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LONDON.  KAPITEL 19



LONDON

       Es ist dunkel, als ich in den Docklands ankomme. Ich habe keine Ahnung, wie spä t es ist, und die Ziffern meiner Uhr formen einen unleserlichen Code. Aber es ist spä t. Die Bars und Restaurants, an denen ich vorbeikomme, haben bereits geschlossen. Das einzige Gerä usch in der Nacht sind meine Schritte.

       Ich habe jene Stufe der Pseudoklarheit erreicht, die sich irgendwie nü chtern anfü hlt. Jez sagte, das Fitnessstudio sei neben einem ungenutzten Kai, aber nachdem ich eine Weile ziellos herumgelaufen bin, habe ich mich vö llig verlaufen. Die Gegend ist ein Gewirr aus unbeleuchteten Hochhä usern, restaurierten Hafengebä uden und baufä lligen Lagerhallen, die bei der halbherzigen Erneuerung ü bersehen wurden.

       So langsam begreife ich, wie dumm das alles ist. Selbst wenn ich Jules finde, was soll ich dann machen? Jede Vorstellung von Rache kommt mir jetzt pathetisch vor; alkoholgeschwä ngerte Phantasie, um meine Schuldgefü hle verstummen zu lassen. Wä hrend ich durch die leeren Straß en gehe, hallen Yasmins Anschuldigungen als Dauerschleife in meinem Kopf wider. Du hast sie verlassen. Sie wollte es dir leicht machen, und du hast ihr das erlaubt, stimmt’s? Stimmte das wirklich? Ist es wirklich so geschehen? Ich weiß es nicht mehr. Die Vorstellung, das Baby kö nne meins gewesen sein, erzeugt einen Schmerz unter meinem Brustbein. Ich bin immer wieder alles durchgegangen, was Chloe ü ber ihre Schwangerschaft gesagt hat, und habe versucht, die Wahrheit zu ergrü nden. Sosehr ich daran glauben will, dass Yasmin mir damit einfach weh tun wollte, weiß ich, dass nicht Jules an allem schuld ist.

       Ein heraufziehender Kater pocht schmerzhaft in meinen Schlä fen. Ich bin mü de, ich bin krank vor Reue und Selbsthass. Ich will nur noch zurü ck in meine Wohnung, aber ich habe keine Ahnung, wohin ich mich wenden muss. Fü r mich sehen die Straß en alle gleich aus; Tunnel aus Ziegelsteinen, Chrom und Glas, die allzu oft in Sackgassen aus dunklem Wasser und stillen Booten enden.

       Dann gehe ich um die nä chste Ecke und sehe am anderen Ende der Straß e Licht aus einer offenen Tü r fallen. Darü ber ist ein Fenster erleuchtet, und auf der anderen Straß enseite parkt ein Wagen. Ansonsten ist die Straß e verlassen. Ich gehe darauf zu und hoffe, dort jemanden zu finden, der mir sagen kann, wo ich bin. Ich habe mich inzwischen von der reicheren Ecke der Docklands ziemlich weit entfernt. Abgesehen von dem Lagerhaus mit dem einsamen beleuchteten Fenster sind alle umliegenden Gebä ude baufä llig. Hinter einem eingezä unten Stü ck Brachland schimmert das schwarze Wasser, und an einem kleinen Kai sind die geisterhaften Silhouetten vertä uter Boote zu erkennen. Aber erst als ich die Anzeigetafel des Unternehmers vor dem Lagerhaus und die skelettartigen Formen der Fitnessgerä te im Innern durch das Erdgeschossfenster erkenne, beginne ich zu begreifen, was ich hier sehe. Ich verlangsame meine Schritte und kann immer noch nicht glauben, dass es das ist, wofü r ich es halte. Und dann kommt jemand aus der Tü r und geht zu dem Wagen.

       Das elektronische Piepen beim Entriegeln der Zentralverriegelung hallt weithin hö rbar durch die Nacht. Ich bin stehen geblieben und beobachte den Mann, der zum Kofferraum geht und ihn ö ffnet. Ich verliere ihn kurz aus den Augen, doch dann schlä gt er den Kofferraum zu, geht zur Fahrerseite und steigt ein. Reglos stehe ich da. Ich bin keine zehn Meter von ihm entfernt und erkenne Jules eindeutig im gedä mpften Licht der Innenbeleuchtung. Das bisschen Mut, mit dem ich mich auf den Weg machte, um ihn mit Chloes Tod zu konfrontieren, ist verschwunden. Er ist hinter dem Lenkrad zusammengesackt. Nichts Selbstgefä lliges oder Arrogantes haftet ihm jetzt noch an. Das stoppelige Gesicht sieht mü de und abgespannt aus. Seine Augen sind von tiefen Schatten umgeben.

       Ich wage nicht, mich zu bewegen, damit er mich nicht entdeckt. Also warte ich. Doch statt loszufahren, kramt er im Innern des Wagens. Was er macht, merke ich erst, als er den Kopf nach unten beugt, einen Finger gegen sein Nasenloch presst und etwas von seinem Handrü cken schnupft. Plö tzlich wirkt er entschlossener, richtet sich auf und startet den Motor. Im nä chsten Moment wird die Straß e von Halogenscheinwerfern bestrahlt.

       Und ich stehe voll im Lichtkegel.

       Ich beschatte die Augen vor dem grellen Licht und hoffe selbst jetzt, er kö nnte mich vielleicht ü bersehen. Oder mich zumindest nicht erkennen. Einen Augenblick lang passiert nichts. Dann werden Motor und Scheinwerfer ausgeschaltet. Ich versuche, das Nachbild wegzublinzeln, das sich mir in die Netzhaut eingebrannt hat. Die Autotü r geht auf. Jules steigt aus und stellt sich vor den Wagen.

       «Was zum Teufel haben Sie hier zu suchen? »

       Immer noch geblendet, starre ich auf seine Silhouette. «Chloe ist tot. »

       An mehr kann ich nicht denken. Er schweigt. Ein, zwei Sekunden lang hoffe ich wirklich, wir kö nnten unsere Rivalitä t beiseiteschieben und einfach darü ber reden.

       «Und? »

       «Haben Sie das gewusst? »

       «Ja. Wenn Sie nur deshalb hergekommen sind, kö nnen Sie gerne wieder gehen. »

       Die Wut, die bereits abgeklungen war, steigt wieder in mir auf. «Was haben Sie ihr angetan? »

       «Ich habe gar nichts getan. Das hat sie sich alles selbst zuzuschreiben. Darum nennt man es schließ lich Selbstmord. Warum tun Sie uns beiden nicht einen Gefallen und verschwinden? Ich hab echt keine Lust auf eine Moralpredigt. »

       «Sie haben sie rausgeschmissen. »

       «Und deshalb ist es meine Schuld, wenn sie von der Brü cke springt? » Hinter seiner Aggression lauert etwas Defensives. «Was geht Sie das ü berhaupt an? Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie so besorgt um sie waren, als Sie sie verlassen haben. Wenn Sie jemandem die Schuld geben wollen, schauen Sie in einen verfluchten Spiegel! »

       «Wussten Sie, dass sie eine Abtreibung hatte? »

       Darauf antwortet er mit Schweigen. Meine Augen haben sich genü gend an die Dunkelheit gewö hnt, und ich sehe, wie er mit den Schultern zuckt. «Ja und? »

       «Sie sagte, es war Ihr Kind. »

       «Echt? Dann hä tte sie wohl besser aufpassen mü ssen. Wenigstens hatte sie so viel Verstand, es loszuwerden. » Die Abgebrü htheit klingt gezwungen, aber sie macht schnell der Wut Platz. «Und Sie wollen wissen, warum ich sie rausgeworfen habe? Weil sie eine verfluchte Belastung wurde. Sie war eine Enttä uschung! Sie wollen also, dass ich traurig bin, weil so eine Koksnase sich nicht zusammenreiß en konnte? »

       «Und wer hat das aus ihr gemacht? »

       Dieses Mal ist sein Schweigen bedrohlich. «Sie passen lieber auf, was Sie sagen. »

       «Sie haben sie erst angefixt und dann fallen lassen, als sie nicht mehr nach Ihrer Pfeife tanzen wollte. Sie glauben wohl, ich weiß das nicht? »

       «Letzte Chance. Halten Sie das Maul und verschwinden Sie. »

       «Warum? Damit Sie in Ruhe jemand anderen dazu bringen kö nnen, fü r Sie den Kurier zu spielen? »

       Fü r einen Moment ist nur unser Atem zu hö ren. Dann dreht Jules sich wieder zu seinem Auto um. Ich glaube, er fä hrt weg, aber stattdessen geht er zur Beifahrerseite. Er ö ffnet die Tü r und beugt sich hinein und holt etwas Langes heraus.

       «Ich habe Sie gewarnt», sagt er und kommt auf mich zu.

       Ein Baseballschlä ger.

       Die Situation wirkt plö tzlich sehr unwirklich. Ich mache einen Schritt nach hinten, und als ob er nur auf diesen Gedanken gewartet hä tte, stü rzt er sich mit einem Schrei auf mich. Als er mit dem Baseballschlä ger ausholt, versuche ich auszuweichen und schreie vor Entsetzen und Schmerz auf, als der Schlä ger auf meinen erhobenen Arm niedersaust. Ich stolpere rü ckwä rts, und Jules schlä gt wild um sich. Er verfehlt mich hä ufiger, als er mich trifft. Glas klirrt, als ich ü ber eine Kiste mit leeren Flaschen stolpere. Ich verliere das Gleichgewicht und schaffe es mit Mü h und Not, den Arm rechtzeitig zu heben, ehe der Schlä ger meinen Kopf trifft. Er gleitet von meiner Schulter ab und trifft mich an der Wange. Ich sehe einen hellen Lichtblitz, dann falle ich hin. Ich lande ungelenk, und die Flaschen schieß en ü ber den Asphalt. Vor Panik wie gelä hmt, versuche ich wegzukriechen. Vergeblich. Jules steht ü ber mir und hebt mit verzerrtem Gesicht den Schlä ger.

       «Verdammt, was ist hier los? »

       Der Ruf kommt von der anderen Straß enseite. Eine groß e Gestalt steht in derselben Tü r, durch die Jules gekommen ist, und blockiert das Licht. Als der Mann auf die Straß e tritt, erkenne ich ihn. Lenny.

