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LONDON.  KAPITEL 17



LONDON

       Ich gehe nur deshalb mit zu dem Date, um Callum einen Gefallen zu tun.

       «Komm schon, wieso denn nicht? Ich versuche seit Ewigkeiten, mit Ilse was trinken zu gehen, aber sie will unbedingt eine Freundin mitbringen. Du wirst sie mö gen. Nikki ist toll. »

       «Du bist ihr also schon begegnet? » Wir stehen an der Bar von Callums Stammkneipe, einem ü berfü llten Pub mit groß en Flachbildschirmen, auf denen verschiedene Sportsender laufen. Das ist seine Vorstellung von «in Ruhe was trinken gehen».

       «Nein, eigentlich nicht. Aber Ilse sagt, sie ist toll», gibt er zu. «Und sie ist Australierin. Los, Sean. Das ist wie beim Pferdesport. Wenn du nach dem Sturz nicht schnell genug wieder in den Sattel steigst, vergisst du, wie’s geht. Und wenn du es schließ lich doch irgendwann noch mal wagst, fä llst du runter. Und das wollen wir doch nicht, oder? »

       «Worü ber redest du da, zum Teufel? », frage ich und muss lachen.

       «Ich rede darü ber, dass du wieder unter Leute gehen und Spaß haben sollst. Was hast du zu verlieren? Gott bewahre, vielleicht hast du ja sogar einen schö nen Abend! »

       «Ich weiß nicht …»

       Er grinst. «Dann ist es ausgemacht. Ich spreche mit ihr. »

       Wir treffen uns in einer Bar nahe Leicester Square. Der Plan sieht so aus: Erst trinken wir was, dann schauen wir uns den neuen Tarantino an. Das ist Callums Art, Kompromisse zu schließ en. Leider haben mich Tarantinos letzte Filme nicht umgehauen, und ich bin auch nicht sicher, ob Blut und Gewalt das Richtige fü r ein erstes Date sind. Wä hrend wir in der Bar warten, bin ich nervö s und bereue schon jetzt, dass Callum mich breitschlagen konnte. Als die zwei Mä dchen eintreffen, bin ich erst recht ü berzeugt, einen Fehler gemacht zu haben. Nikki arbeitet als Texterin in einer Werbeagentur, und schon bald wird offensichtlich, dass sie ebenso wenig hier sein mö chte wie ich. Merkwü rdigerweise macht das die Angelegenheit einfacher, und sobald wir uns darauf geeinigt haben, dass keiner vom anderen irgendwas erwartet, kö nnen wir uns entspannen.

       Aus einem Drink werden zwei und schließ lich drei, weshalb wir uns beeilen mü ssen, um rechtzeitig in die Vorstellung zu kommen. Callum hat bereits die Eintrittskarten gekauft, und als wir durch das Foyer gehen, ziehe ich mein Telefon aus der Tasche, um es auszuschalten. Kaum habe ich es in der Hand, klingelt es.

       Die Nummer von Chloe wird angezeigt.

       Ich starre auf das Display. Ich habe seit jenem Abend, als Jules sie ins Zed mitbrachte, nichts von ihr gesehen oder gehö rt. Ich habe keine Ahnung, warum sie ausgerechnet jetzt anruft.

       «Wir mü ssen rein, Sean», sagt Callum und blickt mich fragend an.

       Mein Daumen schwebt ü ber den Tasten antworten und abweisen. Ehe ich eine von beiden drü cken kann, hö rt das Klingeln auf. Einen Moment lang leuchtet Chloes Name noch, dann verschwindet er.

       Ich spü re einen schuldbewussten Stich, als ich das Telefon ausschalte und wieder einstecke. Aber die anderen warten auf mich, und Chloe hat ihre Entscheidung getroffen. Wenn es was Wichtiges ist, wird sie mir schon eine Nachricht hinterlassen oder noch mal anrufen.

       Sie tut nichts von beidem.


