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 EPILOG.  DANKSAGUNG



 EPILOG

       Ein nebliges Nieseln, das zu leicht ist, um es Regen zu nennen, lä sst die Grenze zwischen der Landschaft und den tiefhä ngenden grauen Wolken verschwimmen. Die Bä ume an der Straß e sind fast Skelette, ihre dicken Ä ste treten hinter den wenigen Blä ttern deutlich hervor. Was im Sommer Weizenfelder waren, sind jetzt nur Reihen von Stoppeln, die bald untergepflü gt werden.

       Den letzten Kilometer zum Hof gehe ich zu Fuß. Nachdem der Wagen mich hier abgesetzt hat, wurde mir erst bewusst, dass ich dank der Autos, die mich bis hierher mitgenommen haben, zufä llig derselben Route gefolgt bin wie bei meiner ersten Ankunft. Ich bleibe stehen, als ich das Tor erreiche, das oben mit Stacheldraht besetzt ist, und blicke daran vorbei auf den vertrauten Weg, der zwischen den Rebstö cken verschwindet. Der Briefkasten, auf dem Arnaud steht, ist immer noch an den Pfosten genagelt, doch die weiß en Buchstaben sind mehr verblasst als in meiner Erinnerung. Und das rostige Vorhä ngeschloss, das Unbefugte am Zutritt hindern sollte, ist durch eine stabilere Konstruktion aus Messing und Stahl ersetzt worden. Ein Schild verkü ndet, dass dieses Gelä nde jetzt im Besitz der Bank ist.

       Ich reibe ü ber die verwitterten, rostigen Stä be des Tors, aber ich kann mich nicht ü berwinden drü berzusteigen. Nachdem ich jetzt hier bin, widerstrebt mir die Vorstellung weiterzugehen. Ich warte, bis ein einsamer Wagen vorbeigefahren ist, ehe ich meinen Rucksack auf die andere Seite werfe und dann ü ber den von Rost zerfressenen Stacheldraht klettere. Der einst staubige Weg ist jetzt mit Pfü tzen ü bersä t und schlammig, und ohne das schü tzende Blä tterdach kann ich schon bald das Haus zwischen den Bä umen ausmachen. Dann mü ndet der Feldweg in den Innenhof, und ich sehe, wie viel Verä nderung ein paar Monate ausmachen kö nnen.

       Der Hof ist verlassen. Keine Hü hner scharren im Dreck, als ich ihn ü berquere, und der Pritschenwagen und der Anhä nger stehen nicht mehr vor dem Stall. Die stehengebliebene Uhr am Giebel des Stalls zeigt immer noch zwanzig vor irgendwas an, und der uralte Traktor ist auch geblieben. Er ist zu alt und klapprig, als dass es sich gelohnt hä tte, ihn aus seinem vertrauten Heim zu holen. Das Haus ist verriegelt und verrammelt und sieht unter dem rostigen Gerü st noch baufä lliger aus als zuvor. Der Teil der Wand, den ich wieder instand gesetzt habe, wirkt kleiner, als ich ihn in Erinnerung habe. Eine kosmetische Korrektur, die nicht verhehlen kann, wie das ganze Gebä ude von Grund auf verrottet.

       Ich hatte Bedenken zurü ckzukommen. Jetzt, wo ich hier bin, spü re ich allerdings nicht viel. Die neue Jahreszeit und die trostlose Landschaft unterscheiden sich zu sehr von meiner Erinnerung und berauben die einst so vertraute Umgebung ihrer Macht. Hier zu sein fü hlt sich merkwü rdig fremd an, wie ein Fiebertraum.

       In den Tagen, nachdem Arnaud seiner jü ngeren Tochter eine Kugel ins Herz geschossen hatte, bin ich meine Geschichte unzä hlige Male mit der franzö sischen Polizei durchgegangen. Dann endlich waren sie ü berzeugt, dass ich ihnen alles erzä hlt hatte, was ich wusste, und ich durfte nach Groß britannien zurü ck. Ich hatte ihnen versprochen, zur Gerichtsverhandlung zurü ckzukommen. Verschwiegen hatte ich allerdings, dass es nicht meine Entscheidung war, ob ich kommen wü rde.

