Anruf-Knopf und wartete. Es dauert nur wenige Sekunden, bis das Bild ihrer Freundin auf dem Monitor erschien.

       »Judith! « Ihre Freundin sah bleich und mü de aus. »Wieso bist du nicht an dein Handy gegangen? Hat der Kerl es dir etwa abgenommen? « Kim machte ein wü tendes Gesicht.

       Judith schü ttelte den Kopf. »Nein. Ich hab es stumm geschaltet. Bogdan war eigentlich ganz in Ordnung. «

       »Bogdan? « Kim sah sie entgeistert an. »Habt ihr beide etwa Brü derschaft getrunken oder so was? «

       »In der Art. Bogdan hat darauf verzichtet, die Polizei zu rufen, und mir stattdessen ein Taxi spendiert. « Judith rieb sich mü de die Augen.

       »Wir haben uns alle Sorgen um dich gemacht«, sagte Kim.

       »Ja, das habe ich gemerkt«, sagte Judith. »Ihr seid gerannt wie die Hasen. «

       »Ich …«, begann Kim, aber Judith fiel ihr ins Wort.

       »Ich weiß, dass es nicht deine Schuld war. «

       »Wir hatten alle Schiss vor dem Kö ter«, sagte Kim und lä chelte gequä lt.

       Judith wusste, dass ihre Freundin Angst vor Hunden hatte. Selbst Zerberus, der der ä ngstlichste Beagle von hier bis Wladiwostok war, lö ste bei ihr einen Fluchtreflex aus.

       »Tut mir leid«, sagte Kim und versuchte erneut zu lä cheln.

       »Ja, mir auch«, sagte Judith abwesend, als sie den Mauszeiger auf das E-Mail-Icon schob und die Ü berschriften der Nachrichten ü berflog, die sie in den letzten Stunden erhalten hatte. Eine war von Jan. Sie zö gerte einen Moment, bevor sie die Mail ö ffnete.

       Kim runzelte die Stirn. »Judith? «

       »Er hat mir gemailt. « Sie las murmelnd die wenigen Zeilen und spü rte wieder eine Welle von Wut und Schmerz in sich aufsteigen.

       »Du meinst Jan? «, fragte Kim vorsichtig. »Was schreibt er? «

       »Er will sich mit mir treffen, will mir alles erklä ren. « Judith zö gerte einen Moment, dann zog sie die Mail in den Papierkorb. »Ich will ins Bett«, sagte sie erschö pft. »Schlafen. « Vielleicht sah sie nach dem Aufwachen einige Dinge klarer. Allerdings: Klarer als jetzt konnte die ganze Angelegenheit eigentlich gar nicht mehr werden.

       »Soll ich dich morgen abholen? «, fragte Kim.

       »Das wä r nett, danke. Du bist eine gute Freundin. « Vielleicht meine einzige, ergä nzte sie in Gedanken.

       Sie beendete die Verbindung und wollte den Rechner schon herunterfahren, als ihr die zweite Nachricht im Posteingang einfiel.

       Sie ö ffnete sie. Und runzelte die Stirn.

       Von: gabriel23@sysop. net

 

       An: gwendolin@myweb. de

 

       Betr.: Gebot 954852023178

 

       Meine liebe Gwendolyn,

 

       ich wollte dich noch einmal an die Bü cher erinnern, die ich vor zwei Wochen bei dir ersteigert habe.

 

       Ganz liebe Grü ß e

 

       Gabriel

 

       Ein Irrlä ufer, dachte Judith. Der Absender hatte an eine Gwendolyn geschrieben, in der Mailadresse aber statt dem y ein i getippt. Gwendolin war ihr Nick fü r soziale Netzwerke und Chatprogramme. Sie schob die Nachricht zu der von Jan in den Papierkorb, dann schaltete sie den Rechner aus.

       »Komm, Zerberus. Du weiß t, dass du nichts in meinem Bett verloren hast«, sagte sie, als sie sich das Schlaf-T-Shirt anzog.

       Der Beagle erhob sich, gä hnte herzhaft und schnü ffelte an der Bettdecke. Judith hob ihn hoch und setzte ihn auf den Teppich. Dann schlü pfte sie unter die Decke und lö schte das Licht. Sie bekam noch mit, wie Zerberus wieder aufs Bett sprang und sich neben ihr einrollte. Aber da war sie schon halb weggedä mmert.

