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LONDON.  KAPITEL 18



LONDON

       Ich liege eines Nachmittags auf dem Sofa in meiner Wohnung und schaue Die Teuflischen auf DVD, als mein Handy klingelt. Ich habe den Film schon mehrmals gesehen, aber mir war langweilig, und ich hatte vor Dienstbeginn im Zed nichts anderes zu tun. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, irgendwas Konstruktives mit meiner Freizeit anzustellen. Mein Leben wieder in Schwung zu bringen. Aber wie die meisten Sachen scheint das im Moment einfach zu viel Kraft zu kosten. Ich drü cke die Pausentaste und gehe ans Telefon. Es ist Callum.

       «Sean, ich habe gerade in der Zeitung davon gelesen. Es tut mir wirklich leid, Kumpel. Ich hatte ja keine Ahnung. »

       Ich habe Callum schon seit ein paar Wochen nicht mehr gesehen. Nicht mehr seit dem Doppeldate, um genau zu sein. Wir hatten darü ber geredet, ein zweites Mal zu viert auszugehen, aber dazu kam es nie. Die Wahrheit ist, dass ich versucht habe, die Verbindungen zu meinem alten Leben zu kappen, obwohl kappen vermutlich eine zu aktive Bezeichnung fü r das ist, was ich getan habe. Es war eher so, dass ich die Freundschaften dem Verfall preisgab und nichts dagegen unternahm.

       Ich schaue immer noch auf das erstarrte Schwarz-Weiß -Bild auf dem Fernseher: Simone Signoret beugt sich ü ber die Badewanne mit dem bekleideten Leichnam von Paul Meurisse. Eine groß artige Szene. «Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst. »

       Es ist kurz still in der Leitung. «Du meinst, du hast das mit Chloe nicht gewusst? »

       Es steht in der Nachmittagsausgabe vom London Evening Standard. Ich habe keine Ausgabe, aber der Bericht steht auch auf der Webseite. Eine kurze Notiz nur, ohne Foto. Vermutlich dachten sie, die Story habe nicht mehr Aufmerksamkeit verdient, oder vielleicht hatten sie keine Zeit, um eins zu suchen, nachdem man Chloes Leichnam aus der Themse gezogen hat.

       Eine ehemalige Drogensü chtige, heiß t es in dem Bericht. Selbstmord oder Unfall, das weiß man nicht so genau, obwohl auf sie die Beschreibung einer jungen Frau passt, die man beobachtet hat, als sie vor zwei Tagen abends vom Gelä nder der Waterloo Bridge fiel. Sie muss so zugedrö hnt oder betrunken gewesen sein, dass keiner der Augenzeugen sagen konnte, ob sie gestolpert oder gesprungen war. Die Story hat es nur deshalb in die Nachrichten geschafft, weil ihr Leichnam von einer Gruppe Schulkinder beim Bootsausflug gefunden wurde, als er gegen die Stü tzpfeiler des Anlegestegs getrieben wurde. Der Bericht widmet sich ausgiebiger dem Mitgefü hl fü r die armen Kinder als fü r Chloe.

       Sie war eben nur eine weitere Drogensü chtige.

       Jez geht sofort ans Telefon, als ich bei Yasmin anrufe. Ich habe mit ihm nicht mehr gesprochen, seit ich bei der Sprachenschule gekü ndigt habe. Ich habe nichts gegen ihn, aber die Tatsache, dass er mit Chloes bester Freundin zusammenlebt, macht es irgendwie unangenehm fü r uns beide.

       Jetzt kü mmert mich das nicht mehr. «Ich bin’s, Sean», sage ich.

       «Sean. » Seine Stimme klingt noch schwerfä lliger als sonst. «Du hast davon gehö rt? »

       «Gerade erst. Callum hat angerufen. »

       «Geht’s dir gut? »

       Darauf antworte ich nicht. «Ist Yasmin da? »

       «Ja, aber … Ich glaube, du solltest lieber nicht mit ihr sprechen. »

       Ich starre aus dem Fenster auf eine Taube, die auf dem Sims landet. Sie neigt den Kopf und beobachtet mich durch die Scheibe. «Was ist passiert? »

       «Ich weiß auch nicht viel. Sie hat wohl wieder Drogen genommen. Yasmin hat versucht, sie davon wegzukriegen, aber du weiß t ja, wie das ist. Sie hat angefangen, hartes Zeug zu nehmen. » Ich spü re sein Zö gern. «Du weiß t von Jules? Er hat sie verlassen. »