       «Das ist der Schlappschwanz aus dem Zed», keucht Jules und hä lt den Baseballschlä ger weiterhin hoch, als wollte er im nä chsten Moment zuschlagen. Aber er wartet auf das, was sein Partner sagt.

       «Was hat er hier zu suchen? »

       «Er hat von der Sache mit Chloe gehö rt und will mich verantwortlich machen, weil …»

       «Verdammt noch mal», murmelt Lenny und ü berquert die Straß e. Etwas Beä ngstigendes geht von der zielgerichteten Art aus, wie er ohne Eile zu uns kommt. Jules ist immer noch abgelenkt, und ich nutze die Gelegenheit, packe eine der Flaschen, die um mich auf dem Boden liegen, und ziele damit auf seinen Kopf. Er sieht die Flasche kommen und duckt sich. Als sie hinter ihm zerschellt und er sich umdreht, springe ich auf und renne hinterher. Jemand schreit, ich schieß e an ihm vorbei und spü re den Luftzug von dem Schlä ger, der meinen Kopf so knapp verfehlt, dass er meine Haare streift. Ich hö re Jules’ Schritte direkt hinter mir, wä hrend Lenny die Straß e diagonal ü berquert, um mir den Weg abzuschneiden. Ich kann nirgendwo hin. Vor mir ist jetzt nur noch Jules’ Wagen, und die Beifahrertü r steht immer noch offen. Ich werfe mich hinein und versuche, die Tü r hinter mir zuzuziehen, aber Jules streckt den Arm hinein. Er schreit auf, als ich an der Tü r reiß e. Blut spritzt auf, Knochen und Knorpel zersplittern. Seine Hand tastet blind nach mir, wä hrend ich den Griff mit aller Kraft zu mir ziehe, damit er sich nicht befreien kann. Inzwischen hat Lenny uns fast erreicht. Ich kann nicht beide von mir fernhalten. Darum stoß e ich die Tü r in Jules’ Richtung, als er den Baseballschlä ger fallen lä sst, um sich aus der Tü r zu befreien. Er stolpert rü ckwä rts, und als sein Arm die Tü rö ffnung freigibt, knalle ich sie zu.

       Das hö rbare Schnappen der Verriegelung ist ein wunderschö nes Gerä usch. Die Knö pfe rasten ein. Dann erbebt der Wagen, weil Jules sich dagegenwirft.

       «Mach die verdammte Tü r auf! », schreit er und hä mmert gegen die Scheibe. «Du bist tot, hö rst du? Du bist so was von tot! »

       Ich liege auf beiden Vordersitzen und schnappe nach Luft. Dann richte ich mich auf. Mein Ellenbogen stö ß t gegen etwas. Ich schaue zum Lenkrad hinü ber und sehe jetzt, warum Jules nicht lä ngst den Schlü ssel benutzt hat, um den Wagen zu entriegeln.

       Er steckt noch im Zü ndschloss.

       Ich krieche auf den Fahrersitz, wä hrend Jules weiter gegen das Fenster bollert. Sein Arm ist blutig, wo er ihn sich in der Tü r eingeklemmt hat.

       «Wage das bloß nicht! »

       Meine Hä nde zittern, als ich den Schlü ssel drehe und den Fuß nach unten durchdrü cke. Der Wagen schieß t vor und wird abgewü rgt. Scheiß e. Scheiß e! Ich verziehe das Gesicht, weil plö tzlich etwas gegen die Fahrertü r knallt. Lenny versucht, mit dem Ellenbogen die Scheibe einzuschlagen. Der Wagen wippt, weil Jules an der anderen Tü r zerrt und schreit, wä hrend ich erneut den Schlü ssel drehe.

       «Nein, warte! Tu das nicht …»

       Der Motor heult laut auf. Lenny bü ckt sich und hebt den Baseballschlä ger auf, aber ich beschleunige bereits. Er tritt zurü ck, doch Jules rennt neben dem Wagen her, hä mmert gegen die Scheibe und brü llt. Als ich das Gaspedal durchtrete, verschwindet er plö tzlich. Einen Moment lang erlaube ich mir, erleichtert zu sein, doch dann wird mir das Lenkrad fast aus der Hand gerissen, weil der Wagen bockt und ruckelt. Ein Klappern kommt von der Beifahrerseite, als habe sich etwas im Radlauf verfangen. Das Ruckeln hö rt auf, als ich so heftig bremse, dass es mich nach vorne wirft. Kreischend kommt der Wagen zum Stehen. Ich drehe mich um, aber niemand ist am Wagen. Im Rü ckspiegel kann ich Lenny sehen, der in einiger Entfernung auf der Straß e steht.

       Von Jules ist nichts zu sehen.

       Der Motor schnurrt leise. Ich schaue zur Beifahrerseite. Der Sicherheitsgurt hat sich in der Tü r verfangen und sich abgespult und verdreht wie ein kleiner Galgenstrick. Als ich ü ber den Sitz greife und die Tü r ö ffne, kriecht er trä ge ü ber den Sitz und wickelt sich wieder auf, doch der Mechanismus ist beschä digt, und schon bald hä lt er an. Ich starre auf den ausgefransten Gurt und denke an Jules’ Arm, wie er in der Tü r geklemmt hat. Wie er gegen das Fenster hä mmerte, als ich beschleunigte.

       Ich lasse den Motor laufen und steige aus dem Wagen.

       Lenny starrt auf etwas, das im Rinnstein liegt. Es bewegt sich nicht, und im Licht einer Straß enlaterne erkenne ich, wie verdreht die Gliedmaß en sind. Etwas Schwarzes und Scheuß liches breitet sich ringsum aus und glä nzt wie Ö l. Jeder Zweifel, den ich vielleicht noch gehabt habe, wird von Lennys fehlender Wut weggewischt. Er hebt nur den Kopf und sieht mich mit einer Ruhe an, bei der es mir kalt ü ber den Rü cken lä uft. Er hä lt immer noch den Baseballschlä ger, und ich weiche zurü ck, als er mit einer Entschlossenheit auf mich zukommt, die mir kalte Schauer ü ber den Rü cken jagt. Die Fahrertü r schlä gt gegen meine Beine, als ich zurü ckweiche. Dann steige ich wieder in den Wagen und lasse den Motor aufheulen.

       Wä hrend ich die Straß e entlangrase, schaue ich ein letztes Mal in den Rü ckspiegel. Lenny steht in der Mitte der Straß e und starrt hinter mir her.

       Ich fahre, bis ich das Gefü hl habe, weit genug weg zu sein. Dann fahre ich links ran und ö ffne die Tü r gerade rechtzeitig, ehe ich mich ü bergeben muss. Ich hä nge halb aus der Tü r und spucke bittere Galle auf die Straß e. Als die Krä mpfe nachlassen, greife ich nach meinem Handy und will einen Krankenwagen rufen. Fü r Jules werden sie nichts mehr tun kö nnen, aber ich laufe jetzt nur noch auf Autopilot, gehorche dem Pawlow’schen Reflex eines braven Bü rgers. Auß erdem weiß ich nicht, was ich sonst tun soll.

       Aber mein Telefon ist kaputt. Das Display hat einen Riss, und das Gehä use zerfä llt fast in meinen Hä nden. Ich weiß nicht, wann das passiert ist, aber es ist hinü ber. Ich fahre weiter und will an der ersten ö ffentlichen Telefonzelle haltmachen, an der ich vorbeikomme. Was allerdings nicht passiert. Heftiger Regen setzt ein, und ich schalte die Scheibenwischer an. Die Welt da drauß en verschwindet hinter einem impressionistischen Schleier. Ich habe das Gefü hl, in einem Albtraum gefangen zu sein, aber langsam beginnt mein Verstand, die Kontrolle wieder zu ü bernehmen. Schon bald kann ich klar denken. Wenigstens hat es zunä chst den Anschein.

       Es regnet immer noch, aber die erste Rö te eines heraufdä mmernden Sommertags erleuchtet den Himmel, als ich vor meiner Wohnung parke. Fiebrig vor Eile gehe ich ins Haus. Ich zittere am ganzen Kö rper, mir tut alles weh. Aber hierbleiben kann ich nicht. Lenny weiß, wer ich bin, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er oder seine Geschä ftspartner mich ausfindig machen. Ich kann mich nicht mal selbst der Polizei stellen, denn nach dem, was Jez mir erzä hlt hat, wird es im Gefä ngnis fü r mich kaum sicherer sein. Es gibt nur eine Sache, die ich jetzt noch tun kann.

       Ich suche meine Klamotten zusammen und das bisschen Bargeld, das ich im Haus habe, und stopfe alles in meinen Rucksack. In letzter Minute denke ich daran, meinen Reisepass einzustecken. Ich schaue mich ein letztes Mal in der kleinen Wohnung mit den Regalen voller DVDs und den Filmpostern an den Wä nden um. Die seltene Reproduktion des Plakats zu Rififi oder ein Druck von Vadims … und ewig lockt das Weib mit einer schrecklich atemlosen Bardot, der mich mein letztes Hemd gekostet hat. Nichts von alledem scheint jetzt noch wichtig zu sein.

       Ich schließ e die Tü r und haste nach drauß en, wo ich Jules’ Wagen geparkt habe. Ein Audi; schnittig und teuer. Ich sehe nicht wie der Typ aus, dem so ein teures Auto gehö rt, aber der Wunsch, schleunigst von hier zu verschwinden, ist ü berwä ltigend.

       Fü r mich gibt es keinen Zweifel, wohin ich fliehen werde. Ich werfe meinen Rucksack in den Kofferraum und ö ffne die Fahrertü r. Erst jetzt zö gere ich. Ich will nicht sehen, wie die Beifahrerseite des Wagens aussieht, aber ich kann nicht losfahren, ohne es gesehen zu haben. Ich schaue mich nach allen Seiten um. Die Straß e ist menschenleer. Also umrunde ich den Wagen. Der schwarze Lack ist rings um den Radkasten des Hinterrads zerkratzt und ausgebeult. Aber nicht so sehr, dass es unerwü nschte Aufmerksamkeit auf sich ziehen kö nnte, und der Regen hat das, was an Blut da gewesen ist, inzwischen abgewaschen.