        

 

       Es ist eine immer wiederkehrende Mutprobe, die er noch nie bestanden hat. Die steile Treppe fü hrt hinauf in die Dunkelheit, wo sich am Ende eines langen Korridors ein verschlossenes Zimmer befindet. Er weiß es. Er hat oft genug gehö rt, wie seine Mutter den Schlü ssel im Schloss umgedreht hat, hat den Schritten auf den morschen Dielen gelauscht. Manchmal ein Schluchzen oder ein stilles Weinen. Irgendwann war seine Mutter wieder heruntergekommen, verweint und noch abweisender als sonst.

       Er will wissen, was sich im obersten Stock hinter der Tü r verbirgt und die Neugier ist grö ß er als die Angst. Der Schlü ssel zu diesem Zimmer hä ngt an dem Bund, den seine Mutter immer bei sich trä gt. Er nimmt ihn an sich, als sie eines Nachmittags schlä ft, und steigt die Stufen hoch. Dabei versucht er so leise wie mö glich aufzutreten, damit die Dielen nicht knarzen. Er kennt die Sprache dieser Treppe, wie sie protestiert, wenn man den Fuß auf die falsche Stelle setzt. Da kann man noch so leicht sein.

 

       Es riecht nach Staub und feuchter Tapete und plö tzlich sieht er

 

       rot.

       Warmes Rot.

       Ihm wird schwindelig. Er hat einen metallischen Geschmack im Mund, der ihn an etwas erinnert. An etwas Furchtbares. Seine Hand zittert, als er am Bund den richtigen Schlü ssel zu erraten versucht. Er findet den passenden auf Anhieb.

 

       Das Zimmer, das er betritt, ist grau, so als hä tte das Vergessen jede Farbe herausgewaschen. Die Vorhä nge sind zugezogen. Trotzdem erkennt er im Zwielicht einen weiß en Schrank, eine staubige Wickelkommode, auf der noch eine Windel liegt und ein unaufgerä umtes Kinderbett mit Babyschlafsack.

 

       Das Zimmer ist ihm vertraut und er wü rde sich auch wohlfü hlen an diesem Ort des falschen Vergessens, gä be es da nicht

 

       das Rot.

       Warmes Rot.

       Und diesen schrecklichen Geruch.

 

       Und das Gefü hl, schuld daran zu sein, dass dieses Zimmer schon so lange leer steht.

 

       Er will wieder gehen, die Tü r hinter sich schließ en und vergessen, dass er hier war. Dass in diesem Zimmer kein Leben mehr ist.

 

       Doch dann fä llt sein Blick auf die Fensterbank. Er sieht einen Engel, ganz in Blau, lang und schmal und anmutig. Und daneben eine weiß e Kerze, an der erstarrte Trä nen aus Wachs kleben.

 

        

 

       Gabriel, der im wirklichen Leben natü rlich nicht so hieß, zuckte in seinem Bett zusammen, als das schrille Klingeln die morgendliche Stille zersplittern ließ. Er hatte in der viel zu kurzen Nacht die Bettdecke weggestrampelt und nur mit seiner Unterhose bekleidet auf dem Laken geschlafen. Er ö ffnete die Augen, und sein Blick fiel wie jeden Morgen auf die Bilder an der Wand, die alle nur ein Motiv hatten: Judith. Seine Hand tastete nach der Wasserflasche neben dem Bett. Der Verschluss zischte nur leicht, als er ihn aufschraubte. Das Wasser war warm und abgestanden.

       Wieder klingelte es an der Haustü r. Wieder fuhr Gabriel zusammen. Er warf einen Blick auf den alten Wecker, der auf dem abgestoß enen Nachttisch stand. Es war noch nicht einmal acht. Gabriel zog die Decke ü ber den Kopf. Aber wer immer um diese Zeit mit ihm sprechen wollte, war verdammt hartnä ckig, denn jetzt klingelte es Sturm.

       Gabriel fluchte, schlug mit einem Ruck die Decke beiseite und stand auf. Er machte sich nicht die Mü he, etwas ü berzuziehen, sondern schlurfte gleich durch den dunklen Flur zur Haustü r, die er einen Spaltbreit ö ffnete.

       Vor der Schwelle stand ein stä mmiger Mann von etwa vierzig Jahren in einem hellblauen Polohemd. Ü ber der Schulter trug er eine hellbraune Ledertasche, deren Laschen offen waren.

       »Herr Kischek? «

       »Nein«, antwortete Gabriel. »Der wohnt hier nicht. «

       Der Mann hob die Augenbrauen. Er schob die schmale Brille hoch, die ihm immer wieder von der Nase rutschte. »Darf ich dann fragen, wer Sie sind? «



  

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