       Ich lehne den Kopf gegen die Wand. «Wann? »

       «Vor ein paar Wochen. Chloe hat Yasmin erzä hlt, dass Jules in Schwierigkeiten steckt. Ich habe dir doch von dem Fitnessstudio in den Docklands erzä hlt? Also, er hat wohl gehö rt, der Kai solle komplett restauriert werden, weshalb er das ganze Gebä ude gekauft hat. Er hat sich bis ü ber beide Ohren verschuldet, weil er dachte, damit ein Vermö gen machen zu kö nnen. Dann haben sie aber dem neuen Bauprojekt den Stö psel gezogen. Jetzt schuldet er also Lenny, dem groß en Typen, der ihn mit dem ganzen Scheiß zeug fü rs Fitnessstudio versorgt hat, einen Haufen Geld. Und noch ein paar Leuten, mit denen Lenny Geschä fte macht. Leuten also, denen man lieber kein Geld schulden sollte. Ich kenne nicht alle Details, aber Chloe … Hö r mal, bist du sicher, dass du das hö ren willst? »

       «Sprich weiter. »

       Er seufzt. «Na ja, Chloe meinte, Jules habe angefangen, mehr zu dealen, um seine Schulden begleichen zu kö nnen. Er wollte sie als Drogenkurier an Lenny ausleihen bei einer All-Inclusive-Reise nach Thailand. »

       «Himmel. » Ich schließ e die Augen.

       «Sie hat es nicht gemacht. Sie hat abgelehnt», fä hrt Jez hastig fort. «Aber Jules ist ausgerastet. Hat sie aus seiner Wohnung geworfen und ihr gesagt, sie wä re ein Parasit und so Zeug. Und dann hat er sie geschnitten. Wollte einfach nichts mehr mit ihr zu tun haben. Ich glaube, damit wollte er ihr auch heimzahlen, dass sie ihn beim letzten Mal einfach verlassen hat. Und das muss Chloe irgendwie den Boden vollends unter den Fü ß en weggezogen haben. Yasmin hat getan, was sie konnte, aber …»

       Am anderen Ende der Leitung hö re ich einen kleinen Tumult. Ich hö re gedä mpfte Stimmen, die eine klingt wü tend. Dann ist Yasmin am Telefon. «Bist du jetzt glü cklich? », schreit sie und weint. «Du verfluchter Scheiß kerl, warum hast du sie zu diesem Bastard zurü ckgehen lassen? »

       Ich reibe mir die Schlä fe. «Das war ihre Entscheidung, Yas. »

       «Du hast sie verlassen, als sie dich brauchte! Was hast du denn gedacht, was sie macht? »

       «Ich habe sie nicht darum gebeten, mit ihm zu schlafen und schwanger zu werden», schieß e ich zurü ck.

       «Du hä ttest sie verdammt noch mal unterstü tzen mü ssen! Es hä tte deins sein kö nnen, aber du bist einfach verschwunden und hast sie im Stich gelassen! »

       «Was? » Meine Gedanken rasen. «Nein, Chloe hat mir gesagt, dass es seins ist …»

       «Und das hast du ihr geglaubt? Himmel, bist du wirklich so verdammt dä mlich? Sie wollte es dir leicht machen, und dir war das nur recht, nicht wahr? Du hä ttest sie genauso gut eigenhä ndig die Brü cke runterwerfen kö nnen, du selbstsü chtiger …»

       Es gibt ein Gerangel, weil Jez versucht, das Telefon wieder an sich zu reiß en. Ich lausche wie betä ubt, als er sich wieder meldet. Er klingt aufgeregt. «Entschuldige, Sean. Yasmin, sie … Na ja, du weiß t schon. »

       «Was sie gesagt hat. Ist das …? »

       «Darü ber weiß ich nichts», sagt er hastig. «Ich muss jetzt leider los. Vermutlich ist es das Beste, wenn du vorerst nicht anrufst. Zumindest eine Zeitlang. Tut mir leid. »

       Die Leitung ist tot. Yasmins Worte graben sich tief in mich. Es hä tte deins sein kö nnen. Himmel, stimmt das etwa? Ich kann nicht glauben, dass Chloe mich belogen hat. Aber Yasmin wü rde sich so was ja nicht ausdenken. Und die beiden waren immer beste Freundinnen. Chloe hat ihr Dinge anvertraut, die sie sonst niemandem erzä hlte.