       Nichts weist auf das hin, was ich getan habe.

       Es ist noch zu frü h fü r den morgendlichen Stoß verkehr, und ich komme bis zum Fä hrhafen in Dover gut durch. Jetzt erst lä sst der Schock nach. Ich bin verkatert und erschö pft, und von dem Kampf tut mir alles weh. Als ich fü r mich und den Wagen die Fahrkarte kaufe, kommt mir der Gedanke, dass ich damit eine Spur hinterlassen kö nnte. Ich hä tte den Wagen irgendwo abstellen sollen und bin von meiner eigenen Dummheit wie betä ubt.

       Aber keine Sirenen heulen auf, niemand schlä gt Alarm. Ich steuere das Auto eines toten Mannes in den riesigen Metallbauch der Fä hre, gehe dann nach oben an Deck und beobachte, wie die weiß en Felsen langsam in der Ferne verschwinden.

       Wenige Stunden spä ter trampe ich unter der weiß glü henden Sonne auf einer staubigen Straß e in Frankreich.


[zur Inhaltsü bersicht]


 KAPITEL 19

       Ich brauche nicht lange, um zu packen. Meine Klamotten und die wenigen Habseligkeiten sind schon bald im Rucksack verstaut. Ich hä tte mir das bis zum Morgen aufheben kö nnen, aber es fü hlt sich nach einer Absichtserklä rung an, wenn ich es jetzt schon mache. Dieses Mal werde ich meine Meinung nicht ä ndern.

       Wenn das ü berhaupt mö glich ist, lä sst mich das noch nervö ser auf Mathildes Besuch warten.

       Drauß en ist es inzwischen vollkommen dunkel, obwohl es noch nicht neun ist. Ein weiteres Anzeichen, dass der Sommer fast vorbei ist. Drei Stunden also, bis Mathilde kommt. Ihre Ausgabe von Madame Bovary liegt neben der Matratze. Noch etwas, das ich unvollendet zurü cklasse. Im Schein der Lampe blicke ich mich auf dem dü steren Dachboden um. Selbst mit dem ganzen Mü ll und den Spinnweben fü hlt er sich fü r mich wie ein Zuhause an. Ich werde diesen Ort vermissen.

       Ich liege auf dem Bett und zü nde die nä chste meiner letzten paar Zigaretten an. Die Flamme vom Feuerzeug schnipse ich aus und erinnere mich an das Foto aus Brighton, das zu Asche verbrannte. Ich wü nschte, Gretchen hä tte es nicht verbrannt. Aber ich wü nsche mir so vieles. Vielleicht hä tte ich verhindern kö nnen, was mit Chloe passiert ist. Yasmins Anschuldigungen haben sich mir tief eingegraben. Du hast sie verlassen, als sie dich brauchte. Sie wollte es dir leicht machen, und dir war das nur recht. In gewisser Weise stimmt das. Und niemand hat mich gezwungen, in jener Nacht in die Docklands zu gehen. Weil ich dorthin gegangen bin, ist jetzt ein Mann tot. Und da spielt es keine Rolle, ob es ein Unfall war oder dass ich nur versucht habe, meine Haut zu retten. Ich habe jemanden umgebracht.

       Dieser Schuld kann ich nicht entkommen.

       Ich blase den Zigarettenrauch zur Decke. Ich muss zurü ck, das weiß ich inzwischen. Mir vorzustellen, was mit mir passieren wird, macht mir immer noch Angst, aber ich muss um meines Seelenfriedens willen die Verantwortung fü r das ü bernehmen, was ich getan habe. Doch sobald ich wieder an Mathilde denke und ü berlege, was sie von mir wollen kö nnte, wankt meine Entschlusskraft.

       Und da ist noch ein anderes Problem. Das Plastikpä ckchen aus Jules’ Auto ist immer noch da, wo ich es nach dem Besuch der Gendarmen versteckt habe. Ich kann es nicht hierlassen, aber ich kann genauso wenig ein ganzes Kilo Kokain zurü ck nach Groß britannien mitnehmen.

       Was soll ich also damit machen?

       Der Dachboden ist stickig und feucht, und ich kann so nicht denken. Ich trete an das offene Fenster. Hinter dem Weingarten und dem Wald kann ich den See im Mondlicht ausmachen, der silbrig in der Dunkelheit glä nzt. Ich habe mir geschworen, darin zu schwimmen, bevor ich wieder abreise. Bis Mathilde kommt, habe ich noch Zeit.

       Dies ist also meine letzte Chance.

       Ich halte mich nicht mit dem Licht auf, als ich den Dachboden hinter mir lasse, und vertraue einfach darauf, dass ich die Holzstufen in der Dunkelheit treffe. Das Mondlicht strö mt durch das offene Scheunentor und beleuchtet den brö ckelnden Beton, bei dem ich so paranoid geworden bin. Ich verschwende keinen Gedanken mehr daran, als ich an der Stelle vorbei nach drauß en gehe.

       Der Nieselregen hat aufgehö rt. Die Nacht riecht unglaublich sü ß, eine frische Brise lä sst die Weinblä tter rascheln. Es ist Vollmond, aber die Wolkenfetzen, die ü ber den Himmel hasten, werfen unruhige Schatten auf das Feld. Ein bestä ndiges Rascheln begrü ß t mich, als ich den Wald betrete. Wasser tropft von den Ä sten, und die Statuen sind vom Regen dunkel und verschmelzen fast mit den Silhouetten der Bä ume. Die Gä nseblü mchen, die Gretchen der Nymphe um den Hals gelegt hat, scheinen zu leuchten, als das Mondlicht sie berü hrt, aber schon bei der nä chsten Wolke, die sich vor den Mond schiebt, sind sie verblasst.

       Dann habe ich die Steinfiguren hinter mir gelassen und erreiche den See. Ein metallischer Geruch liegt in der Luft, und das schwarze Wasser zittert unter dem leichten Wind. Eine plö tzliche Bewegung lä sst mich zusammenzucken, doch es ist nur eine Ente, die ihr Gefieder aufplustert. Der Mond taucht wieder auf, und ich entdecke mehr Enten, die wie Steine am Ufer hocken. Ich laufe zu dem kleinen Kiesstrand und ziehe mich aus. Meine nackten Fü ß e sehen irgendwie ungleich aus. Der eine ist makellos und vertraut, der andere dü nn und weiß und von wü tenden Striemen gezeichnet.

       Das eisige Wasser raubt mir den Atem, als ich in den See wate. Reflexartig stelle ich mich auf die Zehenspitzen. Es leckt bis hinauf zu meinem Bauch, und ich gehe weiter hinein. An dieser Stelle fä llt der Grund steil ab, und ich wappne mich, ehe ich mich ins Wasser werfe.

       Es fü hlt sich an, als wü rde ich mich in Eis stü rzen. Die Kä lte bohrt sich in meine Ohren, und das Wasser schlä gt ü ber meinem Kopf zusammen. Ich arbeite mich voran. Mit einem ungelenken Kraulen komme ich wieder nach oben und breche mitten im See durch die Wasseroberflä che. Blut strö mt in meine schwerfä lligen Gliedmaß en. Keuchend trete ich Wasser und schaue mich um. Mein Auftauchen hat die glatte Oberflä che zerrissen. Von hier drauß en sieht alles irgendwie anders aus, ganz merkwü rdig und ruhig. Das Wasser fü hlt sich tief und bodenlos an. Unter mir blitzt silbrig ein Fisch auf, dessen Schuppen das Mondlicht einfangen. Ich schaue nach unten und sehe meinen Kö rper, so blass, als wä re er vö llig blutleer.

       Gott, das fü hlt sich gut an. Ich schwimme wieder los und genieß e diesmal ein paar gemü tliche Zü ge. Der Felsvorsprung, auf dem ich so viele Nachmittage verbracht habe, ragt vor mir steil auf. Die ausladenden Ä ste der Kastanie heben sich wie Flü gel von dem Himmel ab. Bei dem Anblick erst geht mir auf, dass ich zum letzten Mal hier sein werde. Sofort ist der Spaß an diesem kleinen Ausflug verflogen.

       Ich wollte im See schwimmen, und das habe ich jetzt getan. Es gibt also keinen Grund, noch lä nger zu bleiben. Ich will mich gerade auf den Rü ckweg machen, da trete ich mit dem Fuß gegen etwas Hartes. Ich zucke zurü ck, aber dann fä llt mir ein, dass es vermutlich der unter Wasser liegende Fels ist, den ich von oben gesehen habe. Vorsichtig schiebe ich den Fuß wieder vor.

       Und zucke zurü ck.

       Der Fels ist glatt. Nicht wie erwartet mit einer schleimigen Schicht aus Algen und Tang bedeckt, sondern hart und wie poliert. Ich senke erst einen Fuß und dann den zweiten, bis ich stehe. Das Wasser reicht mir bis zum Kinn. Die Oberflä che unter meinen Fü ß en ist flach und leicht gewö lbt, und ich spü re winzige Blä schen wie von Korrosion. Aber die brauche ich gar nicht, damit ich weiß, dass ich nicht auf einem Stein stehe.

       Es ist ein Autodach.

       Mit den Zehen erkunde ich die Form des Dachs. Mein Fuß rutscht von der Kante, und plö tzlich ist unter mir nichts als Wasser. Ich schlage wild um mich, als der See ü ber meinem Kopf zusammenschlä gt, ich keuche und schlucke Wasser, bis ich schließ lich wieder auf dem Dach stehe. Wenigstens habe ich begriffen, dass es kein Auto ist. Dafü r ist das Dach zu schmal und zu kurz.

       Es erinnert eher an die Fahrerkabine eines Lastwagens.

       Zitternd blicke ich zum Ufer des Sees. Es ist zu weich und schlammig, um ein Fahrzeug direkt ins Wasser zu lenken. Nein, die einzige Mö glichkeit, wie der Lastwagen hierhergelangt sein konnte, war, dass jemand ihn mit Absicht hier reingesteuert hat.