       Nach dem Wald und den Feldern rings um den Hof wirkte London auf mich grau und dreckig. Die Welt hatte sich wä hrend meiner Abwesenheit weitergedreht. Die Straß en brodelten, der Verkehr kroch dahin, und die Themse floss Richtung Meer. Offensichtlich war meine Rü ckkehr nur fü r mich bedeutsam. Ich hatte erwartet, dass man nach mir suchen wü rde. Dass man eine Belohnung auf meine Festnahme ausgesetzt hatte. Die Realitä t war nicht so dramatisch.

       Ich war davon ausgegangen, dass Lenny der Polizei erzä hlt hä tte, was in jener Nacht in den Docklands passiert war. Aber ich hä tte mir denken kö nnen, dass irgendwelche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, das Letzte war, was er wollte, weil das nur unangenehme Fragen mit sich bringen wü rde. Er hatte Jules’ Leichnam auf der Straß e liegen gelassen, wo er dann am nä chsten Morgen entdeckt wurde. Ohne Spuren oder Zeugen war der Fall als Fahrerflucht in die Akten eingegangen und wä re vermutlich lä ngst vergessen. Wä re ich nicht in die nä chstgelegene Polizeiwache spaziert.

       Natü rlich war es nicht zu Ende, nachdem ich mein Gestä ndnis abgelegt hatte. Es gab immer noch die Bedrohung, die von Lenny ausging, und die Frage, was er tun wü rde, wenn er von meiner Rü ckkehr erfuhr. Aber inzwischen hatte Jules’ ehemaliger Geschä ftspartner ganz andere Probleme. Ein Kriminalbeamter mit Kaffeeatem erklä rte mir, Lenny sitze in Untersuchungshaft, nachdem er bei einer Drogenrazzia hochgenommen wurde. Ihm drohte nicht nur eine Haftstrafe wegen eines Angriffs auf Polizeibeamte, sondern auch eine lä ngere Zeit im Knast, weil er als Zulieferer harte Drogen vertickt hatte.

       Ich hö rte ausdruckslos zu, als er mir das erzä hlte.

       Eine weitere Ü berraschung erwartete mich. Ich war davon ausgegangen, man werde auch mich in Untersuchungshaft stecken. Stattdessen wurde mir am Ende meiner Befragung mitgeteilt, ich kö nne auf Kaution wieder freikommen. «Sie sind aus Frankreich zurü ckgekehrt und haben sich gestellt. » Der Kommissar zuckte mit den Schultern. «Ich glaube nicht, dass bei Ihnen ein erhö htes Fluchtrisiko besteht. »

       Weil ich nicht wusste, wo ich sonst hinsollte, ging ich zurü ck in meine alte Wohnung. Fast schon erwartete ich, jemand anderes wä re dort inzwischen eingezogen, und meine Sachen wä ren lä ngst weggeworfen worden. Aber mein Schlü ssel passte noch, und als ich die Wohnung betrat, stand alles da, wo ich es zurü ckgelassen hatte. Abgesehen vom Staub und von der Post, die sich hinter der Tü r tü rmte, hä tte man glauben kö nnen, ich wä re nie weg gewesen. Die Miete war einfach jeden Monat von meinem Konto abgebucht worden. Das Geld, das ich fü r meine Reise nach Frankreich gespart hatte, war so natü rlich futsch. Die Ironie daran entging mir nicht. Aber wenigstens hatte ich jetzt ein Zuhause, bis mein Fall vor Gericht verhandelt wurde.

       Weiter im Voraus brauchte ich nicht zu planen.

       Und so trat ich wieder in die Hü lle meines alten Lebens. Ich kehrte sogar in meinen alten Job im Zed zurü ck, nachdem ich mich Sergei gegenü ber zerknirscht gezeigt hatte. Ich brauchte das Geld, aber es war ein seltsames Gefü hl. Es war gerade so, als wä ren die Ereignisse des Sommers gar nicht real. Doch sie wurden mir wieder in Erinnerung gerufen, als ich eines Tages Callum ü ber den Weg lief.