       Mich eingeschlossen.

       Ich weiß, das ist Selbstzerfleischung, aber ich scrolle trotzdem durch die Liste der entgangenen Anrufe. Nach dem, was Jez erzä hlt hat, muss Jules ungefä hr zu dem Zeitpunkt mit Chloe Schluss gemacht haben, als sie bei mir anrief. Und ich hatte ihren Anruf ignoriert, weil ich einen Film sehen wollte, den ich eigentlich nicht sehen wollte. Mit Leuten, die ich nicht kannte. Ihr Name steht noch da, fast am Ende. Ich sehe ihn auf dem Leuchtdisplay und bin wahnsinnig versucht, einfach anzurufen. Stattdessen rufe ich meine Mailbox ab. Vielleicht habe ich ja einen Anruf von ihr verpasst.

       Natü rlich ist da nichts.

       Ich habe das Gefü hl, keine Luft mehr zu bekommen. Also verlasse ich fluchtartig meine Wohnung und rede mir ein, ziellos durch die Gegend zu laufen, bis ich schließ lich unweigerlich bei der Waterloo Bridge lande. Ein eher zweckmä ß iges Asphaltband, das ü ber den Fluss gespannt ist und auf dem trä ge der Verkehr neben dem Fuß gä ngerweg fließ t. Ich gehe zur Mitte der Brü cke und lehne mich gegen die Brü stung. Blicke hinab auf den langsam strö menden Fluss. Ich frage mich, wie es sich wohl angefü hlt hat, einfach ins Nichts zu treten. Ob sie noch bei Bewusstsein war, als sie auf die Wasseroberflä che traf. Ob sie Angst hatte.

       Ob sie an mich gedacht hat.

       Ich verbringe den Rest des Tages damit, mich ordentlich zu betrinken. Manchmal nehme ich das Handy heraus und starre auf Chloes letzten Anruf, der auf dem Display aufgezeichnet ist. Mehrmals bin ich kurz davor, den Eintrag zu lö schen, aber ich bringe es dann doch nicht ü ber mich. Der Abend ist warm und sonnig, und ich sitze wie in einer Blase, isoliert von den anderen Leuten, die mit mir auf der Terrasse des Pubs sitzen. Im einen Moment noch betä ubt, werde ich im nä chsten von Kummer, Wut und Schuldgefü hlen ü berschwemmt. Am erträ glichsten ist noch die Wut, und schließ lich treffe ich eine Entscheidung. Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe. Als das Licht nachlä sst, stehe ich auf und gehe auf unsicheren Beinen in Richtung der nä chsten U-Bahn-Station. Jules’ Fitnessstudio ist in den Docklands. Ich habe keine Adresse, aber das macht nichts. Ich werde es schon finden.

       Ich werde ihn finden.


[zur Inhaltsü bersicht]


 KAPITEL 18

       Der Regen klingt wie das Rauschen eines kaputten Radios. Drauß en strö mt das Wasser bestä ndig wie ein Glasperlenvorhang ü ber das Kü chenfenster. Der Regen ist so heftig, dass die Tü r und die Fenster geschlossen bleiben mü ssen und es in der Kü che heiß und stickig ist. Der Regen scheint nicht die ersehnte Abkü hlung zu bringen, und der stickige Raum ist beengt und von Kü chengerü chen erfü llt.

       Mathilde hat sich heute Abend mä chtig ins Zeug gelegt. Als Vorspeise gibt es Artischocken in Butter.

       «Welchen besonderen Anlass gibt es denn hierfü r? », knurrt Arnaud. Die Butter glä nzt an seinem Mund und seinem Kinn.

       «Keinen besonderen Anlass», erklä rt Mathilde. «Ich dachte nur, ihr mö gt vielleicht ein bisschen Abwechslung. »

       Ihr Vater grunzt und nagt weiter an der Artischocke. Geradezu obszö n nuckelt er an der Mitte der fä cherfö rmigen Blä tter. Gretchen ignoriert mich fast vollstä ndig, wä hrend sie ihrer Schwester mü rrisch hilft, das Essen zu servieren.