[zur Inhaltsü bersicht]


 KAPITEL 17

       Meine Fä den werden am spä ten Vormittag gezogen. Die verschorften Wunden von den Zä hnen der Falle haben sich verhä rtet und sind verheilt, seit ich den Verband nicht mehr trage, und die Fä den haben inzwischen keine andere Funktion mehr, als mich zu stö ren. Sie hä tten vermutlich schon eher rausgekonnt, doch Mathilde hat davon nicht angefangen, und ich habe sie nicht gedrä ngt. Aus irgendeinem Grund widerstrebt es mir, die unansehnlichen schwarzen Schnurrhaare ziehen zu lassen.

       Aber als ich an jenem Tag aufwache, jucken sie mehr als sonst. Ich ertappe mich immer wieder dabei, wie ich heftig daran kratze und sogar an einem losen Fä dchen zupfe. Sie mü ssen raus. Das kann ich wohl nicht lä nger vor mir herschieben.

       Ich bitte Mathilde darum, als ich mein Frü hstü ck im Haus hole. Sie schiebt eine Strä hne hinters Ohr und nickt.

       «Ich kann das nachher gerne machen, wenn du willst. »

       Ich bedanke mich und kehre in die Scheune zurü ck. Doch nach dem Frü hstü ck verschiebe ich unsere Verabredung zum Fä denziehen, mische eine Wanne mit Mö rtel und steige aufs Gerü st. Inzwischen zä hle ich die Tage nicht mehr, aber ich bin ziemlich sicher, dass heute Sonntag ist. Nicht einmal Arnaud erwartet von mir, sieben Tage die Woche zu arbeiten, aber ich habe es mir trotzdem angewö hnt. Es hindert die Zeit daran, zu schwer auf mir zu lasten. Was sie in letzter Zeit immer hä ufiger tut.

       Ich bin unruhig und verstimmt, als ich anfange, den Mö rtel in die Lü cken zu klatschen. Es ist nicht nur der Gedanke daran, die Fä den gezogen zu bekommen. Ich habe zuletzt besser geschlafen als irgendwann in den letzten Jahren. Die kö rperliche Anstrengung, gutes Essen und die Sonne haben meine Schlaflosigkeit effektiv bekä mpft. Zumindest bis vor kurzem. Seit Gretchens nä chtlichem Besuch habe ich mir angewö hnt, die Kommode ü ber die Falltü r zu schieben, aber ich kann wohl kaum Gretchen fü r meinen unruhigen Schlaf verantwortlich machen.

       Die Trä ume, in denen ich mir die blutigen Hä nde in dem Bach im Wä ldchen wasche, haben wieder angefangen.

       Ich schiebe den nä chsten Stein zurü ck an seinen Platz, kratze den ü berschü ssigen Mö rtel ab und glä tte ihn, bis der Stein sich in nichts von seinen Nachbarn unterscheidet. Der obere Teil des Hauses ist fast fertig. Nur noch ein paar Tage, bis ich die Bretter auf dem Gerü st eine Ebene tiefer verlegen und wieder von vorne anfangen muss. An dem groß en Bauernhaus bleibt noch viel zu tun – jede Menge Steine mü ssen herausgeschlagen und wieder eingesetzt werden. Genug Arbeit, um mich auf Monate zu beschä ftigen.

       Wenn ich das will.

       Ich wische mir einen Schweiß tropfen von der Stirn und schaue auf die Uhr. Aber sie ist natü rlich in meinem Rucksack, wo ich sie gelassen habe, seit ich mit der Arbeit am Haus angefangen habe. Ich habe sie bisher nicht vermisst, aber jetzt beschleicht mich das unangenehme Gefü hl, fü r irgendwas zu spä t zu sein.

       Mir ist ohnehin der Mö rtel ausgegangen, und der Zeitpunkt ist so gut wie jeder andere geeignet, um eine Pause zu machen. Ich trage den leeren Eimer die Leiter runter, lasse ihn am Fuß des Gerü sts stehen und gehe zur Kü chentü r. Sie steht offen, aber als ich anklopfe, taucht Gretchen auf.

