Хелпикс

Главная

Контакты

Случайная статья





www.ravensburger.de 1 страница



 

 


           

 

      

 

       Als Ravensburger E-Book erschienen 2014

Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH.

© 2014 Schwindt, Peter
Ravensburger Buchverlag

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten
durch Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH
Postfach 1860, D-88188 Ravensburg

Umschlaggestaltung: Kerstin Schü rmann, formlabor, Hamburg unter Verwendung eines Fotos von Vectorig/iStock

Lektorat: Iris Praë l

ISBN 978-3-473-38044-2

www. ravensburger. de

 

 


           

 

       Sein Atem steht wie feiner Nebel in der eisigen Luft. Und mit seinem Atem steht die Welt still, als er das warme, klebrige Rot an seinen kalten Hä nden spü rt.

       Glitzernde Schneekristalle rieseln aus einem tiefen, grauen Himmel. Es riecht nach Metall wie in der Scheune, wenn der Vater am rostigen Motor des alten Traktors herumschraubt. Der Junge bewegt sich vorsichtig, dreht seine blutigen Hä nde langsam hin und her, betrachtet sie mit Staunen. Der trockene Schnee knirscht leise unter seinen Fü ß en. Er mag dieses Gerä usch nicht, er bleibt stehen. Erst die Schlä ge seines Vaters wecken ihn aus der Erstarrung. Diese Schlä ge sind das Einzige, an das er sich spä ter erinnern wird.

 

 


           

 

       Es gab ein leises, sattes Klicken, als er das schwarze, ein wenig zerschrammte Magazin in die alte Polaroid schob. Gabriel drehte den klobigen Apparat andä chtig in den Hä nden, blickte durch den zerschrammten Sucher und widerstand der Versuchung, ein Bild von sich selbst im angelaufenen Spiegel zu schieß en. Die gebrauchte Kamera war schon teuer genug gewesen, aber die zwei Fotokassetten hatten ein Vermö gen gekostet, denn sie wurden seit einigen Jahren nicht mehr hergestellt. Gabriel war sich noch nicht einmal sicher, ob der Apparat nach all der Zeit ü berhaupt brauchbare Fotos lieferte.

       Immer wieder blickte er auf sein Handy. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Aber immerhin genug, um seinen Puls zu beruhigen. Natü rlich war er aufgeregt. Das war er immer, wenn er sich darauf vorbereitete, sie zu treffen. Ihr nah zu sein.

       Gabriel hatte mö glichst unauffä llige Kleidung gewä hlt: eine ausgebeulte, olivfarbene Cargohose, ein schwarzes, unbedrucktes T-Shirt und beigefarbene Converse. Drauß en war es heiß und so hell, dass es niemandem auffallen wü rde, wenn er eine Sonnenbrille zu seiner Kappe trug.

       Er ließ die schwere Holzjalousie seines Schlafzimmers so weit herunter, dass die Sonne helle Streifen an die fleckige, ü ber und ü ber mit Fotos tapezierte Wand seines Schlafzimmers warf. Dann packte er die Kamera in seinen Rucksack.

       Im dunklen Flur lagen unter dem Briefschlitz einige Briefe, die Kuverts aus grauem Umweltpapier. Sie sahen verdä chtig nach Behö rde aus. Er schob sie mit dem Fuß beiseite und trat mit zusammengekniffenen Augen hinaus in das gleiß ende Sonnenlicht.

       Fü r einen Moment spielte er mit dem Gedanken, den alten Mercedes Kombi aus der Scheune zu holen, entschied sich dann aber fü r die silberne Vespa, die in einem halbverfallenen Schuppen neben dem Haupthaus stand. Die Klimaanlage im Auto funktionierte nicht mehr und er hatte kein Geld fü r eine Reparatur. Vorsichtig zog er die graue Plane herunter, faltete sie ordentlich zusammen und ü berprü fte die Fü llhö he des Tanks. Schließ lich packte er seine Kappe in den Rucksack, setzte den zerschrammten weiß en Helm auf, der an einem langen rostigen Nagel gehangen hatte, und fuhr los.