       Ich will dringend zurü ck ans Ufer und mich anziehen. Aber das geht jetzt nicht. Noch nicht. Ich atme tief ein und tauche. Das Wasser bohrt sich wie Eiszapfen in meine Ohren. Alles ist verschwommen und dunkel, und ich sehe absolut nichts. Aber dann kommt der Mond hinter einer Wolke hervor, und plö tzlich dringt das Licht wie aus einer anderen Welt hinab zum Grund des Sees. Vor meinen Augen erwacht der groß e Klotz von einem Lastwagen zum Leben. Ich erkenne jetzt, dass es ein Pick-up ist. Die offene Ladeflä che ist leer. Ich tauche tiefer, bis in meiner Brust ein schmerzlicher Druck entsteht. Das kommt von den vielen Zigaretten. Ich kä mpfe gegen den Auftrieb meines Kö rpers, greife nach dem Tü rgriff und bin kurz davor loszulassen, als die Fahrertü r wie in Zeitlupe aufschwingt.

       Mein Herz trommelt wie verrü ckt, wä hrend ich mich nä her schiebe. Das Innere der Fahrerkabine ist dunstig und voller Schatten. Ich schaue noch zwei, drei Herzschlä ge lang ins Innere, und dann schiebt sich die nä chste Wolke vor den Mond und verdunkelt alles. Ich lasse die Tü r los und schieß e an die Oberflä che. Keuchend durchbreche ich die Wasseroberflä che und atme in tiefen Zü gen die Nachtluft. Das Pochen in meinen Schlä fen lä sst langsam nach.

       Nichts.

       Das brackige Wasser erschwert die Erkundung, aber ich habe im Innern der Kabine nichts gesehen. Keinen bulligen Schatten, kein langsames Winken von Gliedmaß en. Kurz ü berlege ich, noch einmal zu tauchen, um sicherzugehen, aber bei dem Gedanken rinnt ein Schauer ü ber meinen Kö rper. Ich schaffe es nicht, ein zweites Mal unter Wasser zu gehen.

       Mit klappernden Zä hnen schwimme ich zurü ck. Ich zwinge mich, langsam zu machen und mich nicht zu sehr zu hetzen. Dann streift ein Stü ck Algen oder ein Zweig meinen Fuß knö chel, und es ist um meine Zurü ckhaltung geschehen. Ich werfe mich Richtung Ufer und platsche durch das seichte Gewä sser, bis ich wieder am Kiesstrand bin. Zitternd reibe ich meine Arme und starre zurü ck zum See. Die Wellen, die ich im Kielwasser ü ber den See gezogen habe, sind fort. Schon liegt der See wieder still und schwarz da. Nichts deutet auf das hin, was unter der Wasseroberflä che verborgen liegt.

       Ich beginne, meine Klamotten anzuziehen. Fü r mich besteht kein Zweifel, wem der Pick-up gehö rt. Die Farbe konnte ich unmö glich erkennen, aber wenn ich raten sollte, wü rde ich auf dunkelgrü n tippen. Dieselbe Farbe also wie auf dem Foto, das Jean-Claude mir gezeigt hat. Louis wurde zuletzt in Lyon gesehen, weshalb ich davon ausgegangen war, was auch immer mit ihm passiert ist, mü sste dort passiert sein. Aber ich habe mich geirrt.

       Er ist zurü ckgekommen.

       Ich kä mpfe mit meiner Jeans, die sich nur schwer ü ber die nasse Haut ziehen lä sst. Sosehr ich mir auch den Kopf zerbreche, mir fä llt keine plausible Erklä rung dafü r ein, warum sein Pick-up im See gelandet ist. Jean-Claude hat versucht, mich zu ü berzeugen, dass Arnaud fü r das Verschwinden seines Bruders verantwortlich ist, aber ich habe ihm nicht zuhö ren wollen. Ich konnte einfach nicht glauben, dass Mathilde darü ber Bescheid weiß, aber ich habe auch nicht vor, nur eine Sekunde lä nger als nö tig zu bleiben und es herauszufinden. Arnaud ist jetzt schon wü tend auf mich, und der Hof verbirgt mindestens ein Geheimnis.

       Ich habe keine Lust, das nä chste Geheimnis zu werden.

       Der Wald wirkt bedrohlich und scheint mich zu beobachten, als ich die Fü ß e in die Stiefel zwä nge. Stä ndig schaue ich mich um, als erwarte ich, dass Arnaud mit dem Gewehr in der Hand aus den Schatten auftaucht. Aber bis auf eine einsame Statue zwischen den Bä umen bin ich allein. Ich bü cke mich und will den zweiten Stiefel anziehen, als mir einfä llt, dass so dicht am See ja gar keine Statuen stehen. Und im selben Moment tritt sie aus dem Wald.

       Gretchen ist im Mondlicht weiß wie Alabaster, die Haut so bleich wie Stein. Sie starrt mich an, kommt aber nicht nä her.

       «Ich war auf dem Dachboden und Sie nicht. »

       Ich finde meine Stimme wieder. «Nein, ich … brauchte wohl frische Luft. »

       «Ich habe Ihren Rucksack gesehen. Sie haben alles eingepackt. »

       Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Gretchen schaut aufs Wasser hinaus. Ihre Wut hat einer unheimlichen Ruhe Platz gemacht, die mich noch viel mehr beunruhigt.

       «Sie sind im See geschwommen. »

       «Ich, na ja … Mir war heiß. Brauchte eine Abkü hlung. »

       «Sie waren ziemlich lange unter Wasser. Was haben Sie da gemacht? »

       «Ich bin nur geschwommen. »

       Ich versuche abzuschä tzen, wie viel sie weiß. Ob es mö glich ist, dass sie keine Ahnung hat, was der See verbirgt. Aber ich zittere so heftig, dass es mir schwerfä llt, einen klaren Gedanken zu fassen.

       «Ich habe Ihnen schon gesagt, Papa verbietet es, hier zu schwimmen. Es ist nicht sicher. » Sicher? Fü r wen denn? «Wenn ich ihm davon erzä hle, wird er wü tend. »

       «Du musst ihm ja nicht davon erzä hlen, oder? »

       «Warum sollte ich es ihm verschweigen? Sie gehen ja doch morgen weg. » Ihr Blick ist kalt und distanziert. «Sie machen sich gar nichts aus uns. Sonst wü rden Sie uns nicht im Stich lassen. »

       «Ich lasse niemanden im Stich. »

       «Doch, das tun Sie. Sie unterscheiden sich durch nichts von all den anderen. Wir haben Ihnen vertraut, und jetzt haben Sie uns verraten. »

       Dieselbe Formulierung hat sie schon in Bezug auf Louis verwendet. «Schau mal, es tut mir leid, wenn …»

       «Nein, tut es Ihnen nicht. Sie haben mir etwas vorgemacht. »

       Ihr etwas vorgemacht? Zum zweiten Mal in dieser Nacht habe ich keine Ahnung, worum es hier geht. «Das stimmt nicht …»

       «Dann versprechen Sie zu bleiben. »

       «Gretchen …»

       «Sie mü ssen es versprechen. Sonst erzä hle ich Papa alles. »

       Himmel. Ich schaue wieder aufs Wasser. Ich weiß nicht, ob sie sich bewusst ist, was unter der Oberflä che verborgen liegt oder welche Probleme sie mit Arnaud heraufbeschwö rt. Doch ich kann nicht riskieren, dass er herausfindet, was ich getan habe. Mir gefä llt der Gedanke nicht, aber irgendwie muss ich Gretchen zumindest so lange zum Schweigen bringen, bis ich fort bin.

       «Okay», sage ich. «Ich bleibe. »

       Gretchen starrt mich an. Ich spü re, wie sich die Haare in meinem Nacken strä uben.

       «Lü gner. »

       «Nein, ich …»

       «Ich dachte, Sie wä ren richtig nett, aber das sind Sie gar nicht. Ich mag Sie nicht mehr. »

       «Gretchen, hö r mal …», setze ich an, aber sie rennt bereits den Weg entlang. Nach einer Sekunde lö se ich mich aus der Erstarrung und laufe ihr nach. Ich habe keine Ahnung, was ich sagen oder tun soll. Ich weiß nur, dass ich nicht hier unten warten kann. Ich bin ziemlich aus der Form, und mit den aufgeschnü rten Stiefeln, aus denen ich beim Rennen immer herausschlappe, ist das Ganze ein Albtraum. Gretchen rast vor mir durch den Wald und taucht immer wieder gespenstisch im Licht des Mondes auf wie ein Geist. Meine Brust und meine Beine brennen, wä hrend ich an den Statuen vorbeirenne. Dann rutsche ich mit einem Schuh weg und stü rze. Der Atem wird mir aus der Lunge getrieben. Auß er Atem richte ich mich halb auf und beobachte Gretchens Gestalt, die aus dem Wald lä uft und zwischen den Rebstö cken weiter. Eine Wolke verhü llt den Mond, und fü r den Moment verliere ich sie aus den Augen. Aber ich weiß ohnehin, dass ich sie nicht mehr einholen werde. Nicht, ehe sie das Haus erreicht.

       Ich beuge mich tief hinunter und ringe nach Luft. Scheiß e, Scheiß e! Ich versuche, einen klaren Gedanken zu fassen. Vielleicht reagiere ich auch ü berzogen, und es gibt eine unschuldige Erklä rung fü r alles. Der Pickup kö nnte ein altes Ding sein, das sie versenkt haben. Ich will unbedingt daran glauben, doch die Erinnerung an das, was ich im See gefunden habe, ist noch zu deutlich. Und drauf ankommen lassen kann ich es auch nicht. Wenn der Pick-up tatsä chlich Louis gehö rt, kann Arnaud nicht riskieren, dass ich irgendwem davon erzä hle.

       Er wird nicht zulassen, dass ich den Hof verlasse.

       Wie aufs Stichwort dringt seine erhobene Stimme vom Hof herü ber und bellt irgendwas Unverstä ndliches. Ich glaube, auch Mathilde hö ren zu kö nnen, die einen flehenden Kontrapunkt bildet. Dann schlä gt eine Tü r zu, und es herrscht Stille.

       Er ist unterwegs hierher.

       Ich schaue mich nach dem Stiefel um, den ich bei dem Sturz verloren habe, doch der Mond ist immer noch von Wolken verborgen, und ich kann nur Schemen erkennen. Mir bleibt keine Zeit mehr. Steine und Zweige piken in meinen nackten Fuß – natü rlich ausgerechnet der frisch verheilte –, und ich verlasse hastig den Feldweg und verstecke mich zwischen den Bä umen. Sobald Arnaud vorbei ist, kann ich zurü ck auf den Weg. Um meinen Rucksack kann ich mir spä ter Gedanken machen.