       «Ist Mathilde in der Nä he? », frage ich.

       Ihr Lä cheln verschwindet. «Warum? »

       «Sie hat gesagt, sie zieht mir die Fä den. Aber wenn sie nicht hier ist, macht es auch nichts. »

       Irgendwie bin ich erleichtert ü ber diesen Aufschub, doch Gretchen tritt beiseite, damit ich reinkommen kann. Das dü nne Baumwollkleid umschmeichelt ihre gebrä unten Beine. «Sie ist oben bei Michel. »

       Ich zö gere, ehe ich die Kü che betrete. Der geflieste Boden, der abgenutzte Tisch und die Stü hle sind mir inzwischen vertraut. Doch ohne Mathilde wirkt der Raum irgendwie nicht richtig. Ein geschlachtetes Huhn liegt neben dem Spü lbecken, bereits nackt und gerupft.

       «Ich komme spä ter wieder», sage ich und wende mich zum Gehen.

       «Nein, Sie kö nnen hier warten. »

       Es klingt eher wie eine Anweisung und nicht wie ein Vorschlag. Ich schaue durch die offene Tü r auf den sonnigen Innenhof. Gretchen tritt an die Spü le und packt das Hü hnchen an den gelben Fü ß en. Der Kopf kippt leblos beiseite, als sie es auf ein Schneidebrett wirft. Eines der Augen wirkt milchig und blind, bemerke ich und versuche, nicht das Gesicht zu verziehen, als sie ein groß es Hackbeil aus der Schublade zieht und damit den langen Hals durchtrennt.

       «Warum setzen Sie sich nicht? »

       «Ich kann auch stehen, schon okay. »

       Sie schiebt den abgetrennten Kopf in die Spü le und dreht das Hü hnchen um. Rasch schneidet sie beide Fü ß e ab. «Mir kommt es so vor, als wü rde ich Sie kaum mehr zu Gesicht bekommen. »

       «Ich habe mit euch allen gestern zu Abend gegessen. » Inzwischen ist es zur Gewohnheit geworden, dass wir jeden Abend gemeinsam essen. Es steht mir frei, die anderen Mahlzeiten allein einzunehmen, aber inzwischen vermisse ich es, abends allein vor der Scheune zu sitzen und zu essen. Arnaud dabei zuzusehen, wie er sich den sä uerlichen Wein hinter die Binde kippt, wie sein Unmut wä chst, je mehr Glä ser er leert – das alles ist schon bald anstrengend fü r mich.

       Gretchen blickt mich ü ber die Schulter an. «Das meine ich nicht. Sie gehen mir doch nicht aus dem Weg, oder? »

       «Nein, natü rlich nicht. »

       «Gut. Ich habe schon ü berlegt, ob ich irgendwas getan habe, um Sie gegen mich aufzubringen. »

       Darauf habe ich keine Antwort. Die winzigen Wunden, die ich den Gabelzinken verdanke, jucken. Gerade noch kann ich mich davon abhalten zu kratzen. Die niedrige Decke der Kü che und die schweren Mö bel drohen mich zu erdrü cken.

       «Wir kö nnten heute auch zusammen zu Mittag essen», schlä gt Gretchen vor und zieht etwas Rotes aus dem Schlund des Huhns. «Sie kö nnten mir wieder Englischunterricht geben. »

       Ich schaue zu der Tü r, hinter der die Treppe ist. Von Mathilde keine Spur. «Ich dachte, du hast keine Lust darauf. »

       «Die kriege ich schon, versprochen. »

       «Hm, also ich …»

       Erleichtert schaue ich mich um, als die Tü r zum Flur aufgeht und Mathilde mit Michel in die Kü che kommt. Als sie uns sieht, scheint sie kurz zu zö gern, ehe sie den Raum betritt.