        

 

       Einatmen, ausatmen. Es war so einfach, wie bis vier zu zä hlen. So einfach, wie einen Fuß vor den anderen zu setzen. Judith wischte sich mit dem Handrü cken den Schweiß von der Stirn, trotzdem lief er ihr immer wieder in die Augen, die jetzt brannten, als wü rde sie weinen. Einatmen, ausatmen.

       Die Musik gab den Rhythmus vor. Der Bass massierte ihre Ohren, war der Motor, der sie vorantrieb. Der schattige Weg vor ihr war mit Lichtflecken gesprenkelt.

       Einatmen, ausatmen. Wie Ja und Nein, Hell und Dunkel, Sein oder Nichtsein. Wenn sie lief, war alles einfach. Es gab keine komplizierten Entscheidungen. Der Weg war vorgegeben und sie war ganz bei sich. Manchmal wanderten dann ihre Gedanken umher, ziellos wie in einem Traum. Ein Bild nach dem anderen. Heute jedoch dachte sie an gar nichts, konzentrierte sich nur aufs Atmen, spü rte ihren Herzschlag und lauschte auf die Musik. Alles andere ging automatisch. Einatmen, ausatmen.

       Es war heiß. So heiß, dass es der reinste Irrsinn war, ü berhaupt einen Fuß vor die Tü r zu setzen, wenn man es nicht musste. Aber Judith hatte es zu Hause nicht mehr ausgehalten. Also hatte sie sich dazu entschlossen, vor ihren Problemen davonzulaufen. Nur fü r eine Stunde.

       Judith blieb keuchend unter einer Ulme stehen, lehnte sich erschö pft an den Baumstamm und beugte sich nach vorne, die Hä nde auf die Oberschenkel gestü tzt. Ein Schweiß tropfen fiel von ihrer Nasenspitze auf den staubigen, ausgetrockneten Boden. Sie zog sich die Hö rer aus den Ohren und griff nach der Trinkflasche, die sie zusammen mit ihrem MP3-Player und einer kleinen Tasche an einem Gü rtel trug. Judith nahm drei krä ftige Schlucke und spritzte sich den Rest des Wassers ü ber den Kopf. Dann strich sie sich die roten Locken aus dem Gesicht und schaute auf ihre Armbanduhr. Es war kurz vor drei. In einer Viertelstunde wü rde er bei ihr vor der Tü r stehen und klingeln. Beim Gedanken daran wä re sie am liebsten weitergelaufen. Doch sie ignorierte das Gefü hl der Beklemmung, ging zu ihrem Fahrrad, schloss es auf und fuhr nach Hause.

        

 

       Gabriel war sich der Macht des magischen Denkens sicher. Dass sich Trä ume erfü llten, wenn man nur fest an ihre Erfü llbarkeit glaubte. Dass jeder seine kleine, schä bige Welt aus den Angeln heben konnte, wenn die Sehnsucht nach Verä nderung nur groß genug war.

       Er genoss die Fahrt durch die Wetterau, die sich in sanften Hü geln vom Taunus bis fast nach Frankfurt erstreckte. Die Straß en waren frei, das goldgelbe Korn stand hoch. Bald wü rde die Ernte eingefahren werden, bei diesem Gedanken musste er lä cheln.

       Ihr Haus in Preungesheim befand sich in einer kleinen Wohnstraß e, die man nur schwer einsehen konnte. Die Bü rgersteige waren vollgeparkt. Die Luft flimmerte ü ber dem heiß en Blech der Autos, als wollte sie sich verflü ssigen. Flugzeuge zeichneten mit ihren Kondensstreifen Kreidestriche an den Himmel, die im Nu verwischten. Gabriel spü rte, wie der Schweiß unter seinem Helm prickelte.

       Langsam fuhr er an ihrem Haus vorbei. Alle Jalousien waren heruntergelassen, ihr Fahrrad stand noch nicht vor der Haustü r. Er stellte den Roller eine Straß e weiter ab, befestigte seinen Helm mit einem Bü gelschloss am Gepä ckträ ger und fuhr sich mit der Hand ü ber den fast kahl geschorenen Kopf.