       «Hey, Sean», begrü ß te er mich. «Hab dich ja schon lange nicht gesehen. Was hast du die ganze Zeit getrieben? »

       Da erst dä mmerte es mir. Er hatte keine Ahnung, dass ich weg gewesen war. Die Leute fü hren ihr eigenes Leben, und es war eitel zu glauben, dass ich im Leben von irgendwem eine grö ß ere Rolle spielte.

       «Hast du schon Karten fü r das New Wave im Bahnhof Barbican? », fragte Callum.

       Er war ü berrascht, als ich ihm sagte, dass ich davon gar nichts mitgekriegt hatte. Frü her hä tte ich nichts Eiligeres zu tun gehabt, als mir Tickets zu besorgen, doch jetzt ließ mich die Nachricht vö llig kalt. Als ich darü ber nachdachte, fiel mir auß erdem ein, dass ich seit meiner Rü ckkehr weder im Kino gewesen noch einen Film geschaut hatte. Es war gar nicht mal eine bewusste Entscheidung; ich hatte einfach Wichtigeres zu tun.

       Chloe hä tte das gut gefunden.

       Nach all den Ä ngsten und dem, was ich mir in den dü stersten Farben ausgemalt hatte, war meine Verhandlung fast schon eine Enttä uschung. Kurz war die Rede davon, mich wegen fahrlä ssiger Tö tung zu verurteilen, aber das ließ man dann irgendwie unter den Tisch fallen. Jules’ Vergangenheit als Drogendealer und Schlä ger wie auch die Art, wie er Chloe behandelt hatte, sprachen fü r mich. Selbst die Tatsache, dass ich juristisch betrachtet sein Auto geklaut hatte, war eine Grauzone, in die sich niemand vorwagen wollte. Gegen mich sprach, dass ich kurz nach der Tat auß er Landes geflohen war, aber mein Anwalt argumentierte damit, dass ich nur zum Selbstschutz so gehandelt und aus gutem Grund Angst um mein Leben gehabt hatte. Auch wenn es lä nger gedauert hatte, bis ich mich stellte, nun … Trotzdem waren das mildernde Umstä nde.

       Ich wurde fü r schuldig befunden, weil ich einen Unfall nicht gemeldet und den Unfallort verlassen hatte. Die Strafe lautete auf sechs Monate Gefä ngnis, die zu zwei Jahren auf Bewä hrung ausgesetzt wurden.

       Ich war ein freier Mann.

       Ich blieb lange genug in London, um meine Kü ndigung einzureichen und mich von ein paar Freunden zu verabschieden. Dann ging ich. Dort hielt mich nichts mehr, und es gab immer noch etwas, das ich erledigen musste.

       Jetzt bin ich hier.

       Immer wieder rutsche ich auf dem nassen Kopfsteinpflaster weg, als ich zum Haus gehe. Die Tü r zur Vorratskammer ist geschlossen. Wasser tropft vom Gerü st auf mich herunter, wä hrend ich vor der Tü r stehe, weil ich plö tzlich sicher bin, dass sie abgeschlossen sein wird. Aber das ist sie nicht. Da drin gibt es nichts, das sich zu klauen lohnt. Die verzogene Tü r ö ffnet sich nur widerstrebend. Im Innern ist es dunkel wie immer, und das graue Tageslicht, das vom Hof hereinströ mt, kann den fensterlosen Raum nicht ausleuchten. Der rote Overall fehlt, aber sonst scheint alles unberü hrt zu sein seit meiner Abreise. Ich gehe in die Ecke, wo die Sandsä cke aufgestapelt sind. Einer steht etwas abseits, allerdings nicht so weit weg, dass es auffä llt. Ich nehme den Rucksack ab und rolle den Ä rmel hoch, ehe ich den Arm bis zum Ellenbogen im feuchten Sand vergrabe. Ich wü hle erst langsam darin, dann immer hastiger, weil ich nichts ertasten kann. Schließ lich schiebe ich meinen Arm weiter nach unten und verschü tte dabei Sand. Als ich schon ü berzeugt bin, dass ich nichts finden werde, berü hren meine Finger etwas Hartes. Ich ziehe es heraus.