       «Ich habe dich gar nicht reinkommen gehö rt», sagt sie und geht zu dem Hochstuhl.

       «Er hat gewartet, damit du ihm die Fä den ziehst», erzä hlt Gretchen ihr und hä lt das Huhn unter den Wasserhahn. Das Blut vom abgetrennten Hals rinnt ins Spü lbecken.

       «Ich kann spä ter wiederkommen», sage ich.

       «Das ist schon in Ordnung. » Das Baby windet sich auf ihrem Arm und jammert, als sie versucht, es in den Hochstuhl zu setzen. Sein Gesicht ist rot und verheult. Mathilde wendet sich an ihre Schwester. «Kannst du Michel nehmen, Gretchen? »

       «Nein. Ich bin beschä ftigt. »

       «Bitte. Er will sich nicht in den Stuhl setzen lassen, wenn er zahnt. Ich brauche nicht lange», fü gt Mathilde hinzu und versucht, den Kleinen zu beruhigen.

       »Er ist dein Sohn, und ich sehe nicht ein, warum ich ihn stä ndig mit mir herumschleppen soll», grollt Gretchen. Sie trocknet ihre Hä nde ab und nimmt ihren Neffen auf den Arm.

       «Ich ziehe die Fä den im Badezimmer», sagt Mathilde. Sie wendet sich ab, weshalb ihr der wü tende Blick entgeht, den Gretchen ihr hinterherwirft.

       Ich umrunde den Tisch, weil ich Gretchen nicht zu nahe kommen will, wenn sie so dicht neben einem Hackbeil steht. Ich schließ e die Tü r hinter uns und folge Mathilde nach oben, wo ich mich auf den Badewannenrand setze, wä hrend sie die benö tigten Utensilien aus dem Badezimmerschrank holt: eine Pinzette, ein Tellerchen, ein Handtuch. Ich ziehe den Socken aus und prä sentiere ihr meinen Fuß in all seiner bleichen Glorie. Die Wunden sind teilweise immer noch verschorft, aber darunter ist auch schon die rosige, neue Haut zu sehen, aus der die Fä den wie Schnurrhaare ragen.

       Mathilde kniet vor mir und wischt mit einem in heiß em Wasser geträ nkten Waschlappen ü ber den Fuß, um ihn zu sä ubern und die Wunden aufzuweichen. Dann breitet sie das Handtuch auf ihrem Schoß aus und zieht meinen Fuß darauf. Es fü hlt sich unangenehm intim an.

       «Das sollte nicht allzu sehr weh tun. »

       Ein Zupfen, mehr nicht. Sie zieht mit der Pinzette an einem Ende eines Fadens. Sobald er gezogen ist, lä sst sie ihn auf den Teller fallen und macht mit dem nä chsten weiter. Ihre Hä nde sind sanft und kü hl. Ich beobachte sie aufmerksam bei der Arbeit und erinnere mich wieder an ihr impliziertes Angebot. Konzentriert runzelt sie die Stirn, als ein Faden sich gegen ihre Bemü hungen wehrt.

       «Wie geht es Lulu? », frage ich.

       «Keine Verä nderung. Der Tierarzt sagt, der Stumpf ist entzü ndet. »

       Ich versuche, Worte zu finden, die nicht nach Platitude klingen, doch es gelingt mir nicht. Mehr als zuvor glaube ich, dass Jean-Claude recht hatte: Mit ihrer Sentimentalitä t hat Mathilde niemandem einen Gefallen getan. Am wenigsten dem Hund.

       «Bist du kü rzlich Jean-Claude ü ber den Weg gelaufen? », fragt sie, als kö nnte sie meine Gedanken lesen.