       Ich bin noch nicht besonders weit gekommen, als ich auf etwas Scharfes trete. Ein plö tzliches Knacken lä sst mich zusammenzucken, und ich spü re einen stechenden Schmerz. Mit hä mmerndem Herzen springe ich zurü ck und wappne mich, weil ich fü rchte, im nä chsten Moment bohren sich die spitzen Zä hne eines Fangeisens in den Fuß. Der Schmerz bleibt aus. Es ist nur ein toter Ast, aber ich hatte vergessen, dass in diesem Teil des Waldes immer noch unzä hlige von Arnauds Fallen lauern. Ich traue mich nicht weiterzugehen und genauso wenig zurü ck zum Weg. Nicht, wenn es so dunkel ist, dass ich nicht sehe, wo ich hintrete. Wahrscheinlich ist da nichts, doch was, wenn da doch etwas ist …

       Ich bemerke hinter den Bä umen eine Bewegung und schaue zurü ck zum Weingarten. Noch immer versteckt sich der Mond, und ich kann fü r den Augenblick gar nichts erkennen. Dann jedoch taucht er hinter der Wolke auf, und ich sehe zwischen den Baumstä mmen die bullige Gestalt Arnauds durch den Wald eilen. Der Mond glitzert auf etwas Metallischem, und das letzte bisschen Hoffnung darauf, vernü nftig mit ihm reden zu kö nnen, schwindet. Ich erkenne sofort, was er mit sich herumträ gt.

       Es ist sein Gewehr.

       Wieder verschwindet der Mond hinter einer Wolke und verdeckt mir die Sicht wie ein Vorhang, der zugezogen wird. Aber Arnaud ist schon nä her heran, als ich erwartet hä tte. Jetzt ist es zu spä t, um zum See zu laufen. Auf dem Waldweg wä re ich ein leichtes Ziel. Verzweifelt schaue ich mich nach einem geeigneten Versteck um. Ich bin in der Nä he der Stelle, wo wir die Silberbirke gefä llt haben, und die meisten Bä ume sind entweder Setzlinge oder nur noch Stü mpfe. Arnaud braucht bloß den Kopf in meine Richtung drehen, um mich zu entdecken. Doch dann bricht ein Mondstrahl zwischen den Ä sten hindurch und beleuchtet die Statuen, die in der Nä he stehen.

       Ich kann nur hoffen, dass das Areal rings um die Statuen frei von Fangeisen ist, und haste in die Richtung. Schon verblasst das Licht wieder. Ich werfe mich auf den feuchten Boden und krieche hinter die Steinrobe des Mö nchs. Ich bin auß er Atem, und mein nackter Fuß pocht heiß. Er fü hlt sich klebrig an. Ich muss ihn mir an dem toten Ast aufgerissen haben, oder die Wunden sind vielleicht wieder aufgegangen. Aber im Moment ist das noch mein geringstes Problem. Ich spä he an der Statue vorbei. Ohne Mondlicht besteht der Wald nur aus verschiedenen Schattierungen von Schwarz. Nichts rü hrt sich, und dann entdecke ich einen Schatten, der den Weg entlanghastet.

       Ich ducke mich hinter dem kalten Stein. Ü ber mir ist der Himmel ein Flickenmuster aus Wolken und Sternen, aber hier unten ist alles dunkel. Ich starre durch die Bä ume nach oben und bete, der Mond mö ge weiterhin verdunkelt bleiben. Gerne wü rde ich einen zweiten Blick riskieren, aber ich fü rchte, er kö nnte mich dann sehen. Also liege ich einfach da und lausche. Der Wind lä sst die Blä tter und Zweige rascheln und erstickt alle anderen Laute. Ich schließ e die Augen und versuche mir vorzustellen, wo er jetzt sein mü sste. Ich nehme mir fest vor, bis dreiß ig zu zä hlen, nachdem er jetzt vorbei ist. Aber danach rü hre ich mich immer noch nicht vom Fleck. Was soll ich machen, wenn ich mich geirrt habe oder er stehen geblieben ist? Ich balle die Hä nde zu Fä usten und versuche, eine Entscheidung zu treffen. Ich kann hier nicht ewig bleiben. Meine beste Chance, ü ber den Feldweg zur Straß e zu gelangen, ist die kurze Spanne, in der Arnaud unten am See ist. Er muss lä ngst an mir vorbei sein. Ich spanne mich an und nehme mir vor, wieder zu gucken.

       Dann hö re ich das gedä mpfte Knacken eines Zweigs.

       Ich liege vollkommen reglos da und halte die Luft an, weil ich nicht wage zu atmen, strenge mich an, etwas anderes als das Rauschen der Bä ume zu hö ren, und versuche in Gedanken die Wolken zu beschwö ren, dass sie noch einen Moment lä nger den Mond verhü llen. Doch der heftige Wind treibt sie bereits weiter, und ihre schwarzen Silhouetten werden von einem silbrigen Glü hen umrahmt. Hilflos sehe ich dabei zu, wie der Mond wieder auftaucht und die Welt mit seinem milchigen Licht flutet. Dann hö re ich nur wenige Meter von mir entfernt Schritte und Zweige, die unter Schuhen zerbrechen.

       «Sean? »

       Mathildes Stimme klingt gedä mpft. Die Anspannung fä llt von mir ab.

       «Hier. »

       Sie hat zu den anderen Statuen geschaut und dreht sich um, als sie mein Flü stern hö rt. Mit wenigen Schritten ist sie bei mir und schaut derweil zwischen den Bä umen zum Waldweg. Der Judas von einem Mond verhü llt sein Gesicht erneut und taucht den Wald in tiefe Schatten.

       «Du musst verschwinden», sagt sie mit leiser Stimme. «Mein Vater glaubt, du bist noch am See. Du musst gehen, bevor er seinen Irrtum bemerkt. »

       Selbst jetzt noch habe ich insgeheim gehofft, sie werde mir versichern, dass ich nichts zu befü rchten habe und alles nur ein Missverstä ndnis war. Ich will wieder aufstehen, aber sie zieht mich nach unten hinter den Mö nch. Sie ist jetzt selbst nur noch ein Schatten, und ihr Gesicht ist in der Dunkelheit nicht zu erkennen.

       «Lass ihm eine Minute Zeit, bis er nicht mehr zu sehen ist. Hier, nimm das. »

       Sie drü ckt mir etwas in die Hand. Ich kann zwar nichts sehen, aber ich fü hle meinen Stiefel.

       «Den habe ich auf dem Weg gefunden», flü stert sie. «Darum habe ich mir gedacht, dass ich dich hier finde. »

       «Wo ist Gretchen? », frage ich und versuche, mir blind den Stiefel ü berzustreifen. Mein Fuß ist vom Blut glitschig, und er ist angeschwollen und passt nicht hinein.

       «Bei Michel. »

       «Was hat sie deinem Vater erzä hlt? »

       «Kü mmere dich nicht darum. Hier, nimm die. » Mathilde drü ckt mir etwas anderes in die Hand. Schlü ssel und etwas, das sich wie eine kleine Rolle Geldscheine anfü hlt. «Das ist nicht viel, aber mehr habe ich nicht. Und den hier wirst du auch brauchen. »

       Sie reicht mir etwas Dü nnes und Flaches. Ich brauche einen Moment, bis ich meinen Reisepass erkenne.

       «Du hast meinen Rucksack durchwü hlt? » Noch immer sind meine Ü berlegungen eher trä ge, aber ich verstehe nicht, wann sie die Zeit gehabt haben soll, ihn vom Dachboden zu holen.

       «Nicht heute Abend. Den habe ich schon an mich genommen, als du in die Stadt gefahren bist. »

       Ich weiß gerade nicht, was mich mehr entsetzt: die Tatsache, dass sie meinen Reisepass genommen hat, oder dass ich sein Fehlen gar nicht bemerkt habe. «Warum? »

       «Weil ich nicht wollte, dass du verschwindest, ohne mir Bescheid zu geben. Ich will dich um einen Gefallen bitten, aber wir mü ssen jetzt gehen. Bist du so weit? »

       Einen Gefallen? «Ich bekomme den Stiefel nicht an», sage ich verwirrt.

       «Das kannst du spä ter machen. Wir mü ssen uns beeilen. »

       Sie schiebt mich hinter der Statue hervor. Ich habe keine Wahl, sondern trage den Stiefel, wä hrend sich Steinchen und Zweige in meinen nackten Fuß bohren.

       «Vorsichtig», sagt sie und lenkt mich um einen Schatten herum. Zuerst weiß ich nicht, was sie meint, aber dann entdecke ich etwas Scharfkantiges, Graues.

       Ich habe mich also geirrt. Arnaud hat rings um die Statuen sehr wohl seine Fallen platziert.

       Aber Mathilde scheint zu wissen, wo sie hintreten darf. Sie fü hrt mich zurü ck zum Waldweg, und ich humple eilig hinter ihr her. Jedes Mal, wenn ich meinen Fuß aufsetze, durchfä hrt mich der frische Schmerz. Die Wolken vor dem Mond sind vom Wind in Fetzen gerissen und erlauben einem schwachen Licht durchzudringen. Ich riskiere einen Blick Richtung See, aber Arnaud ist nirgends zu entdecken.

       «Was fü r einen Gefallen? », frage ich leise.

       Es ist hell genug, dass ich sehe, wie sie sich mit dieser vertrauten Geste eine Strä hne hinters Ohr schiebt. Ich kann ihr Gesicht nicht erkennen, doch ich spü re ihre Anspannung.

       «Ich will, dass du Gretchen mitnimmst. »

       «Du willst was? »

       «Psst. Hö r mir einfach zu. » Mathilde packt meinen Arm und spricht hastig mit leiser Stimme. «Ich muss sie von hier fortbringen, und dich wü rde sie begleiten. Ich weiß, das ist ziemlich viel verlangt, aber ich erwarte auch nicht von dir, sie zu unterstü tzen. Ich schicke so bald wie mö glich mehr Geld. »

       «Himmel, Mathilde …»

       «Bitte! Ich hä tte der Polizei auch von den Drogen in deinem Rucksack erzä hlen kö nnen. »

       Natü rlich hat sie davon gewusst, denke ich und bin wie gelä hmt. Ich war ein Fremder und habe drei Tage lang gefiebert. Es war klar, dass sie meine Sachen durchsucht, um herauszufinden, um wen sie sich da ü berhaupt kü mmert. Die einzige Ü berraschung ist eigentlich, dass ich trotzdem bleiben durfte.