       Das Pä ckchen sieht noch genauso aus wie damals, als ich es hier am Nachmittag nach dem Besuch der Gendarmen versteckt habe. Ich habe es kein einziges Mal erwä hnt, als ich immer wieder meine Geschichte bei der franzö sischen und spä ter bei der britischen Polizei erzä hlte. Ein Versä umnis, auf das ich nicht besonders stolz bin. Aber selbst wenn sie mir geglaubt hä tten, dass ich nicht wusste, was sich im Kofferraum von Jules’ Wagen befand, hä tten sie mich damit erheblich unter Druck setzen kö nnen. Ich hä tte nä mlich nicht erklä ren kö nnen, warum ich das Zeug behalten habe.

       Das weiß ich ja noch nicht mal jetzt.

       Der Vorratsraum war mir damals wie ein gutes Versteck vorgekommen, doch hatte ich nicht vorhersehen kö nnen, wie lange das Pä ckchen wü rde hierbleiben mü ssen. Seitdem war kaum ein Tag vergangen, an dem ich mich nicht geä rgert hatte, weil ich fü rchtete, man kö nne es entdecken, wenn der Raum durchsucht oder ausgerä umt wurde. Aber ich hä tte mir keine Sorgen machen mü ssen.

       Mathilde hat mein Geheimnis bewahrt, wie ich auch ihres bewahrt habe.

       Die Nachricht vom Mord an Louis und von Gretchens Tod wurde in der Stadt mit groß em Zorn aufgenommen. Aber wä hrend die Fakten rund um die Tragö die schon bald ü berall bekannt waren, blieb die Wahrheit dahinter geheim. Ehe ich in jener Nacht den Hof verließ, um die Polizei und einen Krankenwagen zu rufen, hatte Mathilde mich angefleht, nicht zu verraten, dass sie Gretchens Mutter war.

       «Versprich es mir! », hatte sie beharrt, und ihr Gesicht war vom Kummer verzerrt. «Versprich mir, es niemandem zu erzä hlen! »

       Ich hatte nichts davon hö ren wollen. Mir war nicht klar, was gewonnen war, wenn diese Wahrheit verschwiegen wurde, und die Vorstellung, Arnaud zu schü tzen, fand ich widerwä rtig. Aber Mathilde umklammerte meinen Arm, und ihre grauen Augen funkelten mich an.

       «Nicht meinetwegen. Fü r Michel! Bitte! »

       Da verstand ich. Bei allem, was sie getan hatte, galt ihre Sorge in erster Linie ihren Kindern. Es wü rde fü r ihren Sohn schon schwer genug sein, in dem Wissen aufzuwachsen, dass seine Mutter und sein Groß vater als Mö rder gebrandmarkt waren, ohne dass er ein viel schlimmeres Stigma mit sich herumtragen musste. Ich konnte ihr nicht verdenken, dass sie ihm das ersparen wollte. Und ich glaubte, es kö nnte noch einen anderen Grund fü r diese Bitte geben. Wenn die Wahrheit ü ber Gretchens Eltern ans Licht kam, wü rde das auch Fragen bezü glich Michels Vater aufwerfen. Mathilde hatte mir gesagt, er sei Louis’ Sohn, aber ich war nicht sicher, ob diese Behauptung einer Prü fung standgehalten hä tte.

       Manches lä sst man lieber im Dunkeln.

       Ich schwieg also und behielt Mathildes Geheimnis fü r mich. Der Einzige, der noch mehr Licht ins Dunkel der dü steren Geschichte des Hofs hä tte bringen kö nnen, war Georges. Kurz ü berlegte ich, wie viel der alte Schweinepfleger tatsä chlich wusste. Aber nicht mal die Polizei konnte seine Gleichgü ltigkeit durchbrechen. Er blieb dabei, dass er in all den Jahren auf dem Hof nichts gesehen, gehö rt oder mitbekommen hatte. Nur einmal zeigte er Emotionen, als seine Befragung vorbei war.

       «Was wird aus den Sanglochons? », fragte er.

       Er brach zusammen und weinte, als er erfuhr, dass sie eingeschlä fert wurden.