       Georges hat offensichtlich Arnaud nicht erzä hlt, dass er uns beide vorhin im Wald gesehen hat. Bisher zumindest nicht. Entweder ihn interessieren wirklich nur seine Schweine, wie Gretchen behauptet, oder er hat gelernt, einfach die Augen vor dem zu verschließ en, was ihn nichts angeht. Wie auch immer, ich sollte eigentlich erleichtert sein.

       Stattdessen bin ich fast enttä uscht.

       Ich war den ganzen Nachmittag ü ber in einer seltsamen Stimmung. Es stand auß er Frage, dass ich nicht weiter am Haus arbeiten konnte, nachdem der Regen eingesetzt hatte. Mein Mö rtel wurde recht schnell matschig, und als der Wind auffrischte und das Gerü st durchrü ttelte, hatte ich keine andere Wahl und musste die Leiter runtersteigen. Vö llig durchnä sst ging ich zurü ck in die Scheune und schlü pfte aus dem nassen Overall. Durch das Fenster im Dachboden beobachtete ich das Gewitter. Die Landschaft drauß en war verä ndert, die vertraute, idyllische Szenerie zeigte ein wildes Gesicht. Die Felder hinter den vom Wind gepeitschten Bä umen verschwammen im Regen, und der See war kaum mehr als ein Klecks. Als der Donner in der Ferne grollte, stellte ich mir vor, jetzt im See zu schwimmen, wä hrend die Oberflä che von den Regentropfen zerhackt wurde.

       Stattdessen blieb ich auf dem Dachboden, lauschte dem Trommeln des Regens und wartete darauf, dass es wieder aufhellte. Doch das passierte nicht, und schon bald hatte sich die Neuartigkeit des Gewitters abgenutzt. Ich rauchte ohne viel Vergnü gen eine meiner letzten Zigaretten und versuchte, das nä chste Kapitel von Madame Bovary zu lesen. Aber ich war nicht bei der Sache. Als schließ lich der Tag sich dem Abend zuneigte und der Wolkenbruch nicht nachließ, wurde ich unruhig. Zum ersten Mal seit Wochen legte ich meine Armbanduhr wieder um und sah zu, wie die Sekunden vorbeitickten, bis es Zeit war, fü rs Abendessen zum Haus zu gehen. Zusammen mit der Besorgnis stellte sich auch ein merkwü rdiges Gefü hl der Vorfreude ein.

       Und nun sitze ich hier, doch das Abendessen ist eher eine Ernü chterung. Alles ist ganz normal. Mathilde umrundet mit der Pfanne den Tisch und serviert jedem von uns eine zweite Artischocke. Sie sind klein und zart, und die fleischigen Blä tter saftig und weich. Ich habe nicht besonders groß en Hunger, nehme die zweite aber trotzdem. Sie gieß t etwas heiß e Butter aus der Pfanne auf meine Artischocke, ehe sie weitergeht. Sie ist so unbewegt wie immer.

       Als ich ein Blatt vom Strunk reiß e und hineinbeiß e, bemerke ich meine Uhr am Handgelenk. Sie fü hlt sich gleichermaß en vertraut und fremd an, und fast verlä sst mich der Mut, weil nur wenige Minuten vergangen sind, seit ich das letzte Mal draufgeschaut habe. Meine Hä nde bewegen sich so langsam, als mü sste ich sie durch flü ssigen Honig ziehen. Es ist, als wä ren auf dem Hof die Gesetze der Physik auß er Kraft gesetzt. Vielleicht warte ich aber einfach nur darauf, dass irgendetwas passiert.

       «Mü ssen Sie noch wo hin? », fragt Arnaud.

       Ich senke die Hand mit der Uhr. «Ich habe nur jedes Zeitgefü hl verloren. »

       «Warum? Sagen Sie nicht, Sie wä ren mü de. » Er lacht pfeifend und wedelt mit der zerrupften Artischocke vor meinem Gesicht. «Sie haben heute doch kaum was getan. Der Regen schenkt Ihnen einen Urlaubstag. Wie kö nnen Sie da mü de sein? » Seine Augen blitzen. Er ist ausgesprochen guter Laune, bemerke ich. Womit er in diesem Raum ü brigens der Einzige ist. Gretchen scheint uns mit ihrem Schmollen auf Abstand halten zu wollen, und Mathilde ist stiller als sonst. Ich frage mich, ob ihre Schwester ihr von heute Nachmittag erzä hlt hat. Die Mö glichkeit raubt mir auch das letzte bisschen Lust, ein Gesprä ch in Gang zu bringen.