       «Jean-Claude …? »

       «Als du in der Stadt warst. »

       «Ach so … Ja, er war beim Baustoffhandel. » Ich fü hle mich ertappt. «Woher wusstest du das? »

       «Du bist ziemlich lange fort gewesen. Ich dachte, dass du vielleicht mit ihm geredet hast. »

       Mehr sagt sie nicht. Ich bin nicht sicher, ob das irgendwo hinfü hrt. Aber sie hä tte das Thema wohl kaum zur Sprache gebracht, wenn sie nicht gerne darü ber reden wü rde. «Er hat mir erzä hlt, Louis wird vermisst», sage ich.

       Es ist unmö glich, Mathildes Miene zu durchschauen. Als ich sie vorher nach Michels Vater fragte, hat sie lediglich erklä rt, sie wü sste nicht, wo er sei. Aber ich habe auch kein Recht, ihr irgendwelche Fragen in der Richtung zu stellen.

       Sie schiebt sich eine Haarsträ hne hinters Ohr. «Ja. »

       «Hast du eine Ahnung, was mit ihm passiert ist? »

       Ihr Atem streift meinen Fuß. «Louis sagte, er mü sse geschä ftlich nach Lyon. Er hat etwas Geld von meinem Vater geliehen und ist verschwunden. Das ist jetzt achtzehn Monate her. Seitdem habe ich nichts von ihm gehö rt oder gesehen. »

       Erneut habe ich das Gefü hl, sie erwarte von mir, etwas Bestimmtes zu sagen. «Kö nnte er nicht einfach das Geld genommen haben und damit verschwunden sein? »

       «Das glaube ich nicht. Nicht mehr jedenfalls. Wenn er noch leben wü rde, hä tte er sich inzwischen bei einem von uns gemeldet. Vielleicht nicht unbedingt bei mir, aber zumindest bei Jean-Claude. »

       Das ist ungefä hr das, was sein Bruder mir bereits erzä hlt hat, aber es aus ihrem Mund zu hö ren, hat fü r mich irgendwie mehr Gewicht. «Jean-Claude glaubt …»

       «Ich weiß, was Jean-Claude glaubt. » Mathilde hebt den Kopf und sieht mich an. Ihre grauen Augen sind ruhig und traurig. «Mein Vater hat Louis nicht umgebracht. Wenn ü berhaupt jemand die Schuld trä gt, dann ich. Er war nicht sehr glü cklich, als er von meiner Schwangerschaft erfuhr, und als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, haben wir uns gestritten. Ohne den Streit wä re vielleicht manches anders verlaufen. »

       «Du darfst dir deshalb keine Vorwü rfe machen. Vielleicht, wenn dein Vater mit Jean-Claude redet …»

       «Nein. » Sie schü ttelt den Kopf. «Mein Vater ist ein stolzer Mann. Er wird seine Meinung nicht ä ndern. »

       «Kö nntest du nicht selbst mit Jean-Claude reden? »

       «Das wü rde nichts bringen. Er glaubt, wir wä ren fü r Louis’ Verschwinden verantwortlich. Es ist egal, was ich sage. » Mathilde widmet ihre Aufmerksamkeit wieder den Fä den. Das Gesprä ch ist fü r sie beendet. Sie lä sst den nä chsten Faden auf das Tellerchen fallen und richtet meinen Fuß neu aus. Ich kann durch das Handtuch die Wä rme ihres Kö rpers spü ren. «Nur noch einer. »

       Bei dem letzten Faden verspü re ich ein leichtes Stechen. Sie legt die Pinzette auf das Tellerchen und tupft ein Antiseptikum auf die Lö cher. Ohne die Fä den sieht der Fuß irgendwie unfertig aus. Wie ein aufgeschnü rter Schuh.

       «Wie fü hlt sich das an? », fragt sie.

       «Nicht schlecht. »

       Mein Fuß ruht immer noch auf ihrem Schoß. Ihre Hä nde ruhen auf ihm, und ich bin mir plö tzlich sehr deutlich der Berü hrung bewusst. Ihre Finger fü hlen sich auf meiner nackten Haut an wie elektrische Ladung. Anhand der Rö te, die ihren Hals ü berzieht, vermute ich, dass sie sich dessen auch bewusst ist.