       Ich dachte, der Hof kö nnte nicht noch mehr enthü llen, aber da hatte ich mich geirrt. Arnaud versuchte gar nicht erst, irgendeinen der gegen ihn erhobenen Vorwü rfe zu entkrä ften, und seine Aussage zu dem Mord an Louis passte zu der von Mathilde. Bis auf ein Detail.

       Er behauptete, er habe ihn ermordet.

       Laut Arnaud war Louis wieder zu Bewusstsein gekommen, als er mit ihm in der Schlachthü tte war. Offensichtlich war er durch Mathildes Schlag nur betä ubt worden. Er hatte das Werk seiner Tochter also vollendet, danach den Leichnam entbeint und an die Sanglochons verfü ttert. Als die Polizei ihn fragte, warum er das getan hatte, war seine Antwort gewohnt freimü tig:

       «Ein Schwein ist wie das andere. »

       Es ist gut mö glich, dass er gelogen hat, um die Schuld auf sich zu nehmen und Mathilde zu schü tzen. Aber es fä llt mir schwer, das zu glauben. Wenn man bedenkt, was fü r ein Mann er war, ist es wahrscheinlicher, dass er die eigene Tochter in dem Glauben gelassen hä tte, sie hä tte ihren Liebhaber getö tet. Das wü rde sie nä mlich noch mehr an ihn binden, und diese beilä ufige Grausamkeit passte besser zu dem Arnaud, den ich kannte. Warum er plö tzlich gestanden hat? Vermutlich war er resigniert, jetzt, da er alles verloren hatte.

       Mathilde hatte ihm den Rest gegeben, als sie Jean-Claude und seine Frau fragte, ob sie Michel adoptieren wollten.

       Ich war entsetzt, als ich davon erfuhr. Doch irgendwie ergab auch das Sinn. Obwohl ich kaum ermessen kann, was fü r ein groß es Opfer es fü r sie war, ihren Sohn aufzugeben, wü rde Michel sie kaum mehr erkennen, wenn sie aus dem Gefä ngnis kam – und das auch nur, wenn das Gericht eine milde Strafe verhä ngte. Sie stellte also wieder einmal die Interessen anderer ü ber ihre eigenen. Jean-Claude wü rde Michel ein gutes Zuhause bieten und, was mindestens genauso wichtig war, einen Neuanfang. Arnaud hingegen wü rde es noch viel mehr schmerzen als jede Gefä ngnisstrafe, wenn sein geliebter Enkel von Louis’ Bruder aufgezogen wurde.

       Wie alles an ihr war Mathildes Rache eher subtil.

       Ich erkannte den alten und gebrochenen Mann kaum wieder, der vor Gericht stand. Die Haut hing schlaff wie ein schlechtsitzender Anzug von seinen Knochen, und zwischen Kinn und Hals wabbelte ein Kehllappen. Aber es waren seine Augen, die die Verä nderung am deutlichsten zeigten. Der stä hlerne Blick war verschwunden, und seine Augen waren von Zweifeln und Verlustä ngsten getrü bt.

       Nur einmal flackerte der Arnaud auf, den ich kannte: Als die Anklage verlesen wurde, hob er den Kopf und blickte sich mit jener altbekannten Verachtung im Gerichtssaal um. Dann begegneten seine Augen denen seiner Tochter. Undurchdringlich und ruhig schaute sie zurü ck, bis er den Blick senkte.

       Wenn die Verurteilung Arnauds unausweichlich schien, erstaunte es mich doch, dass Mathilde fast dieselbe Strafe bekam wie ihr Vater. Auch wenn sie nicht selbst den tö dlichen Schlag ausgefü hrt hatte, blieb der Vorwurf der Vertuschung eines Mords. Und ohne den Hintergrund eines lebenslangen Missbrauchs, der zu ihren Gunsten gesprochen hä tte, erschien ihre Rolle bei der Ermordung Louis’ in einem grellen Licht. Als ihr Strafmaß verkü ndet wurde, blieb sie ä uß erlich ruhig, obwohl ich sah, wie ihre Hand zitterte, als sie sich eine Strä hne hinters Ohr schob. Ich beobachtete sie und fü hlte mich hilflos, als sie abgefü hrt wurde. Als sie die Tü r erreichte, blickte sie mich fü r einen winzigen Moment an.