       Er klappte den Sitz seines Rollers hoch und kramte einen kleinen Werkzeugkoffer hervor. Dann schraubte er die Motorverkleidung ab und tat so, als mü sste er etwas reparieren. Von der Straß enecke aus hatte er perfekte Sicht auf das Haus, das noch immer in der Mittagssonne zu dö sen schien.

       Zwei Wochen hatte er sie nicht gesehen. Zwei Wochen, in denen er beinahe verrü ckt geworden wä re. Er wusste, wo Judith ihren Urlaub verbracht hatte. Beinahe wä re er ihr sogar nachgefahren. Aber das wä re natü rlich der reinste Unsinn gewesen. Deshalb war er geblieben und hatte die zwei Wochen fü r die notwendigen Vorbereitungen genutzt.

       »Alles okay? «, fragte eine Stimme hinter Gabriel. Er zuckte zusammen und unterdrü ckte einen Fluch. Wie hatte er nur so unachtsam sein kö nnen! Gabriel schob die Sonnenbrille zurecht. Dummerweise hat er grade seine Kappe nicht auf. Dafü r verfluchte er sich ein zweites Mal. »Alles okay«, sagte er, ohne sich umzudrehen.

       »Ich kenne mich mit diesen Dingern aus. Hab selber so eine Vespa. Der Zü ndzeitpunkt verstellt sich immer. «

       Gabriel nickte. Noch immer wagte er nicht, sich zu der Stimme umzudrehen. Denn sie war ihm wohlbekannt. »Ja, ich weiß. Und der Vergaser arbeitet auch nicht immer sauber. « Mit einem Steckschlü ssel schraubte er die Zü ndkerze heraus und wischte sie an einem schmutzigen Lappen ab. Auch jetzt noch hielt er dem Jungen hinter ihm den Rü cken zugewandt.

       »Na denn«, sagte die Stimme verwirrt und ein wenig ä rgerlich. »Viel Erfolg noch. «

       »Danke«, murmelte Gabriel.

       Schritte entfernten sich. Erst jetzt hob Gabriel den Kopf. Er blickte der Gestalt nach und lä chelte.

        

 

       Der Sommer hatte die Stadt gebleicht. Das Rot der Werbeflä chen hatte sich ins Lachsfarbene verdü nnt, das Grü n der Bä ume und Wiesen war leblos und staubig geworden, der Himmel nur noch eine Ahnung von Blau wie bei einem Foto, das zu lange in der Sonne gelegen hat. Die Autos krochen trä ge wie riesige Insekten ü ber den Alleenring.

       Judiths Beine brannten und fü hlten sich an wie Blei. Mü hsam wich sie den Schlaglö chern auf den Radwegen aus. Der warme, trockene Fahrtwind trieb ihr Trä nen in die Augen. Der Schweiß lief in Strö men den Rü cken hinab. In diesem Moment hä tte sie alles fü r eine kalte Dusche gegeben, doch dazu wü rde sie erst nach dem Treffen kommen. Dem Treffen, vor dem sie sich schon den ganzen Tag fü rchtete.

       Sie hatte auf dem Fahrrad Musik gehö rt, obwohl sie wusste, dass es elegantere Wege gab, um einen Unfall zu bauen. Als sie in ihre Straß e einbog, zog sie sich die Stö psel aus den Ohren. Sie sah ihn schon im Schatten auf den Haustü rstufen sitzen. Ihre Mutter war heute nicht zu Hause. Judith verspü rte wieder – wie vor jeder unangenehmen Situation – dieses verrä terische Ziehen im Magen. Unangenehm war in diesem Fall noch geschmeichelt: Wut war in ihr. Enttä uschung. Natü rlich auch Angst. Sollte – konnte sie das alles fü r sich behalten?

       Jan stand auf und lä chelte zur Begrü ß ung. Judith stieg ab und schloss ihr Fahrrad an das Treppengelä nder an. Ihre Hä nde zitterten, als sie den Bü gel einrasten ließ.

       »Hi Sü ß e«, sagte Jan.

       Sie war so wü tend, dass ihr sein Lä cheln wie ein falsches Grinsen vorkam. Sie hob abwehrend beide Hä nde, als er sie umarmen und kü ssen wollte.