       «Mathilde, Michel hö rt einfach nicht auf zu schreien! »

       Gretchens Ruf kommt von unten. Sie klingt gereizt und fordernd. Mathilde stellt meinen Fuß auf den Boden und steht rasch auf. Der Moment ist verflogen.

       «Ich komme! », ruft sie. Die Mü digkeit steht ihr wieder ins Gesicht geschrieben, als sie die Pinzette und das Tellerchen nimmt. «Der Fuß wird noch ein, zwei Tage empfindlich sein, wo vorher die Nä hte waren. Du solltest weiter vorsichtig sein. »

       «Das werde ich. Danke», sage ich. Aber sie ist schon gegangen.

       Als ich aufstehe, bemerke ich in dem fleckigen Badezimmerspiegel ü ber dem Waschbecken mein Spiegelbild. Mein Gesicht ist schmaler, als ich es in Erinnerung habe. Es ist sonnenverbrannt und pellt sich, und weiß e Linien gehen strahlenfö rmig von den Augenwinkeln ab, weil ich die Augen im Licht immer zusammenkneife. Der Bart macht die Verwandlung perfekt: Ich sehe nicht mehr aus wie ich.

       Ich starre einen Fremden an. Dann reiß e ich mich los und gehe nach unten.

           

       Es fü hlt sich komisch an, wieder einen Schuh an meinem verletzten Fuß zu tragen. Die Blutflecke auf dem Leder haben mehreren Versuchen widerstanden, sie wegzuschrubben, und zwei Bö gen aus Lö chern sind auf beiden Seiten. Ich werde also doch ein neues Paar Schuhe brauchen. Im Moment genü gt es mir aber, nach unten zu sehen und zwei Fü ß e zu haben, die mehr oder weniger symmetrisch aussehen.

       Allerdings verfliegt das Gefü hl des Neuen rasch wieder. Ich beginne schon bald zu vergessen, wie es sich angefü hlt hat, als mein Fuß verbunden in dem Gummischuh steckte. Ich habe das merkwü rdige Gefü hl, langsam kehre alles wieder zu dem Ausgangspunkt zurü ck, bevor ich damals in das Fangeisen geriet. Als versuche mein Lebensfaden, wieder dort anzuknü pfen, wo ich ihn fallen gelassen habe.

       Mein Gehstock ist vermutlich inzwischen eher eine psychologische Krü cke und nicht so sehr eine kö rperliche, aber darü ber denke ich lieber nicht nach. Sobald mein Fuß sich vollstä ndig erholt hat, gibt es fü r mich keinen plausiblen Grund, lä nger zu bleiben. Und dafü r bin ich nicht bereit.

       Noch nicht.

       Ich gehe wieder hinauf zu meinem gewohnten Aussichtspunkt auf dem Felsvorsprung und setze mich an die Kastanie. Der See liegt ruhig da, zu dieser Tageszeit wird die Wasseroberflä che nicht mal von Enten durchpflü gt. Aber auch hier ist die Verä nderung schon spü rbar. Das Jahr ist vorangeschritten, ohne dass ich es bemerkt habe. Die Blä tter an den umstehenden Bä umen haben einen dunkleren Grü nton angenommen, und obwohl es immer noch heiß ist, scheint das Sonnenlicht irgendwie schä rfer zu sein. Ich reibe mein Handgelenk, an dem ich sonst die Armbanduhr trage, und beobachte eine dunkle Wolke, die sich am Horizont auftü rmt. Es ist das erste Mal, seit ich hier bin, dass der Himmel etwas anderes zeigt als strahlendes Blau.

       Bisher hatte ich mir nicht vorstellen kö nnen, wie es im Winter hier sein wü rde. Jetzt schon.