       Arnaud scheint die unterschwelligen Strö mungen am Tisch nicht zu bemerken, weil er sich im Moment ganz auf seinen Hunger konzentriert. Als Mathilde und Gretchen das Hauptgericht servieren – dü nne Streifen Schweinefleisch in Kapernsoß e –, wendet er sich wieder an mich.

       «Hab gehö rt, die Fä den sind aus Ihrem Fuß raus. »

       «Ja. »

       «Dann gibt’s also nichts mehr, was Sie aufhä lt, was? »

       «Vermutlich nicht. »

       «Das ist etwas, das wir beide feiern mü ssen. » Er nimmt die Weinflasche und macht Anstalten, mir nachzuschenken.

       «Nein danke. »

       «Kommen Sie schon. Ihr Glas ist leer. Hier. »

       Ich schiebe mein Glas beiseite. «Ich will nichts mehr. »

       Er runzelt die Stirn und hä lt die Flasche geneigt. Die rote Flü ssigkeit rinnt fast aus dem Flaschenhals. «Warum nicht? Stimmt was nicht damit? »

       «Mir ist heute einfach nicht nach Wein. »

       Arnaud kneift den Mund missbilligend zusammen. Er hat sich bereits einen Groß teil der Flasche einverleibt, und ich bezweifle, dass es heute die erste ist. Er schenkt sich nach und lä sst ihn dabei auf den Tisch schwappen. Drü ben am Herd verzieht Mathilde das Gesicht, als die Flasche auf den Tisch knallt.

       «Was ist? », will er wissen.

       «Nichts. »

       Er starrt sie an, aber sie hä lt den Blick gesenkt und kehrt an ihren Platz zurü ck. Er nimmt einen Schluck Wein, spieß t ein Stü ck Fleisch mit der Gabel auf und blickt sich am Tisch um, wä hrend er kaut.

       «Was ist denn heute Abend mit euch los? »

       Keiner antwortet.

       «Das ist ja, als wü rde man im Leichenschauhaus essen! Ist irgendwas passiert, von dem ich noch nichts weiß? Hä? »

       Die Frage wird mit Schweigen beantwortet. Quer ü ber den Tisch spü re ich Gretchens Blick auf mir ruhen, doch ich tue so, als bemerkte ich es nicht. Arnaud leert sein Glas. Seine gute Laune hat nicht besonders lange gehalten. Er greift wieder nach der Flasche und bemerkt, dass Mathilde ihn beobachtet. «Mö chtest du etwas sagen? »

       «Nein. »

       «Bist du sicher? »

       «Ja. »

       Er starrt sie weiter an und sucht fö rmlich nach etwas, das er kritisieren kö nnte. Weil er nichts findet, nimmt er Messer und Gabel wieder auf und isst weiter. Das Schwein muss man kaum kauen. Es fä llt fö rmlich auseinander, und die Soß e ist mit Knoblauch und Kapern pikant gewü rzt.

       «Nicht genug Wü rze», knurrt Arnaud.

       Auf den Kommentar reagiert keiner von uns.

       «Ich sagte, es ist nicht genug Wü rze dran. »

       Wortlos schiebt Mathilde ihm das Salz und den Pfeffer rü ber. Groß zü gig mahlt er Pfeffer ü ber sein Essen und bestreut es anschließ end mit reichlich Salz.

       «Ich habe dir schon oft genug gesagt, du sollst mehr Gewü rze nehmen, wenn du kochst. Es tö tet den Geschmack, wenn man nachwü rzen muss. »

       «Und wieso machen Sie es dann? », frage ich, ehe ich mich bremsen kann.