       Es sei denn, sie hat dafü r ihre Grü nde.

       Die tiefhä ngenden Zweige werfen ein Schattenspiel auf Mathildes Gesicht, als das Mondlicht durch die Wolken bricht. Der Feldweg erwacht zum Leben. Hinter dem Wald zeichnen sich die Rebstö cke ü berdeutlich ab, und die Furchen der Wagenspuren sehen aus wie mit Kohle gezeichnete Linien. Ich glaube, dort eine Bewegung zu sehen, wä hrend Mathilde mich zur Eile drä ngt.

       «Schnell, wir …»

       Plö tzlich ein Schuss. Er kam von irgendwo hinter uns, aus Richtung des Sees, und wir zucken beide zusammen, als kurz darauf ein zweiter Schuss durch die Nacht peitscht. Mathilde zieht mich vom Weg herunter. «Hier entlang! »

       Die Bä ume schließ en sich wie ein Tunnel um uns, als sie mich an der Weggabelung in Richtung der Schweinepferche zieht. Die Zweige schlagen mir ins Gesicht, wä hrend ich einfach nur hinter ihr herrenne und dabei versuche, meinen verletzten Fuß zu schonen. Schließ lich tauchen wir in den Ammoniakgestank der Lichtung ein. Ü ber uns strahlt der Vollmond wie ein Leuchtfeuer und hebt die Sauen hervor, die wie borstige Kissen schlafend herumliegen. Ich hoffe, sie wachen nicht auf, als ich hinter Mathilde weiterhumple. Fast rechne ich damit, dass sie auf der anderen Seite der Lichtung im Wald verschwindet, doch sie steuert stattdessen die Betonhü tte an.

       «Hier rein», keucht sie und stö ß t die Tü r auf.

       Mir bleibt keine Zeit zum Widerspruch. Ich eile hinein, und das Licht wird ausgesperrt, als beide Teile der Tü r hinter uns zufallen. Der Gestank nach Innereien und altem Blut umgibt uns. Es ist stockdunkel, und unser abgehackter Atem klingt in dieser Enge viel zu laut. Es gibt kein Fenster, doch sobald sich meine Augen an die Dunkelheit gewö hnt haben, sehe ich Lichtstreifen, die durch die Lü cken zwischen den Steinen ins Innere dringen. Mathilde schiebt sich an mir vorbei und spä ht nach drauß en.

       «Ist er da? », flü stere ich.

       «Ich weiß nicht. Glaube ich aber nicht. »

       Ich will selbst schauen, und meine Schulter streift etwas, das gedä mpft klirrt. Ich zucke zusammen, doch dann fä llt mir die Kette ein, die vom Flaschenzug hä ngt. Ich packe sie in der Dunkelheit, damit sie nicht lä nger hin und her schwingt, drü cke mein Gesicht gegen eine der Schieß scharten in der groben Wand und blinzle, wä hrend mein Atem Staub und Sand wegblä st. Der schmale Spalt erlaubt mir zwar keinen groß en Ü berblick, und die Lichtung wird bereits wieder von einer Wolke in Dunkelheit getaucht. Aber von Arnaud ist nichts zu sehen.

       «Wenn er uns gesehen hä tte, wä re er lä ngst hier», murmelt Mathilde. Wenigstens schlucken die Wä nde unseres Verstecks unsere Stimmen. Arnaud hä tte schon direkt vor der Hü tte stehen mü ssen, um etwas zu verstehen. «Er hat vermutlich nur auf irgendwelche Schatten gezielt. »

       «Dann lass uns von hier verschwinden. » Schon jetzt bereue ich es, hergekommen zu sein. Ich steuere die dü nne Linie aus Licht an, die unter der Tü r durch in den Raum dringt, aber Mathilde hä lt mich auf.

       «Nein. Noch nicht. »

       «Warum nicht? Sollten wir nicht zurü ckgehen, solange er am See ist? »

       «Vielleicht ist er auch schon auf dem Rü ckweg. Wenn wir jetzt rausgehen, kö nnten wir ihm direkt in die Arme laufen. »

       Sie hat recht, doch dieser Ort ist mir verhasst, und ich will nicht lä nger hierbleiben. Die Wä nde der Hü tte halten eine kleinkalibrige Kugel vielleicht ab, doch sobald Arnaud kapiert, dass wir hier sind, stecken wir in der Falle.

       «Was ist mit dem Wald auf der anderen Seite der Lichtung? Kö nnen wir da lang? »

       «Das ist zu gefä hrlich. Es gibt keinen Weg, und mein Vater hat auch dort Fallen gestellt. »

       Himmel. Ich versuche nachzudenken. «Und was machen wir jetzt? »

       «Wir warten. In ein paar Minuten gehe ich nach drauß en und schaue, ob die Luft rein ist. »

       «Und was, wenn nicht? »

       «Dann erzä hle ich ihm, du wä rst entkommen, als er am See war. Sobald er zu Bett gegangen ist, komme ich zurü ck und hole dich. »

       Mathilde klingt so ruhig wie immer. Fü r einen Moment flammt in mir die absurde Angst auf, sie kö nnte ihren Vater herbringen. Natü rlich ist das lä cherlich. Sie wü rde nicht diesen ganzen Aufwand betreiben, wenn sie mir irgendeinen Schaden zufü gen wollte. Ich muss ihr einfach vertrauen.

       Ich setze mich vorsichtig auf den Boden, wä hrend sie erneut nach drauß en schaut. Hoffentlich bekomme ich meinen Wanderstiefel an. Mein Fuß fü hlt sich wund und geschwollen an. Ich wische den Dreck herunter und schnappe unwillkü rlich nach Luft, als ich dabei das zerschundene Fleisch berü hre.

       «Geht’s dir gut? », erkundigt Mathilde sich.

       Ich nicke, bevor mir einfä llt, dass sie mich nicht sieht. «Es ist nur mein Fuß. »

       «Warte, lass mich das machen. » Ein Rascheln, dann hockt sie vor mir, und kü hl umschließ en ihre Hä nde meinen Fuß, wä hrend sie ihn behutsam in der Dunkelheit abtastet. Ich ziehe scharf die Luft ein, als sie in etwas Weiches drü ckt. «Du hast dir die Wunden wieder aufgerissen und eine Schnittwunde am Spann. Hast du irgendwas, um den Fuß zu verbinden? »

       «Nein. »

       «Keine Sorge. Ich helfe dir in den Schuh. »

       Ihre Haare streifen meinen Arm, wä hrend sie den Stiefel ü ber meinen geschwollenen Fuß schiebt. «Warum mö chtest du unbedingt, dass Gretchen mit mir fortgeht? », frage ich und versuche, den Schmerz zu ignorieren. «Wegen dem, was im See liegt? »

       Ich bemerke ihr kurzes Zö gern. «Das ist ein Grund. »

       Sie weiß also darü ber Bescheid. Ich habe das Gefü hl, dass alles total unwirklich ist. Dieses Gesprä ch zum Beispiel. Ich wü nschte, ich kö nnte sie in der Dunkelheit sehen, aber fü r mich ist sie nur ein unfö rmiger Schatten.

       «Was ist mit Louis passiert, Mathilde? »

       Sie versucht weiter, den Schuh ü ber meinen Fuß zu schieben. Kurz denke ich, sie wird mir keine Antwort geben. Als sie schließ lich das Wort ergreift, klingt ihre Stimme ruhig und resigniert. «Ich habe von meiner Schwangerschaft erfahren, als er in Lyon war. Bei seiner Rü ckkehr wollte ich ihm davon erzä hlen. Ich hatte ein bisschen Geld, weshalb ich hoffte, ihn ü berreden zu kö nnen, uns irgendwohin mitzunehmen. Auch Gretchen. Sie … mochte Louis. Aber ich hä tte wissen mü ssen, dass sie meinem Vater davon erzä hlen wü rde. Es kam zu einer Szene. Louis und er haben miteinander gekä mpft, und …»

       Ich verziehe das Gesicht, weil der Stiefel jetzt plö tzlich doch ü ber den Fuß gleitet. «Dein Vater hat den Pick-up also in den See gefahren? »

       «Er wollte alles loswerden, was irgendwie auf seine Anwesenheit auf dem Hof hindeutete. Louis kam aus Lyon direkt zum Hof. Es war Abend, weshalb sonst niemand von seiner Rü ckkehr wusste. Danach … Nun, wir haben einfach so getan, als wä re nichts passiert. »

       Ich spü re, wie ihre Hä nde meinen Schuh loslassen, und habe den Eindruck, sie ist in Gedanken schon wieder ganz woanders. Ich greife nach unten und binde die Schnü rsenkel zu, wä hrend sie aufsteht.

       «Was ist mit dem Leichnam? » Die Fahrerkabine vom Pick-up ist leer gewesen, aber jetzt kann ich nur noch an das Stü ck brö ckelnden Beton in der Scheune denken.

       «Mein Vater hat ihn hierhergebracht. »

       «Hierher? »

       «Fü r die Sanglochons. »

       Es dauert einen Moment, ehe ich die Bedeutung ihrer Worte begreife. Himmel. Entsetzt schaue ich mich in der kleinen Hü tte um und erinnere mich in der Dunkelheit schaudernd an die betä ubte Sau, die vom Boden hochgezogen wurde, und an das Gerä usch, als das Blut in die Wanne rauschte. Etwas, das Arnaud mal zu mir gesagt hat, bekommt fü r mich eine vö llig neue Bedeutung.

       Schweine fressen alles.

       «Wie viel weiß Gretchen ü ber das alles? », frage ich.