       Die Wolkenbank ist nä her gekrochen, als ich mich wieder auf den Rü ckweg mache, und die Sonne wird von einem Dunstschleier verdeckt. In der Luft liegt sogar der Geruch von Regen. Ich gehe durch den Wald zurü ck, an den Statuen vorbei, die seltsam unverä ndert sind. Pan tollt immer noch vö llig unbeeindruckt herum, und die verschleierte Frau steht starr und reumü tig da. Unter dem sich verdunkelnden Himmel leuchtet der blutä hnliche Fleck auf ihrem verwitterten Sandstein stä rker als sonst.

       «Hallo. »

       Ich zucke zusammen. Gretchen steht auf der kleinen Lichtung, auf der Arnaud und ich die Silberbirke gefä llt haben. Dieses Mal ist weder Michel noch Lulu bei ihr. Sie ist allein und flicht eine Gä nseblü mchenkette. Auf ihrem Gesicht liegt ein selbstzufriedener Ausdruck, der bei mir das unangenehme Gefü hl weckt, in einen Hinterhalt gelockt worden zu sein.

       «Ich habe dich gar nicht gesehen», sage ich. «Was machst du hier unten? »

       «Ich habe auf Sie gewartet. » Sie steht auf und verbindet die Blumenkette zu einem Kreis. «Sie haben mir fü r heute Nachmittag eine Englischlektion versprochen. Haben Sie das schon vergessen? »

       Ich erinnere mich, wie sie in der Kü che etwas erwä hnt hat. Aber ich bin mir ziemlich sicher, ihr nichts versprochen zu haben. «Tut mir leid, das mü ssen wir auf ein anderes Mal verschieben. Ich muss wieder an die Arbeit. »

       «Sie mü ssen ja nicht sofort weitermachen, oder? »

       Sie kommt auf mich zu. Noch immer hat sie dieses beunruhigende Lä cheln im Gesicht. Einen Moment lang glaube ich, sie wird mir die Gä nseblü mchenkette um den Hals legen, und mache automatisch einen Schritt nach hinten. Sie geht stattdessen an mir vorbei, allerdings so dicht, dass ihr dü nnes Kleid mich streift, und drapiert die Kette um den Hals einer Steinnymphe. «So», sagt sie. «Was denken Sie? »

       «Sehr hü bsch. Ich muss jetzt zurü ck. »

       Aber das ist leichter gesagt als getan. Gretchen steht direkt vor mir, und als ich an ihr vorbeiwill, macht sie einen Schritt beiseite und verstellt mir den Weg. Sie grinst. «Wohin gehen Sie? »

       «Das sagte ich schon. Zurü ck an die Arbeit. »

       «Ä h, nein. » Sie schü ttelt den Kopf. «Sie schulden mir eine Englischlektion. »

       «Vielleicht morgen. »

       «Und wenn ich nicht warten will? »

       Ihr Grinsen ist bö sartig und irgendwie bedrohlich. Oder vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Ich muss dem Drang widerstehen, erneut vor ihr zurü ckzuweichen. «Dein Vater wird sich schon fragen, wo ich bin», sage ich. Aber dieses Mal bringt es nichts, ihr mit Arnaud zu drohen.

       «Papa schlä ft. Er wird nicht mitbekommen, wenn Sie spä ter zurü ckkommen. »

       «Mathilde schon. »

       Ihre Schwester zu erwä hnen, ist ein Fehler. «Warum sind Sie nur immer so besorgt, was Mathilde denkt? »

       «Bin ich gar nicht», sage ich hastig. «Schau, ich muss jetzt zurü ck. »

       Sie funkelt mich einen Moment lang missmutig an und zieht dann einen Schmollmund. «Na gut, aber nur unter einer Bedingung. Holen Sie mir die Kette. »

       Sie zeigt auf die Blumenkette, die um den Hals der Statue baumelt. «Warum? »

       «Das werden Sie schon sehen. »

       Mit einem Seufzen wende ich mich der Nymphe zu und strecke die Hand nach den Blumen aus. Hinter mir raschelt es, und als ich mich umdrehe, sehe ich Gretchens Kleid zu Boden gleiten.