       »Nein! «, sagte sie brü sk. »Nein. «

       Judith las Verunsicherung in seinen Augen. Jenen Augen, von denen sie immer gedacht hatte, sie kö nnten nicht lü gen.

       »Ist alles okay mit dir? «, fragte er vorsichtig.

       Judith antwortete nicht, sondern ging an ihm vorbei die Treppe hinauf, um die Haustü r aufzuschließ en. Das Zittern wollte nicht nachlassen. Sie fü rchtete, er kö nnte es bemerken. Auf keinen Fall durfte sie sich jetzt ihm gegenü ber eine Blö ß e geben. Jetzt nicht – und nie wieder.

       »Warum hast du mir eine SMS geschickt? «, fragte er. »Warum hast du mich nicht einfach angerufen? «

       Weil du nicht hö ren solltest, wie wü tend ich war. Wie verletzt. Und wie enttä uscht. Aber sie schwieg, ließ nur die Haustü r offen stehen, statt ihn hereinzubitten.

       Zerberus, der Hausbeagle, war nicht da. Ihre Mutter hatte ihn mitgenommen zu ihrem neuen Freund. Marion sagte immer: Niemand sollte allein sein und auf jemanden warten mü ssen, von dem er nicht weiß, wann er kommt. Judith konnte ihre Mutter nur zu gut verstehen. Besonders heute.

       Sie ging in die Kü che und ö ffnete den Kü hlschrank, um eine Flasche Wasser herauszunehmen, die in der feuchten Wä rme sofort beschlug. Sie schraubte den Verschluss ab und trank gierig – keine Zeit, ein Glas zu nehmen. Sie hö rte die Haustü r zufallen und gleich darauf trat Jan in die Kü che. Sie beachtete ihn nicht, schloss die Augen und genoss das kü hle Wasser. Schließ lich stellte sie die Flasche auf dem Kü chentisch ab, auf dem noch die Reste ihres Frü hstü cks standen.

       »Du wolltest doch mit mir reden, oder? «, fragte Jan.

       Erst jetzt drehte sie sich zu ihm um. »Nicht wirklich. «

       »Und warum hast du mich dann herkommen lassen? « Seine Worte hatten einen spö ttischen Unterton, als wollte er sagen: »Sieh her, die Kö nigin hat ihren Untertan einbestellt. «

       Am liebsten hä tte sie ihn gepackt und angeschrien, ihm vielleicht sogar ins Gesicht geschlagen. Wie konnte er es wagen, sie zu provozieren! Aber sie ließ sich ihren Zorn nicht anmerken. Wenn sich hier einer zu rechtfertigen hatte, dann war es Jan.

       Sie hatte alles genau geplant. Auf keinen Fall wü rde sie ihn in ihr Zimmer lassen. So viel Nä he konnte sie nicht ertragen. Nicht mehr. Es genü gte ihr schon, dass er jetzt so nahe vor ihr stand, dass sie ihn riechen konnte. (Und er roch gut! Wie immer. ) Sie zog zwischen den Kochbü chern, die neben dem Herd standen, ein braunes Kuvert hervor und warf es auf den Tisch.

       Jan sah sie fragend an.

       »Schau rein«, forderte sie ihn auf.

       Langsam griff er nach dem Umschlag, ö ffnete ihn und zog ein halbes Dutzend Fotos heraus.

       »Eins hä tte eigentlich schon gereicht«, sagte sie mit vor der Brust verschrä nkten Armen. »Sie sind alle ziemlich aussagekrä ftig. «

       Jans Gesicht wurde blass und er leckte sich nervö s ü ber die Lippen. »Wo hast du die her? « Er untersuchte das Kuvert genauer. Judith hatte es mit der Post bekommen, ohne Absender. Der Adressaufkleber war getippt worden.