       «Ich weiß nicht. » Mathilde klingt erschö pft. «Sie war danach verstö rt und hysterisch, und seitdem hat sie kein Wort mehr darü ber verloren. Gretchen konnte schon immer all die Dinge ausblenden, ü ber die sie nicht nachdenken will. Das war schon so, als sie noch ein kleines Mä dchen war. Als wä re das alles gar nicht passiert. »

       Das habe ich selbst schon am eigenen Leib erfahren. Aber die Erinnerung an Gretchens merkwü rdigen Gedä chtnisverlust wird durch eine viel schlimmere Erkenntnis ü berlagert. Ich bin bisher nä mlich davon ausgegangen, Arnaud habe Louis umgebracht.

       Vielleicht war er es gar nicht.

       Mein Fuß schmerzt, als ich aufstehe, obwohl es nicht so weh tut, dass ich nicht schnell laufen kö nnte, falls es sein muss. Ich spä he durch den Spalt in der Auß enmauer. Was ich von der Lichtung im zerfetzten Mondlicht sehen kann, ist leer.

       «Dein Vater hat Louis nicht umgebracht, stimmt’s? », frage ich, ohne mich umzudrehen.

       Ich spü re ihr kurzes Zö gern. «Nein. »

       «Gretchen ist krank, Mathilde. Sie braucht Hilfe. »

       «Krank? »

       «Du kannst sie nicht ewig beschü tzen. Selbst wenn sie Louis nicht umbringen wollte, wird sie frü her oder spä ter jemand anderem weh tun. Oder sich selbst. »

       «Nein, da hast du mich falsch verstanden», sagt sie, als mü sste sie einem Kind etwas erklä ren. «Gretchen hat Louis nicht umgebracht. Das war ich. »

       Etwas Kaltes breitet sich in meinem Magen aus. «Das glaube ich dir nicht. »

       «Louis hat meinen Vater geschlagen. Ihm weh getan. » Mit flacher, emotionsloser Stimme, als wä re jegliches Gefü hl aus ihr gewichen, berichtet Mathilde. «Als Gretchen versucht hat, ihn aufzuhalten, hat er sie geschlagen. Mit Wucht mitten ins Gesicht. Also habe ich einen Spaten genommen …»

       Der Knick in Gretchens Nase, denke ich betä ubt. Ich drehe mich um und blicke sie in der Dunkelheit an. Sie steht so dicht vor mir, dass wir uns fast berü hren.

       «Wenn es ein Unfall war, wieso bist du nicht zur Polizei gegangen? »

       «Ich kann nicht ins Gefä ngnis gehen. » Zum ersten Mal, seit ich sie kenne, macht sie auf mich einen regelrecht verä ngstigten Eindruck. «Es wä re fü r Michel schon schwer genug, aber ich kann Gretchen unmö glich alleine hier zurü cklassen. Nicht mit meinem Vater. »

       «Wieso nicht? Ich weiß, sie ist deine Schwester, aber …»

       «Gretchen ist nicht meine Schwester. Sie ist meine Tochter. »

       Selbst jetzt hoffe ich noch, ich habe irgendetwas falsch verstanden. Aber was gibt es da falsch zu verstehen? Arnaud. Die faulige Luft in der Hü tte scheint zu gefrieren.

       «Himmel, Mathilde …»

       «Du hast jetzt schon so viel gehö rt, dann kannst du auch den Rest erfahren. » Neben mir ist eine sanfte Bewegung, weil Mathilde sich die Wangen abwischt. «Ich war dreizehn. Mein Vater hat meiner Mutter erzä hlt, das Baby hä tte mir ein Junge aus der Stadt gemacht. Er sagte, sie mü ssten so tun, als wä re es ihr eigenes, um meinen Ruf zu schü tzen. Dann hat er in der Schule behauptet, ich wä re krank, und behielt mich bis zu Gretchens Geburt daheim. Danach war es wirklich so, als wä re sie ihre Tochter. »

       «Hä ttest du denn nicht irgendwem davon erzä hlen kö nnen? », frage ich entsetzt.

       «Wem denn? Meine Mutter muss es gewusst haben, aber sie war nie stark genug, sich gegen ihn aufzulehnen. Und wem hä tte ich es nach ihrem Tod schon erzä hlen kö nnen? Georges? »

       «Weiß Gretchen es? »

       «Nein! » Ihre heftige Antwort ü berrascht mich. «Das darf sie nicht, niemals. Ich lasse nicht zu, dass er ihr Leben zerstö rt, wie er meins zerstö rt hat. Ich habe ihm gesagt, falls er Hand an sie legt, bringe ich ihn um. Als er zum ersten und einzigen Mal einen Versuch machte, habe ich ihn mit so viel Kraft die Treppe runtergestoß en, dass er einen Monat im Bett liegen musste. »

       Sie erzä hlt das mit kalter Befriedigung. Sie klingt jetzt anders als die Frau, die ich kenne. Oder von der ich geglaubt habe, sie zu kennen.

       «Was ist mit Michel? Ist er …? »

       «Er ist Louis’ Sohn. Aber mein Vater betrachtet ihn als seinen eigenen Sohn. Er hat sich immer einen Sohn gewü nscht. Einen Erben, dem er den Hof hinterlassen kann. Tö chter sind nicht dasselbe, nicht mal Gretchen. Ich glaube, das ist der Grund, warum …»

       «Warum was? », frage ich, als sie verstummt.

       Ich hö re ihr Seufzen, als mü sse sie den Atem von weit weg holen. «Nachdem meine Mutter starb, gab es ein zweites Baby. Ein kleines Mä dchen. Mein Vater hat sie mir nie gezeigt. Er hat mir erzä hlt, sie wä re tot geboren, aber ich … Na ja, ich glaubte damals, sie schreien gehö rt zu haben. »

       Dieser Hof ist wie eine Sammlung makabrer Matrjoschkapuppen, denke ich wie betä ubt. Jedes Mal, wenn ich ü berzeugt bin, das letzte Geheimnis aufgedeckt zu haben, finde ich darin ein weiteres, das noch hä sslicher ist. «Um Gottes willen, wie kannst du hierbleiben? Warum gehst du nicht weg? »

       «Das ist nicht so einfach. »

       «Doch, das ist es! Du packst deine Sachen und verschwindest! Er kann dich wohl kaum aufhalten! »

       «Ich kö nnte nicht ohne Gretchen gehen. »

       «Dann nimm sie mit! »

       «Hast du mir denn gar nicht zugehö rt? », faucht sie, und erneut kann ich einen Blick auf die Gefü hle werfen, die sie hinter der Fassade verbirgt. «Was glaubst du denn, was ich mit Louis vorhatte? Sie wird ihren Vater nicht im Stich lassen. Zumindest nicht mit mir zusammen. »

       Jetzt stehen wir also wieder ganz am Anfang. Ich wende mich ab und schaue durch den Spalt im Mö rtel, um zu checken, was drauß en los ist. Zerfetzte Wolken ziehen ü ber den Mond hinweg. Der kleine Ausschnitt der Lichtung, den ich erkennen kann, sieht ruhig und verlassen aus, aber ringsum formen die Bä ume eine Wand aus undurchdringlicher Dunkelheit.

       «Jetzt verstehst du sicher, warum ich Gretchen von hier fortbringen muss», sagt Mathilde hinter mir. «Es ist egal, wohin sie geht oder wie. Alles ist besser als das hier. Sie wird dich begleiten. »

       Ich bin fü r die Dunkelheit in der Hü tte dankbar, weil ich ihr so nicht ins Gesicht sehen muss. Dass sie denkt, nach allem, was ich gehö rt habe, wü rde ich ihre Tochter mitnehmen, zeigt nur, wie verzweifelt sie ist. Vielleicht hofft sie aber auch einfach, ich kö nnte mich fü r sie verantwortlich fü hlen, nachdem sie sich mir anvertraut hat. Es macht im Grunde keinen Unterschied.

       «Ich kann nicht. Tut mir leid. »

       Ich hö re hinter mir etwas und drehe mich um. Der dü nne Lichtstreif rings um die Tü r wird ausgeblendet, als Mathilde sich davorstellt. Dann hö re ich noch ein Gerä usch. Nur ganz leise, fast wie ein Flü stern: das Kratzen von Stahl auf Stein. Und plö tzlich erinnere ich mich wieder an das Schlachtermesser, das Georges vom Betonblock genommen hat.

       «Wirst du es dir nicht anders ü berlegen? », fragt Mathilde in der Dunkelheit.

       Der Moment scheint sich unendlich auszudehnen, doch dann wird das Schweigen durchbrochen. Das Gerä usch kommt von drauß en und wird schnell erstickt, aber wir erkennen es beide sofort.

       Das Wimmern eines Kinds.

       Eine hastige Bewegung, dann flutet Mondlicht in die Hü tte, weil Mathilde die Tü r aufreiß t. Ich sehe jetzt, dass ihre Hä nde leer sind, und im nä chsten Augenblick ist sie drauß en. Ich renne hinter ihr her und erwarte fast ihren Vater mit dem Gewehr vor der Tü r.

       Aber nicht Arnaud steht drauß en. Sondern Gretchen.

       Sie hä lt Michel wie einen schü tzenden Schild an sich gedrü ckt. Die Hand hat sie auf seinen Mund gedrü ckt und umklammert ihn, wä hrend er sich gegen sie wehrt. Ein Blick in ihr Gesicht genü gt. Sie hat alles gehö rt.

       Mathilde zö gert. «Gretchen …»

       «Das ist nicht wahr. Du bist nicht meine Mutter. »

       «Nein, natü rlich nicht. » Mathilde versucht zu lä cheln.

       «Papa hat so was nie gemacht. Ich glaube dir nicht. Du lü gst! »

       «Das stimmt. Ich habe mir das ausgedacht. » Mathilde streckt die Hä nde aus. «Du tust Michel weh. Komm, lass mich …»

       «Bleib weg! » Gretchen weicht zurü ck. Michel dreht sein Gesicht von ihrer Hand weg und beginnt zu weinen. Mathilde macht einen Schritt auf sie zu.

       «Ich will doch nur …»

       «Bleib weg! »

       Noch immer hä lt sie Michel an sich gepresst, als sie sich umdreht und fortlä uft. Ich ignoriere den Schmerz in meinem Fuß und ü berhole Mathilde, die sofort hinter Gretchen herjagt. Aber Gretchen hat den Sanglochonpferch bereits erreicht. Sie bleibt vor dem Pferch fü r den Keiler stehen und reckt Michel neben dem Zaun in die Hö he.