       Darunter ist sie nackt.

       «Nun? », fragt sie und lä chelt. Die Luft im Wald ist stickig. Sie kommt auf mich zu. «Mathilde sieht wohl nicht so aus, oder? »

       «Gretchen …», setze ich an. Und dann hö re ich den Motor.

       Ich schaue an ihr vorbei, als Georges’ alte Ente schnaufend auf dem Feldweg in Sicht kommt. Fü r einen Moment bin ich zu starr, um mich zu bewegen, aber dafü r ist es ohnehin zu spä t. Ich sehe den alten Mann, der wie ein zerfurchter Schuljunge hinter dem Lenkrad sitzt, und wir entgehen seinem Blick genauso wenig. Aber wenn es ihn ü berrascht, Gretchen nackt mitten auf dem Feldweg stehen zu sehen, zeigt er das durch nichts. Der Citroë n holpert nä her, und sein Gesicht ist genauso ausdruckslos wie beim Abschlachten der Sau. Dann biegt er an der Gabelung auf den anderen Feldweg, der zu den Pferchen mit den Sanglochons fü hrt, und verschwindet zwischen den Bä umen.

       Das Motorengerä usch verklingt. Gretchen starrt hinterher, ehe sie sich mit weit aufgerissenen Augen an mich wendet. «Glauben Sie, er hat mich gesehen? »

       «Wenn er nicht blind ist, schon. Zieh dich an. »

       Kleinlaut gehorcht sie. Ich warte nicht auf sie, sondern lasse sie im Wald zurü ck und gehe eilig zum Hof. Den Gehstock ramme ich in die staubige Fahrrinne des Feldwegs. Erst jetzt erkenne ich das ganze Ausmaß dessen, was gerade passiert ist. Himmel, wer weiß, was Arnaud mit mir machen wird, wenn er das herausfindet. Er wird mir bestimmt nicht glauben, dass ich Gretchen nicht ermutigt habe oder dass nichts passiert ist. Doch wä hrend ich durch den Weingarten marschiere, fü rchte ich nicht so sehr seine Reaktion.

       Sondern die von Mathilde.

       Ich gehe auf der Stelle zum Haus. Es ist besser, wenn sie es von mir hö rt und nicht von Georges oder Arnaud. Oder Gretchen, Gott behü te. Aber als ich die Scheune erreiche, habe ich mich schon entschlossen, nichts zu sagen. Wenn ich Mathilde davon erzä hle, sieht es doch so aus, als versuchte ich, Gretchen Schwierigkeiten zu machen. Auß erdem ist Georges mir ein Rä tsel; ich habe keine Ahnung, was er tun wird. Vielleicht ist er an allem, das nicht seine Schweine betrifft, so wenig interessiert, dass er gar nichts sagt.

       Also mische ich stattdessen die nä chste Wanne Mö rtel, rü hre wü tend den Sand unter den Zement und gebe einen Eimer Wasser hinzu. In meinem Nacken breitet sich Verspannung aus, ich kriege Kopfschmerzen. Trotzdem steige ich auf das Gerü st. Ich bin ohne Begeisterung bei der Arbeit, und der Eimer kommt mir sogar schwerer vor als sonst. Aber ich weiß nicht, was ich sonst tun soll, und ich kann genauso gut die Wand fertig machen, wä hrend ich auf die Konsequenzen warte.

       Stattdessen passiert etwas anderes. Wä hrend ich mechanisch den Mö rtel in den Lü cken zwischen den Steinen glatt streiche, spü re ich, wie etwas feucht auf meine Wange klatscht. Ich blicke nach oben und sehe, dass der Himmel inzwischen von einem schlammigen Grau ist. Und dann rauscht der Regen nieder und trommelt auf das Gerü st, dass es klingt wie niederregnende Pennys.

       Endlich ist der Wetterumschwung da.




  

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