       »Der Brief kam vorgestern«, sagte Judith. »Sie heiß t Zoey, nicht wahr? Ein Jahrgang unter uns oder tä usche ich mich? «

       Jan ließ sich auf einem der Kü chenstü hle nieder und schwieg. Schließ lich blickte er unglä ubig zu ihr auf. »Hast du etwa jemanden auf mich angesetzt? «

       Judith blinzelte verwirrt. »Wie bitte? « Auf jede Reaktion war sie gefasst gewesen, nur nicht auf diese. Eine gestotterte Entschuldigung, eine improvisierte Rechtfertigung, ein schlecht gespieltes schlechtes Gewissen. Aber nicht diese Frage. Obwohl sie natü rlich auf der Hand lag. Denn die Bilder, die Jan zusammen mit einem Mä dchen zeigten, machten einen professionellen Eindruck. Das Motiv: ein Kuss. Ein Kuss wie von zwei Ertrinkenden, die mit der nä chsten Welle untergehen werden.

       »Und – hast du nun jemanden auf mich angesetzt? «, wiederholte Jan. Diesmal mit unverhohlener Wut. Und diese Wut entflammte Judiths Zorn von Neuem.

       »Was glaubst du eigentlich? «, fuhr sie ihn an. »Mal ganz abgesehen davon, dass ich so eine Detektivnummer ziemlich dä mlich fä nde: Ich hä tte wissen mü ssen, dass zwischen dir und dieser Zoey was lä uft! «

       Jan machte den Mund auf, um ihn gleich wieder zu schließ en.

       »Hast du denn nichts dazu zu sagen? Zoey scheint dich ja fö rmlich auffressen zu wollen! «

       Jan schwieg. Sein Blick suchte verzweifelt an den Kü chenregalen Halt.

       »Wie lange geht das schon mit euch? « Sie wunderte sich, dass sie so ruhig sprechen konnte.

       »Sechs Wochen«, sagte Jan leise.

       »Also seit Beginn der Ferien? «

       Er nickte.

       »Warum? « Er schwieg. Judith sah ihm in die Augen und spü rte einen Stich. Nicht im Herzen, eher in der Magengegend. So als hä tte man ihr ein stumpfes Messer in den Bauch gestoß en. »Vergiss es«, sagte sie schließ lich und machte eine abwehrende Handbewegung. »Ich will es nicht wissen. «

       »Wirklich nicht? «, fragte Jan, der auf einmal zu spü ren schien, dass jetzt die Gelegenheit gekommen war, aus dieser unwü rdigen Rechtfertigungsnummer herauszukommen. Er stand auf. Nervö s strich er sich das schwarze Haar aus dem schmalen Gesicht.

       Judith musste zugeben, er gefiel ihr noch immer: hoch aufgeschossen, sonnengebrä unt, ein Skatertyp. Einer, auf den die Mä dchen standen. Doch ihr Entschluss stand fest: »Verschwinde. «

       Er zuckte zurü ck, drü ckte den Rü cken durch, bis er ganz aufrecht stand, und schü ttelte langsam den Kopf. Dann drehte er sich um und ging.

       Als die Haustü r leise zugezogen wurde, brach Judith in Trä nen aus.

        

 

       Er hatte sich auf den ersten Blick in sie verliebt. Ihr langes, rotes Haar. Die helle, fast weiß e Haut. Die Sommersprossen. Nicht viele, aber genug, um ihrem schmalen Gesicht die Frische eines kü hlen Frü hlingstags zu verleihen. Groß gewachsen, schlank und anmutig. Grü ne Augen, so magisch, dass man sich in ihnen wie in einem sonnendurchfluteten Wald verlieren konnte. Gabriel wusste augenblicklich, dass sie fü reinander bestimmt waren. Wie zwei vom Schicksal getrennte Hä lften, die wieder zu einem Ganzen werden mussten. Nun, er hatte sich dazu entschlossen, dem Schicksal ein wenig auf die Sprü nge zu helfen.

       Zu Beginn musste er sich mit den wenigen Fotos begnü gen, die sie ihm, ohne es zu wissen, von sich aus schenkte. Judith hatte einen Facebook-Account und wie viele andere Mitglieder sammelte sie Freundschaftsanfragen wie Briefmarken. Als er mehr ü ber sie erfuhr, konnte er es wagen, sich ein eigenes Bild von ihr zu machen.

       Er fotografierte sie, immer und immer wieder. Anfangs nur mit seinem Handy, doch sehr bald war er mit der Qualitä t der Bilder nicht mehr zufrieden.