       Dann schloss sich die Tü r, und sie war fort.

       Ich wische den Sand von der Plastikverpackung und verlasse die Kammer. Das Nieseln ist zu einem ausgewachsenen Regen geworden, als ich den Hof ü berquere und zur Scheune gehe. Das Wasser tropft vom Tor, als ich im Innern meinen Rucksack gegen die Wand lehne. Das dunkle Innere ist so kalt und feucht, als hä tte es nie einen Sommer gegeben. Im Dä mmerlicht kann ich das gedä mpfte Funkeln der Weinflaschen im Holzregal ausmachen. Zu sauer, als dass sich irgendwer dafü r interessiert hä tte. Die Stelle aus Beton ist kleiner als in meiner Erinnerung, und den Riss hat immer noch niemand repariert. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, ein letztes Mal nach oben auf den Dachboden zu steigen. Aber jetzt scheint das keinen Sinn mehr zu ergeben. Stattdessen lasse ich meinen Rucksack in der Scheune zurü ck und folge dem Feldweg zum See.

       Der Boden ist matschig und aufgewü hlt, und die kahlen Rebstö cke sind nur Reihen mit verschlungenen Drä hten. Auch der Wald ist nicht mehr das dichte, grü ne Blä tterdach, an das ich mich erinnere, die Kastanien sind kahl, und unter ihren tropfenden Zweigen liegt ein Bett aus toten Blä ttern und stacheligen Schalen.

       Dieses Jahr gibt es keine Ernte.

       Als ich die Gabelung ü berquere, wo es zu den Sanglochonpferchen geht, verlangsame ich meine Schritte nicht. Ich verspü re nicht den Wunsch, dort noch einmal hinzugehen. Erst als ich an den Statuen vorbeikomme, bleibe ich stehen. Ich hä tte gedacht, sie wä ren lä ngst fort, aber hier stehen sie. Unverä ndert und offensichtlich von niemandem vermisst. Ich versuche mich daran zu erinnern, wie das war, als ich mich in jener Nacht vor Arnaud versteckte. Ich will etwas von der Unsicherheit und der Angst spü ren, aber es geht nicht. Im grauen Tageslicht sind die Statuen einfach nur in Stein gehauene weltliche Objekte. Ich wende mich ab und gehe weiter zum See.

       Das Wasser ist grau und vom Wind aufgepeitscht. Am Ende des Felsvorsprungs ist der Boden von schweren Reifen aufgewü hlt. Ich stehe unter den kahlen Zweigen der alten Kastanie und starre auf den vom Regen aufgerissenen See. Ich kann nicht mehr unter die Wasseroberflä che sehen, aber da ist auch nichts mehr. Louis’ Pick-up ist schon vor langer Zeit aus dem Wasser gezogen und weggebracht worden.

       Das Plastikpä ckchen in meiner Hand fü hlt sich schwer und kompakt an. Meine Gefü hle bezü glich dieses Pä ckchens sind zwiespä ltig. Daran hat sich nichts geä ndert, seit ich es im Kofferraum gefunden habe. Ich hatte im Laufe des Sommers zahlreiche Mö glichkeiten, es loszuwerden, doch ich habe es nie getan. Ich kö nnte mir einreden, dass es schlicht Feigheit war oder eine Art Lebensversicherung, falls Lenny oder ein anderer von Jules’ Geschä ftspartnern es zurü ckhaben wollte. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Es ist wie mit einem Stein, den man umdreht, weil man wissen will, was sich darunter verbirgt, schließ lich bin ich hier gelandet, um mich dem wahren Grund dafü r zu stellen, warum ich es die ganze Zeit behalten habe.

       Ich konnte mich nicht dazu bringen, es loszuwerden.