       Arnaud wirft mir einen giftigen Blick zu. «Weil es dann wenigstens nach irgendwas schmeckt. »

       «Mir schmeckt es gut. » An Mathilde gewandt, erklä re ich: «Es ist kö stlich. »

       Sie wirft mir ein nervö ses Lä cheln zu. Ihr Vater starrt mich ü ber den Tisch hinweg an und kaut bedä chtig. Er schluckt und lä sst sich Zeit mit seiner Antwort. «Und Sie wissen, was gut schmeckt, ja? »

       «Ich weiß jedenfalls, was mir schmeckt. »

       «Ist das so? Ich habe ja gar nicht gewusst, dass Sie so ein Gourmet sind. Die ganze Zeit habe ich gedacht, Sie wä ren einfach nur ein hoffnungsloser Anhalter, dem ich in meiner Scheune Unterschlupf gewä hrt habe. » Arnaud hebt das Glas und prostet mir ironisch zu. «Da fü hle ich mich aber geehrt, dass Sie mir Ihre Meinung eintrichtern. »

       In der plö tzlichen Stille ist der Regen noch lauter. Gretchen beobachtet uns mit weit aufgerissenen Augen. Mathilde will aufstehen. «Es ist noch Soß e in der Pfanne …»

       «Setz dich hin. »

       «Es ist kein Problem, ich kann …»

       «Ich sagte, setz dich hin! » Die Teller hü pfen, als Arnaud mit der Faust auf den Tisch haut. Noch ehe das Klirren verstummt, ist Michels Weinen von oben zu hö ren. Aber keiner am Tisch rü hrt sich.

       «Warum lassen Sie sie nicht in Ruhe? », hö re ich mich sagen.

       Arnaud wendet sich langsam an mich und starrt mich an. Schon jetzt ist sein Gesicht vom Wein gerö tet, aber es wird noch dunkler. «Was? »

       Ich habe das Gefü hl, einen Hü gel hinabzulaufen und genau zu wissen, dass ich hinfallen werde. Trotzdem spreche ich hastig weiter. «Ich fragte, warum Sie sie nicht in Ruhe lassen. »

       «Lass …», setzt Mathilde an, doch mit erhobener Hand bringt Arnaud sie zum Schweigen.

       «Hast du das gehö rt, Mathilde? Du hast einen tapferen Recken! » Er lä sst mich nicht aus den Augen. Seine Stimme ist gefä hrlich leise. «Sie sitzen hier, essen mein Essen und trinken meinen Wein und wagen es, mich in meinem eigenen Haus in Frage zu stellen? »

       Mathilde erbleicht, und Gretchens hü bsches Gesicht hat sich hä sslich verzerrt. Zu jedem anderen Zeitpunkt hä tte ich das vielleicht als Warnung verstanden, doch jetzt konzentriere ich mich dafü r zu sehr auf Arnaud. Seine Miene ist mö rderisch, und eine Ader pocht rasend schnell an seiner Schlä fe. Ich bin gerade sehr froh, dass er sein Gewehr nicht zur Hand hat.

       Und dann ist plö tzlich alles anders. Ein kaltes Glitzern tritt in seine Augen. Er zuckt mit den Schultern und bringt irgendwie sogar ein gequä ltes Lä cheln zustande. «Ach, zum Teufel damit. Ich will mich nicht wegen einem Teller Essen streiten. Ein Mann sollte seine eigene Meinung haben dü rfen. »

       Einen Moment bin ich vö llig perplex. Dann verstehe ich. Er glaubt, es ginge hier um das Gesprä ch, das wir im Wald gefü hrt haben – um seinen Vorschlag, ich sollte ihm Mathilde abnehmen. Die aufgestaute Anspannung des Tages lä sst abrupt nach.

       Arnaud widmet sich wieder mit groß em Appetit seinem Essen. «Sie mö gen also Mathildes Kochkü nste, was? Schö n fü r Sie. Vielleicht war ich ja etwas voreilig. Sie wissen schon, was man sagt: Eine Frau, die weiß, wie man fü r einen Mann kocht, weiß auch, wie sie ihn in anderer Hinsicht glü cklich machen kann. »

       Himmel … Ich suche Mathildes Blick. Hoffentlich glaubt sie nicht, ich kö nnte mit ihrem Vater unter einer Decke stecken. Sie hä lt den Blick abgewendet. Von ihrer Schwester kann ich das nicht behaupten. Gretchen starrt mich mit einer so unverhohlenen Wut an, dass sich die Haut ü ber ihren Wangenknochen anspannt. Die Wucht ihres Zorns ist fü r mich wie ein Schlag ins Gesicht. Dann wendet sie sich an ihren Vater.