       «Verschwinde! Ich mein’s ernst! »

       Mathilde bleibt stolpernd neben mir stehen, wä hrend Gretchen Michel in die Hö he reckt. Der Eber ist nirgends zu sehen, doch das Heulen des Babys hat die Sauen im angrenzenden Pferch aufgeschreckt. Ihr lebhaftes Grunzen stimmt in den Tumult ein.

       «Komm schon, Gretchen. Du willst ihm doch nicht weh tun», sage ich.

       «Halt die Klappe! », kreischt sie. Ihr Gesicht ist fleckig und trä nennass. «Du machst dir doch nichts aus mir, du bist genauso schlimm wie sie! »

       Eine Bewegung entsteht hinter ihr im Pferch. Die Schnauze des Keilers taucht in der Ö ffnung seines hö hlenartigen Unterstands auf. Kleine, gemeine Augen beobachten uns unter den schweren Lappen seiner Ohren hervor.

       «Gretchen, bitte hö r mir zu! » Sogar im Mondlicht ist Mathildes Gesicht aschfahl. «Es tut mir leid, wenn ich …»

       «Nein, tut es nicht! Du lü gst! Papa hat das nicht gemacht! Meine Mutter ist tot, du bist nicht meine Mutter! »

       Hinter ihr ist der Keiler inzwischen vollstä ndig im Mondlicht aufgetaucht. Er beginnt herumzulaufen und lä sst uns dabei nicht aus den Augen.

       «Du machst Michel Angst», sagt Mathilde. «Gib ihn mir, und dann …»

       «Nein! », kreischt Gretchen. Mit einem Quieken greift der Keiler an. Er knallt gegen den Bretterzaun, und als Gretchen zurü ckweicht, stü rze ich vor. Aber sie bemerkt mich und hä lt Michel mit ausgestreckten Armen wieder ü ber den Zaun. «Geht weg! »

       Ich weiche zurü ck. Der Keiler stö ß t mit dem Kopf gegen die Bretter und gerä t immer mehr in Wut. Das Baby heult und tritt wild um sich.

       «Nein! » Mathilde schlä gt die Hand vor den Mund. «Bitte, tu das nicht! Du willst Michel doch nicht weh tun, er ist …»

       «Er ist was? Mein Bruder? » Gretchens Zorn fä llt langsam in sich zusammen, als Mathilde darauf nichts antwortet. «Das ist nicht wahr! Ich glaube dir nicht! »

       Sie fä ngt an zu schluchzen und drü ckt Michel an sich. Gott sei Dank, denke ich und atme langsam wieder aus. Ich spü re, wie auch bei Mathilde die Anspannung nachlä sst, als sie einen Schritt nach vorne macht.

       «Komm mit zum Haus», sagt sie sanft. «Ich nehme Michel, und dann …»

       Gretchens Kopf ruckt hoch. «Hure! »

       Ihr Gesicht ist vor Wut verzerrt, und sie hebt Michel wieder hoch. Die Holzplanken werden erschü ttert und splittern unter dem Angriff des Keilers. Oh Gott, denke ich und will zu ihr, obwohl ich genau weiß, dass weder Mathilde noch ich sie rechtzeitig erreichen wü rden.

       Mathilde steht mit ausgestreckten Armen einfach da. Der Mond kommt hinter einer Wolke hervor und beleuchtet die Szene wie Flutlicht. «Bitte, lass mich doch nur erklä ren …»

       «Hure! Verlogene Hure! »

       «Gretchen, bitte …»

       «Halt die Klappe! Ich hasse dich, ich hasse dich! »

       Gretchen dreht sich zum Pferch um, und dann hö re ich ein Gerä usch, das wie eine Peitsche durch die Nacht knallt. Sie hä lt immer noch Michel und stolpert. Ich stü rze zu ihr hin, als ihre Beine unter ihr nachgeben, aber Mathilde ist schneller. Sie schnappt Michel dort, wo er vor dem Pferch zu Boden fä llt. Er heult, ist aber unverletzt. Sie hä lt ihn mir hin, und sobald ich ihn nehme, ist sie bei ihrer Tochter.

       Ein dunkler Fleck breitet sich vorne auf Gretchens T-Shirt aus. Selbst jetzt verstehe ich noch nicht, was hier los ist, bis ich ein Stö hnen hö re und mich umdrehe. Arnaud steht am Waldrand. Den Gewehrlauf hat er noch gegen die Schulter gedrü ckt, aber als ich ihn ansehe, lä sst er die Waffe sinken, bis der Lauf zu Boden zeigt.

       Stolpernd rennt er auf uns zu, und Mathilde kniet sich neben Gretchen. Sie liegt auf dem Rü cken, und ihre Gliedmaß en zucken, wä hrend sie nach oben starrt und verwirrt blinzelt.

       «Mathilde …? » Es ist die Stimme eines kleinen Mä dchens, das verloren und verwirrt ist. «Mathilde, ich wollte nicht …»

       «Psst. Ist schon in Ordnung. Versuch, nicht zu sprechen. » Mathilde nimmt eine ihrer Hä nde, und Arnaud kommt heran. Er verharrt nur kurz und berü hrt Michel, ehe er auf der anderen Seite neben Gretchen in die Knie geht.

       «Um Himmels willen, nein …» Mein Verstand ist wie betä ubt. Hilflos stehe ich daneben und halte Michel ungeschickt an mich gedrü ckt. Ich rede mir ein, dass die Waffe zu kleinkalibrig ist, um groß en Schaden anrichten zu kö nnen. Dass sie nur fü r Vö gel und Kaninchen tö dlich ist. Aber der Blutfleck auf Gretchens T-Shirt breitet sich aus, und jetzt beginnt sie auch noch, schwarze Klumpen auszuhusten.

       «Nein», sagt Mathilde, als wü rde sie ihre Tochter tadeln. «Nein! »

       Gretchen starrt sie an. Ihre Augen sind vor Angst weit aufgerissen. Die freie Hand drü ckt Mathilde auf das kleine Loch in ihrer Brust. Gretchen versucht zu sprechen, aber ein Schwall helles Blut strö mt aus ihrem Mund, und sie beginnt zu wü rgen. Sie drü ckt das Kreuz durch, und ihre Fü ß e graben sich tief in den Dreck, als sie von Krä mpfen geschü ttelt wird. Einen Moment lang versteift sie sich und kä mpft dagegen an. Dann verlä sst alle Anspannung ihren Kö rper, und es ist vorbei.

       Danach legt eine Stille sich ü ber uns, die wie eine luftdichte Blase ist. Weder Michels Schreien noch das Grunzen des Keilers kö nnen sie durchdringen. Mathilde sitzt halb und hat ein Bein unter ihren Kö rper gezogen. Immer noch hä lt sie Gretchens Hand. Doch wä hrend Arnaud weint und das Gesicht seiner Tochter streichelt, lä sst sie los.

       «Es tut mir leid. Sie wollte ihn hineinwerfen, ich musste es tun», sagte Arnaud atemlos. «Oh Gott, nein. Das tut mir so leid. »

       Mathilde starrt ihren Vater ü ber Gretchens Leichnam hinweg an. Dann holt sie aus, und die Ohrfeige, die sie ihm verpasst, knallt lauter durch die Nacht als der Schuss. Er scheint es gar nicht zu bemerken, sondern wiegt sich mit dem blutigen Handabdruck auf der Wange vor und zurü ck.

       Hinter ihnen ist der Keiler schier wahnsinnig geworden und knallt immer wieder gegen den Zaun, weil der Geruch nach Blut ihn reizt. Mathilde kommt unsicher auf die Fü ß e. Abwesend schiebt sie sich eine Strä hne hinters Ohr, doch dieses Mal ist die vertraute Geste fremd und mechanisch, und sie schmiert sich einen Streifen Blut auf die Wange. Wie betrunken wankt sie dorthin, wo Arnaud das Gewehr fallen gelassen hat.

       «Mathilde», sage ich. Meine Stimme ist nur ein Krä chzen.

       Ich hä tte genauso gut nichts sagen kö nnen. Sie hebt das Gewehr vom Boden auf und kommt zurü ck, kaum stabiler auf den Beinen. Ihre Hä nde und Arme sind bis zu den Ellenbogen in rote Handschuhe gehü llt.

       «Mathilde», wiederhole ich und halte Michel weiter an mich gedrü ckt. Aber jetzt bin ich nicht mehr als ein Zuschauer. Sie steht ü ber ihrem Vater, der neben Gretchen kniet. Er schaut nicht auf, als sie das Gewehr durchlä dt und es an die Schulter hebt.

       Ich zucke zusammen, als sie die Waffe abfeuert. Dem Schuss folgt ein Quieken des Ebers. Als ich wieder hinschaue, weint Arnaud noch immer neben seiner Tochter. Mathilde geht an ihm vorbei und feuert erneut. Dieses Mal hö re ich, wie die Kugel in das Fleisch des Keilers einschlä gt. Er brü llt und dreht sich im Kreis, greift dann jedoch sofort wieder den Zaun an. Mathilde lä dt in aller Ruhe erneut durch. Sie tritt nä her an den Zaun, bis sie direkt auf den Rü cken des Tiers zielen kann. Jeder Schuss wird von einem wilden Quieken begleitet, weil der Keiler unablä ssig den Zaun angreift. Sein dunkelgrauer Rü cken ist inzwischen schwarz vom Blut, wä hrend er voller Zorn und Schmerz schreit.

       Dann drü ckt Mathilde den Lauf des Gewehrs gegen sein Ohr und drü ckt den Abzug, und die Schreie des Ebers verstummen sofort.

       Stille legt sich wie eine Decke um die Lichtung und die angrenzenden Pferche. Nur das leise Weinen von Arnaud zerschneidet die Stille, doch langsam dringen auch andere Laute zu mir vor. Das verä ngstigte Quieken der Schweine, Michels Weinen, das Rauschen der Bä ume. Als der Wald rings um uns wieder zum Leben erwacht, lä sst Mathilde die Waffe aus den Hä nden gleiten. Sie starrt ins Leere, wä hrend ihr Vater noch ü ber Gretchens Leichnam kniet und ich ein Stü ck abseits stehe und davon ü berzeugt bin, dieser Moment werde ewig dauern.


[zur Inhaltsü bersicht]




  

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