       Ich habe absolut keine Ahnung, was es wert ist, aber auf jeden Fall brä chte es mehr Geld, als ich jemals in der Hand gehalten habe. Genug, um damit ein neues Leben zu beginnen. Und wegen Jules’ Tod und Lennys Gefä ngnisstrafe gibt es niemanden mehr, der es fü r sich beanspruchen kö nnte. Ich bin lange genug in London geblieben. Sie hä tten mich finden kö nnen, wenn da noch jemand wä re. Ich wiege das Pä ckchen in der Hand und spü re all die Mö glichkeiten, die unter dem knisternden Plastik auf mich warten. Dann hole ich aus und werfe es so weit in den See, wie ich kann.

       Es fliegt in hohem Bogen ü ber den grauen Himmel, ehe es mit einem kleinen, unbedeutenden Platschen im Wasser landet.

       Ich ramme die Hä nde in meine Hosentaschen und beobachte die Wellen, die sich in alle Richtungen ausbreiten. Erst als nichts mehr zu sehen ist, wende ich mich ab. Chloe hat keine zweite Chance bekommen und Gretchen auch nicht. Ich werde meine nicht vergeuden. Ich folge meiner eigenen Spur durch den Wald. Nachdem ich aus der Scheune meinen Rucksack geholt habe, gehe ich zurü ck zum Haus. Ich habe getan, weshalb ich hergekommen bin. Aber es gibt noch etwas, das ich sehen will, ehe ich endgü ltig gehe.

       Der Kü chengarten ist nicht wiederzuerkennen. Die Ziegen und Hü hner sind verschwunden, und die ordentlichen Pflanzreihen sind entweder verdorrt oder wild gewuchert. Das kleine Blumenbeet ist inzwischen vö llig verwildert, aber selbst so spä t im Jahr gibt es noch einige bunte Blü ten. Ich stehe davor, schaue auf das kleine Beet und denke an die Traurigkeit, die ich auf Mathildes Gesicht bemerkt habe, wä hrend sie dieses kleine Fleckchen Erde pflegte. Als wü rde sie einen Schrein hü ten.

       Oder ein Grab pflegen.

       Mathilde hat nie erzä hlt, was ihr Vater mit den Gebeinen ihrer angeblich totgeborenen Tochter gemacht hat. Die Polizei wusste nur von dem Mord an Louis. Das kleine Blumenbeet blieb also unberü hrt. Doch sosehr ich mich auch bemü he, ich kann mir nicht vorstellen, wie Arnaud den Beweis fü r sein Verbrechen hier verscharrt hat, wo man ihn so leicht finden kann. Besonders, wenn er doch eine viel bessere Methode hatte, sich dessen zu entledigen – wie er ja bei Louis bewiesen hatte. Ich bezweifle, dass es fü r ihn einen Unterschied machte, sein eigen Fleisch und Blut so zu entsorgen.

       Nicht, wenn es nur wieder eine Tochter war.

       Das alles ist nur Spekulation, aber es gibt auch noch andere unbeantwortete Fragen. Selbst jetzt kann ich nicht sagen, ob ich in jenem Moment in der Hü tte wirklich gehö rt habe, wie Mathilde das Schlachtermesser vom Betonblock genommen hat. Ich will das nicht glauben, aber dann fä llt mir wieder ein, was sie alles getan hat, um ihre Familie zu beschü tzen. Nachdem ich Louis’ Wagen im See gefunden habe, hatte sie nichts mehr zu verlieren, wenn sie mir den Rest erzä hlte. Sie hoffte sogar, mir Gretchen anvertrauen zu kö nnen. Aber nachdem ich das abgelehnt hatte – hä tte sie mir dann noch erlaubt, den Hof zu verlassen, zumal ich doch Bescheid wusste?

       In optimistischen Momenten rede ich mir ein, dass sie das getan hä tte. Sie hatte mir schon einmal das Leben gerettet, als ich in die Falle geriet. Doch damals war ich eher eine Mö glichkeit gewesen und weniger eine Bedrohung. In den dunkleren Momenten denke ich darü ber nach, was sie wohl gemacht hä tte, wenn sich mein Zustand verschlechtert hä tte. Wä re sie wirklich darum bemü ht gewesen, mir eine richtige medizinische Versorgung zu ermö glichen, wie sie behauptet hatte? Mit allen damit verbundenen Risiken? Oder wä re ich wie Louis geendet? Eine Mahlzeit fü r die Sanglochons ihres Vaters?