       Also ging er zu einer Spiegelreflexkamera und einem Teleobjektiv ü ber. Er begann mit Schwarz-Weiß -Aufnahmen, die er selbst entwickelte. Allerdings war es schwer, den richtigen Film dafü r aufzutreiben. Die Fotografie, echte Fotografie mit einer altmodischen Kamera, war eine Kunst, die immer mehr in Vergessenheit geriet. Das Spiel mit Blende, Belichtungszeit und Filmempfindlichkeit war nichts fü r Ungeduldige. Als er zum ersten Mal in der kleinen Dunkelkammer stand, die er sich im Keller eingerichtet hatte, zwischen all den aufgerissenen Kartons, verstaubten Einmachglä sern und abgelaufenen Konserven, ü berkam in plö tzlich ein Gefü hl glü ckseliger Nä he. Endlich war er ganz bei ihr und sie ganz bei ihm.

       Spä ter wagte er sich an die ersten Farbabzü ge, doch mit dem Ergebnis war er nur selten zufrieden. Entweder waren die Bilder zu blass und zu flach – einfach nichtssagend. Oder sie strahlten unnatü rlich wie Aufnahmen in einem Hochglanzmagazin. Er experimentierte lange, um die richtigen Filme, das richtige Papier zu finden. Von hundert Fotos waren vielleicht zwei oder drei wirklich brauchbar gewesen. Einige von ihnen hatte er Judith vor zwei Tagen zukommen lassen. Sozusagen als Arbeitsprobe. Beim Gedanken daran musste er jetzt noch grinsen.

       Ja, er hatte Judith lange beobachtet.

       Er wusste, wann sie aufwachte.

       Er wusste, wie viel Zeit sie im Bad verbrachte.

       Er wusste, was sie frü hstü ckte.

       Er wusste, wann sie das Haus verließ, wann sie den Bus oder das Fahrrad nahm und wann sie von einer Freundin abgeholt wurde.

       Er wusste, in welche Schule sie ging.

       Und er wusste, mit wem sie zusammen war – noch.

       Die Dinge nehmen ihren Lauf, dachte er zufrieden.

       Der Abend hatte noch nicht die ersehnte Kü hle gebracht, als Gabriel mit der Vespa in den Feldweg zu seinem Hof einbog, der groß und dunkel am Waldrand lag.

       Gabriel stellte den Roller in den Schuppen, deckte ihn wieder sorgfä ltig mit der grauen Plane ab und ging zur Haustü r, deren Schloss noch immer nicht geö lt war. Irgendwann wü rde ihm noch der Schlü ssel abbrechen. Immer wieder nahm er sich vor, die Sache zu beheben, und immer wieder schob er es auf. Ä rgerlich. Ich muss viel disziplinierter werden, dachte er. Aber das kostet so viel Kraft!

       Beim dritten Versuch gelang es ihm, den Schlü ssel umzudrehen, und er stieß die Tü r auf. Der dumpfe Geruch nach Kü che und Staub und Erinnerungen umfing ihn wie ein schweres Tuch. Er schloss die Tü r, hob die Briefe auf, die er am Mittag so achtlos beiseitegeschoben hatte, und legte sie in den Korb zu den anderen Rechnungen. Morgen Frü h wü rde er sich darum kü mmern. Jetzt musste er erst noch eine Mail schreiben, dann konnte er endlich schlafen gehen. Er war mü de und ausgelaugt und sehnte sich nach seinem Bett. Die Polaroid war leider heute nicht zum Einsatz gekommen, aber das war nicht weiter schlimm. Es wü rden sich weitere, bessere Gelegenheiten ergeben. Er fü hlte sich so gut wie lange nicht mehr. Er hatte die Saat ausgebracht. Jetzt musste er nur warten, bis sie aufging.

        

 

       Die Dunkelheit beginnt zu leben, dachte Judith und trat einen Schritt aus den nä chtlichen Schatten heraus. Sie konnte hö ren, wie die Stille sich krä uselte, raschelte, summte. Die Luft war noch immer warm und klebrig. Ihre Haut glä nzte. Kein Windhauch regte sich. Die Luft war dumpf und schwer. Judith wischte sich mit dem Handrü cken ü ber die feuchte Oberlippe und tat einen weiteren Schritt nach vorne, die rechte Hand ausgestreckt.