       «Papa, ich muss dir noch was erzä hlen. »

       Arnaud winkt nachlä ssig mit der Gabel und schaut nicht vom Teller auf. «Erzä hl. »

       Ich starre sie an, weil ich einfach nicht glauben kann, dass sie das gerade tut. Aber natü rlich macht sie es.

       «Ich habe heute Nachmittag Georges im Wald gesehen. Hat er das nicht erwä hnt? »

       «Nein. Warum sollte er? »

       Sie sieht mich an. Ihr engelhaftes Gesicht verzieht sich zu einem rachsü chtigen Lä cheln. «Das kann Sean dir erzä hlen. »

       Arnaud senkt Messer und Gabel. Misstrauen ersetzt nun wieder seine Nachsicht. «Er kann mir was erzä hlen? »

       «Gretchen, warum gehst du …», versucht Mathilde zu intervenieren, aber ihr Vater lä sst nicht locker.

       «Er kann mir was erzä hlen? »

       Alle starren mich an. Die drei Gesichter zeigen ganz unterschiedliche Gefü hlsregungen. Arnauds wachsende Wut, Mathildes Ä ngstlichkeit und Gretchens Unsicherheit, als bereute sie nachträ glich, ü berhaupt damit angefangen zu haben. Merkwü rdigerweise bleibe ich ganz ruhig. Als hä tte ich versucht, den richtigen Weg zu diesem Moment zu finden, und wä re bisher immer gescheitert.

       «Ich verlasse euch. »

       Meine Ankü ndigung wird mit Schweigen quittiert. Mathilde ist am meisten entsetzt, aber schließ lich ergreift Arnaud als Erster das Wort.

       «Was meinen Sie mit verlassen? »

       «Genau das. Es gibt etwas, das ich erledigen muss. » Nachdem ich es ausgesprochen habe, sind alle Unsicherheit und Unentschlossenheit von mir gewichen. Ich habe das Gefü hl, ein groß es Gewicht sei von mir genommen worden.

       Arnauds Gesicht hat sich verfinstert. «Die ganze Zeit waren Sie hier und haben nie irgendwas Dringendes erwä hnt. Was ist das, das Sie sofort erledigen mü ssen? »

       «Es ist eine persö nliche Angelegenheit. Ich hä tte mich schon frü her darum kü mmern mü ssen, aber jetzt kann ich es leider nicht lä nger aufschieben. »

       «Was ist mit Ihren Verpflichtungen hier? Es ist also in Ordnung, die einfach zu vergessen? »

       «Die Wand ist in einem besseren Zustand als vorher. Aber ich kann auch noch ein paar Tage bleiben, zumindest bis …»

       «Ach, warum denn? », bellt Arnaud. «Wenn Sie uns verlassen wollen, brauchen Sie nicht eine Nacht mehr unter meinem Dach verbringen. Los, Judas! Pack deine Sachen und verschwinde! »

       «Nein! » Dieser Ausruf kommt von Gretchen. Sie sieht wü tend aus und traurig. «Nein, Sie kö nnen nicht gehen! »

       Ihr Vater wischt ihren Einwand beiseite. «Doch, das kann er. Den wä ren wir auch los! Wir brauchen ihn nä mlich nicht! »

       Mathilde hat bis jetzt geschwiegen. Sie wirkt ehrlich erschü ttert. «Warte, kö nnen wir nicht …»

       «Nein, lass ihn gehen! », grollt Arnaud. «Hast du mich nicht gehö rt, du undankbarer Scheiß kerl? Ich sagte, du sollst verschwinden! »

       Ich schiebe meinen Stuhl zurü ck und gehe zur Tü r. Mathilde versucht, mich aufzuhalten. «Lass uns wenigstens bis morgen warten und dann in Ruhe darü ber reden. Bitte! »

       Ich bin nicht sicher, ob sich Mathildes Flehen an mich oder ihren Vater richtet. Arnaud funkelt sie wü tend an. Seine Kiefer mahlen.

       «Bitte! », wiederholt sie. Dieses Mal besteht kein Zweifel, an wen sie ihre Worte richtet.

       Arnaud macht eine wegwerfende Handbewegung, die fließ end in den Griff nach der Weinflasche mü ndet. «Lass ihn machen, was er will. Ich mache mir an dem nicht die Hä nde schmutzig. Ob er bleibt oder geht, macht fü r mich keinen Unterschied. »

       Er kippt Wein in sein Glas. Mathilde packt meinen Arm und drä ngt mich in den Hof. Ehe sie die Tü r hinter uns schließ t, sehe ich Gretchens Blick. Ihre Miene ist verkniffen und angespannt.