       Ich weiß es nicht. Vielleicht haben mich die Geheimnisse des Hofs inzwischen so verdorben, dass ich auch da welche sehe, wo keine existieren. Und meine eigenen Taten geben mir nicht das moralische Recht, darü ber zu urteilen. In der Nacht in der Hü tte, als ich glaubte, Mathilde habe das Messer vom Block genommen, galt mein erster Gedanke dem Hammer, mit dem Georges die Sau betä ubt hatte. Wenn Michel uns nicht in jenem Moment Gretchens Anwesenheit verraten hä tte, hä tte ich ihn dann zur Hand genommen?

       Ihn benutzt?

       Vor nicht allzu langer Zeit hä tte ich das verneint, aber das war vor Jules. Obwohl ich ihn nicht umbringen wollte, frage ich mich, ob das einen Unterschied macht. Wenn ich gewusst hä tte, was passierte, wenn ich Gas gab, wenn ich mir die einfache Frage gestellt hä tte, ob er oder ich ü berleben sollte, hä tte ich dann irgendwie anders gehandelt? Nicht leicht zu beantworten. Unter der Oberflä che sind wir alle Tiere. Das will die Gesellschaft, die Arnaud so verabscheut, gerne verbergen. Die Wahrheit ist aber, dass keiner von uns weiß, wozu er im Grunde in der Lage ist.

       Wenn wir Glü ck haben, finden wir es nie heraus.

       Einer Eingebung folgend, hocke ich mich hin und beginne, das Unkraut im Blumenbeet zu rupfen. Ich weiß nicht, warum ich das mache, aber es fü hlt sich richtig an. Als die frü here Ordnung halbwegs hergestellt ist, stehe ich auf und blicke mich ein letztes Mal um. Dann wische ich mir die Erde von den Hä nden und gehe zurü ck in den Hof. Ich pfeife.

       «Lulu! Komm her, Sü ß e! »

       Der Spaniel kommt hinter dem Stallgebä ude hervorgeschossen, wo sie herumgeschnü ffelt hat. Das fehlende Hinterbein behindert sie kaum, und ihre Begeisterung bringt mich zum Lä cheln. Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, sie zu mir zu nehmen, aber sonst wollte niemand sie, und der Tierarzt konnte sie nicht ewig behalten. Ich musste es einfach tun, denn sonst wä re sie vermutlich eingeschlä fert worden. Auß erdem ist es schon ü berraschend, wie viel leichter es ist, per Anhalter zu reisen, wenn man als Reisegefä hrten einen dreibeinigen Hund bei sich hat.

       Als wir an dem Haus vorbei zurü ckgehen, bleibt sie vor der Kü chentü r stehen und winselt. Aber sie hä lt sich nicht lange auf und folgt mir schon bald aus dem Innenhof auf den Weg.

       Lulu schlü pft unter dem Tor hindurch, wä hrend ich drü berklettere. Sobald wir auf der anderen Seite sind, schaue ich die Straß e rauf und runter. Keine Autos in Sicht. Der Spaniel beobachtet mich mit aufgestellten Ohren und wackelt aufmerksam mit dem Schwanz, wä hrend er darauf wartet, fü r welche Richtung ich mich entscheide. Nur wenn er lange stehen muss, ist das fehlende Bein ein Problem.

       Solange wir in Bewegung bleiben, geht es ihm gut.


[zur Inhaltsü bersicht]


 DANKSAGUNG

       Selbst fü r meine Verhä ltnisse habe ich fü r den Roman Der Hof ziemlich lange gebraucht. Zu den Leuten, die mir dabei geholfen haben, gehö ren SCF, Ben Steiner, meine Agenten Mic Chatham und Simon Kavanagh und alle bei der Marsh Agency, mein Lektor Simon Taylor bei Transworld und meine Eltern Sheila und Frank Beckett.

       Wie immer danke ich besonders meiner Frau Hilary, ohne deren Hilfe und Unterstü tzung – nicht zu vergessen ihre Geduld – das hier niemals hä tte geschrieben werden kö nnen.

           

       Simon Beckett, im September 2013


[zur Inhaltsü bersicht]




  

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