       Es mussten Hunderte von Eintagsfliegen sein, die in den fahlen Lichtkegeln der wenigen Straß enlaternen tanzten, als wü ssten sie, dass fü r ihren Hochzeitsflug nur diese eine Nacht blieb. Judith berü hrte den Mast, dessen Metall warm und rau und staubig war, spü rte das dumpfe Vibrieren der Transformatoren und schloss die Augen, um in sich hineinzulauschen. Ein leises Kribbeln kroch ihren Arm hinauf und trotz der tropischen Nacht bekam sie Gä nsehaut.

       »Judith …«

       Sie ö ffnete die Augen und drehte sich um.

       »Was machst du denn da? «, fragte Kim entgeistert.

       »Nichts«, sagte Judith und zog ihre Hand zurü ck. Das Summen erstarb.

       »Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht, weil du auf einmal verschwunden warst. « Kim trat zu Judith ins Laternenlicht. »Deine Hand ist ja ganz dreckig«, stellte sie fest.

       Judith zuckte mit den Schultern. »Ich bin okay, mach dir keine Sorgen«, sagte sie.

       Kim schwieg einen Moment, als hä tte sie die Lü ge herausgehö rt. »Niels hat eine Zange geholt, um den Zaun aufzuschneiden«, sagte sie schließ lich und schü ttelte missbilligend den Kopf. »Was fü r eine dä mliche Idee! Wir handeln uns noch einen Riesenä rger ein. «

       »Sachbeschä digung«, meinte Judith trocken.

       »Und Hausfriedensbruch«, ergä nzte Kim. »Wir sollten uns lieber nicht erwischen lassen …«

       Judith grinste halbherzig. Sonst war sie fü r fast alles zu haben, wenn der zu erwartende Spaß das Risiko rechtfertigte. Aber nicht heute. Nicht in dieser Nacht.

       Sie folgte ihrer Freundin durch das dichte Gebü sch, zerkratzte sich Beine und Arme an dornigen Strä uchern, deren Laub so trocken raschelte, als wä re schon Herbst.

       Das Loch im Maschendrahtzaun war viel zu klein. Niels hatte sich mit seinem Seitenschneider offenbar keine besondere Mü he gegeben. Selbst die kleine, zarte Kim konnte sich nur mit Mü he durch das Loch quetschen. Glü cklich auf der anderen Seite angekommen, musste sie fü r Judith das Drahtgewebe auseinanderhalten, damit sie die Schultern hindurchstecken konnte.

       Was fü r eine Scheiß e, dachte Judith. Kim hatte Recht gehabt. Es ging ihr wirklich total schlecht. Am liebsten wä re sie zu Hause geblieben, aber was hä tte das gebracht? Sie hä tte nur in ihrem stickigen Zimmer auf dem Bett gelegen und die ganze Zeit an Jan gedacht, seine Lü gen, seinen Verrat, seinen Betrug. Deshalb hatte sie ihre letzte Kraft zusammengenommen und war mit den anderen rausgegangen, um das Ende der Sommerferien zu feiern. Als ob es den geringsten Grund zum Feiern gegeben hä tte.

       Behutsam befreite sie ein paar hä ngen gebliebene rote Locken aus dem Drahtgeflecht des Zauns und trat auf die andere Seite.

       Das Erste, was sie im fahlen Licht sah, waren Hosen und T-Shirts, Chucks, Sandalen und Flip-flops, ü ber die ganze Wiese verstreut. Mehrere nackte Schatten huschten kichernd den Weg hinauf. Irgendjemand, der gedrungenen Gestalt nach zu urteilen musste es Niels sein, hatte eine kleine Taschenlampe eingeschaltet.