       Drauß en hat der Regen nachgelassen, und es nieselt nur noch. Es ist kü hl und feucht genug, dass ich schaudere. Mathilde fü hrt mich ü ber das nasse Kopfsteinpflaster, bis wir auß er Hö rweite der Kü che sind.

       «Es tut mir leid», sage ich.

       Sie schü ttelt den Kopf. Ihre Haare werden von dem Nieselregen mit feinen Tropfen besetzt. «Du musst nicht fortgehen. »

       «Doch, das muss ich. »

       «Mein Vater ist nur wü tend. Er meint nicht, was er gesagt hat. »

       Ich wü rde sie gerne bitten, mir das zu erklä ren. Aber im Grunde ist es egal. «Es ist nicht seinetwegen. Ich bin ohnehin schon viel zu lange hiergeblieben. »

       Sie schaut zurü ck zum Haus. Selbst jetzt kann ich nicht genau sagen, was sie denkt. «Und du wirst deine Meinung nicht ä ndern? »

       «Das kann ich nicht. Tut mir leid. »

       Sie akzeptiert es mit einem Seufzen. «Wohin wirst du gehen? Nach England? »

       Ich nicke nur. Jetzt erst erkenne ich, was das tatsä chlich bedeutet. Mathilde schiebt sich das regennasse Haar hinters Ohr.

       «Wirst du zurü ckkommen? Hierher, meine ich? »

       «Das weiß ich nicht», sage ich ü berrascht. Ich wü nschte, ich kö nnte es ihr sagen. Aber die Entscheidung habe nicht ich zu treffen.

       «Du solltest wenigstens bis morgen frü h bleiben. »

       «Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. »

       «Mein Vater wird sich wieder beruhigen, und zu dieser Tageszeit fahren keine Autos. »

       Das ist ein Argument. Wenn ich jetzt verschwinde, bin ich entweder die ganze Nacht unterwegs oder stehe morgen frü h immer noch wartend am Tor. «Ich will euch aber keine Schwierigkeiten mehr machen. »

       «Das tust du nicht. Du bleibst also heute Nacht? Weil … ich mü sste vorher noch mit dir reden. »

       «Worü ber? »

       «Nicht jetzt. » Sie steht jetzt dicht vor mir. Ihre grauen Augen wirken riesig. «Kann ich spä ter zu dir auf den Dachboden kommen? Nach Mitternacht? »

       «Ich … okay. Klar. »

       Ihre Hand ruht leicht auf meiner Brust. «Danke. »

       Ich starre hinter ihr her, als sie zurü ck zu dem eingerü steten Haus geht und darin verschwindet. Dann stehe ich allein in der Stille nach dem Regen. Inzwischen hat es sich merklich abgekü hlt, und ein leichter Wind lä sst die alte Wetterfahne quietschen, die auf dem Dachfirst des Stalls thront. Das ferne Rauschen der Bä ume dringt zu mir, und die Wolken jagen ü ber einen noch nicht vollstä ndig schwarzen Himmel und verhü llen immer wieder den aufsteigenden Mond. Meine Gedanken sind in Aufruhr, als ich den Hof ü berquere und zur Scheune gehe. Alles schien plö tzlich so klar zu sein. Jetzt weiß ich nicht mehr, was ich denken soll.

       Oder was Mathilde von mir wollen kö nnte.

       Plö tzlich ü berkommen mich Zweifel, und ich spü re, wie meine Beine fast nachgeben. Himmel, was tue ich hier ü berhaupt? Ich lehne mich gegen die Scheunenwand und sauge gierig die Luft ein. Erst jetzt merke ich, dass ich die Kü che ohne meinen Gehstock verlassen habe. Kurz gerate ich in Panik, aber der Moment ist schnell vorbei. Ich werde deshalb nicht zurü ckgehen, und sobald ich das akzeptiere, beruhige ich mich schnell wieder. Ich atme ein letztes Mal tief durch, straffe mich und steige auf den Dachboden, um meine Sachen zu packen. Die Zweifel sind noch immer da, aber wenigstens weiß ich jetzt, was ich zu tun habe.

       Es ist an der Zeit, mich meinen Taten zu stellen.




  

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