       Judith zö gerte, als auch Kim begann, sich auszuziehen. Kim war klein, schwarzhaarig und auf eine atemberaubende Art koreanisch. Judith wunderte sich immer, wie ein so hü bsches Mä dchen dermaß en zurü ckhaltend sein konnte. Judith glaubte, dass Kims extrem religiö se Adoptivmutter hinter dieser ü bertriebenen Schü chternheit steckte. Wenn sie gewusst hä tte, was Kim hier trieb, hä tte sie wahrscheinlich einen Herzanfall erlitten, der sie dem herbeigesehnten Paradies schlagartig ganz nahe gebracht hä tte. »Ich nehm mal an, du kommst nicht mit«, sagte Kim.

       »Nein«, sagte Judith.

       Kim zog sich das schwarze Top ü ber den Kopf. Nur den Slip ließ sie an. Sie war unschlü ssig.

       »Geh schwimmen. Ich glaube, Niels wartet schon auf dich. «

       Kim nickte und lä chelte verlegen. Dann war sie auch schon in der Dunkelheit verschwunden.

       Judith bü ckte sich nach der Taschenlampe, die Niels neben seiner kurzen Hose hatte fallen lassen, und schaltete sie ein. Der blä uliche Lichtschein warf harte Schatten. Vom Wasser her hö rte Judith das gedä mpfte Lachen der anderen.

       Judith entfernte sich von den Pools und ging an dem verlassenen Spielplatz beim Babybecken vorbei, dessen glatte Wasseroberflä che das Licht der Lampe wie ein Spiegel reflektierte. Dann glaubte sie ein Flü stern und Kichern, ein Gurren und Seufzen zu hö ren. Sie schaltete die Lampe aus und hielt die Luft an. Sofort wurde es still. Es dauerte einige quä lende Augenblicke, bis sich ihre Augen so weit an die Dunkelheit gewö hnt hatten, dass sie auch im Finstern ü ber die Wiese gehen konnte, ohne ü ber einen der Mü lleimer zu stolpern. Dann glaubte sie wieder die gleichen Gerä usche zu hö ren, leise und gedä mpft. Sie kniff die Augen zusammen und ihr wurde ein wenig schwindelig. In den vergangenen Nä chten hatte sie kaum geschlafen und daran war nicht die Hitze schuld gewesen. Vor dem tiefen Nachtgrau glaubte sie zwei Silhouetten zu erkennen. Die eine, schmal und feingliedrig, saß auf einer steinernen Tischtennisplatte, hatte die Beine um die Hü ften der anderen geschlungen und den Kopf in den Nacken geworfen. Sü ß licher Parfü mgeruch wehte zu Judith herü ber. Jan hatte sich nach vorne gebeugt und kü sste Zoeys Hals mit leidenschaftlicher Hingabe.

       Judith umklammerte den Griff der Taschenlampe fester. Ihr Atem ging schneller, ihr Puls raste. Ihr Daumen wanderte zu dem roten LED-Knopf, der diesem nä chtlichen Lustspiel im Nu ein Ende bereiten wü rde. Doch bevor sie ihn drü cken konnte, flammten mehrere Scheinwerfer auf und tauchten das ganze Freibadgelä nde in gleiß endes Licht.

       Die Tischtennisplatten waren leer. Nur eine leere Pfefferminzschachtel lag beim Netz. Als Judith danach griff, hö rte sie einen Hund bellen. Sie ließ die leere Packung fallen.

       »Judith! «, schrie Kim vom anderen Ende der Wiese. Sie zog sich hastig ihr T-Shirt ü ber den nassen Kö rper.

       Doch Judith konnte sich nicht bewegen. Die Verbindung zwischen Kopf und Beinen war irgendwie unterbrochen. Die Lampe fiel ihr aus der Hand und landete im vertrockneten Gras.

       »Judith, beeil dich! «, rief Kim noch einmal und wollte zu ihr laufen, aber ein Junge, es musste Niels sein, hatte sie am Arm gepackt. Ein Schä ferhund sprang aus dem Gestrü pp und hielt inne, als er Judith sah, die noch immer wie angewurzelt bei den Tischtennisplatten stand. Er betrachtete sie mit aufgestellten Ohren und zur Seite geneigtem Kopf.



  

© helpiks.su При использовании или копировании материалов прямая ссылка на сайт обязательна.