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LONDON.  KAPITEL 16



LONDON

       Jules kommt in der darauffolgenden Woche wieder in die Bar. Es ist noch frü h, deshalb ist nicht viel los. Sergeis Freund Kai hat mir einen Kaffee gebracht und plaudert mit Dee ü ber die beste Zubereitung von Reistimbalen. Ich hö re nur mit einem Ohr zu und behalte den Eingang im Auge. Ich will gerade einen Schluck Kaffee trinken, als die Tü r aufgeht und Lenny hereinkommt.

       Ich stelle die Kaffeetasse hin. Er ist allein, aber wenn er hier auftaucht, besteht eine gute Chance, dass Jules auch auf dem Weg hierher ist. Er schaut betont desinteressiert zu mir her und lä sst mich zugleich spü ren, dass er weiß, wer ich bin. Er geht zu Dee. «Eine Flasche Stella Artois», sagt. Als er sein Wechselgeld entgegennimmt, sehe ich die goldene Uhr an seinem Handgelenk aufblitzen. Eine Rolex oder eine Kopie, dick und mit Edelsteinen besetzt. Er bemerkt meinen Blick.

       «Was? »

       «Ich bewundere nur Ihre Uhr. »

       Wieder erinnere ich mich daran, wie er uns nach der Zeit gefragt hat, als Chloe und ich ihm auf der dunklen Straß e begegneten. Ich erwarte nicht, dass er sich nach so langer Zeit noch daran erinnert oder eine Verbindung herstellt. Aber da habe ich ihn unterschä tzt. Das stoppelbä rtige Gesicht mustert mich.

       «Das ist mir so was von scheiß egal», sagt er. «Und wenn Sie nur einen Funken Verstand haben, ist es Ihnen auch scheiß egal. » Mit einem letzten Blick in meine Richtung, als wollte er sich ü berzeugen, dass seine Nachricht angekommen ist, nimmt er seine Bierflasche und geht zu einem Tisch.

       «Was sollte das denn gerade? », fragt Dee und kommt zu mir.

       «Nur ein Insiderwitz. »

       Allerdings nicht besonders lustig. Man sollte lieber keine Mü hen scheuen, um Leuten wie Lenny aus dem Weg zu gehen. Ich weiß nicht mal, warum ich ihm dummgekommen bin.

       Danach warte ich einfach, es ist nur eine Frage der Zeit. Der Kaffee verä tzt derweil meinen Magen. Eigentlich bin ich darauf vorbereitet, aber mein Herzschlag setzt kurz aus, als Jules durch die Tü r kommt. Als ich das Mä dchen an seiner Seite sehe, empfinde ich zuerst Erleichterung, weil es nicht Chloe ist. Dann treten sie ins Licht, und ich erkenne meinen Fehler. Sie ist es; bloß ist es nicht mehr die Chloe, die ich kannte. Ihre Haare sind frisiert und irgendwie blonder, und sie trä gt ein kurzes rotes Kleid und High Heels. Als ich sie kannte, trug sie kaum Make-up. Jetzt ist sie hinter der Maske kaum wiederzuerkennen.

       Sie geht ein Stü ck hinter Jules, als er zu Lenny geht und ihn begrü ß t. Sie hat mich nicht gesehen, und an ihrem distanzierten Gesichtsausdruck erkenne ich, dass Jules ihr nicht erzä hlt hat, dass ich hier arbeite. Erst als Sergei mit zwei vollen Flaschen Absolut aus der Kü che kommt, merke ich, dass ich sie anstarre.

       «Hier, Sean. Die mü ssen ins Kü hlfach», sagt er und drü ckt sie mir in die Hand. Er mustert mich. «Und um Himmels willen, lä chle! Du guckst, als wolltest du jemanden umbringen. »

       Ich trete zu der Tiefkü hltruhe unterhalb der Bar. Aber ich ö ffne sie nicht, weil Jules und Chloe sich jetzt nä hern. Jules blickt mich direkt an, aber Chloe hat immer noch nicht bemerkt, auf wen er sie zufü hrt. Als sie nä her kommen, legt er den Arm um ihre Schultern. Sie blickt ü berrascht zu ihm auf, und das dankbare Lä cheln, das kurz ihr Gesicht erhellt, bricht mir das Herz.

       Dann sieht sie mich und bleibt stehen. Jules umfasst ihre Schulter mit mehr Nachdruck und schiebt sie nach vorne.

       «Ü berraschung! Sieh nur, wer hier ist», sagt er.

       Ich stelle die Flaschen ab. Chloe starrt auf den Tresen. Sie schluckt, aber kein Laut kommt ü ber ihre Lippen. Sie hat Gewicht verloren. Sie war immer schon schlank, aber jetzt ist sie spindeldü rr. Ein Blick genü gt, und ich weiß Bescheid. Sie ist wieder auf Droge.

       «Willst du nicht wenigstens hallo sagen? », fragt Jules und verstä rkt seinen Griff. «Komm schon, sei ein braves Mä dchen. »

       Gehorsam hebt sie den Kopf. «Hallo, Sean. » Ihre Stimme ist eher ein Flü stern. Ihr Blick geht ins Leere, und ich ü berlege, ob sie wohl inzwischen mehr nimmt als Kokain.

       «Hi, Chloe. »

       Mein Gesicht fü hlt sich an, als wä re es versteinert. Jules beobachtet uns. Ihm entgeht nichts. «Was fü r ein Wiedersehen, hm? Ich sag euch was, ich muss noch ein paar Sachen mit Lenny besprechen. Warum bringt ihr euch nicht auf den neuesten Stand? Ich nehme an, ihr habt euch viel zu erzä hlen. »

       «Jules, nein. Ich …»

       «Oh, und wir mö chten zwei Wodka on the rocks. Bringen Sie meinen rü ber, ja? »

       Er zwinkert mir zu und streichelt besitzergreifend ihre Schulter, ehe er zu Lenny stolziert. Die Stille ist schrecklich. Ü ber die Bar hinweg sehen Chloe und ich uns an.

       «Wie geht es dir? », frage ich.

       «Groß artig. Richtig gut. » Sie nickt, als mü sste sie sich selbst davon ü berzeugen. «Und du? »

       «Weltspitze. » Es fä llt mir schwer, sie anzusehen. Ich wü nschte, an der Bar wä re mehr los, damit ich wenigstens bedienen kö nnte. «Wie geht’s mit der Malerei voran? »

       Das ist eine grausame Frage. Einen winzigen Augenblick lang verspü re ich Befriedigung, weil ich den Schmerz auf ihrem Gesicht sehe. Ich hasse mich dafü r.

       «Ach das, ich … Also, ich helfe Jules jetzt mit seinem Geschä ft. Ihm fehlen im Moment ein paar Leute, darum … Na ja, und er sagt, er will vielleicht ein paar meiner Arbeiten fü r sein Fitnessstudio, wenn das alles … du weiß t schon …»

       Ich weiß nicht, ob ich wirklich verstehe, was sie sagen will. Trotzdem nicke ich. «Das klingt gut. »

       Sie lä chelt noch immer, doch ihre Augen fü llen sich mit Trä nen. «Es ist schon in Ordnung. Mir geht’s gut, wirklich», sagt sie. «Ich wü nschte nur …»

       Ich erstarre, als sie anfä ngt zu weinen. Mein erster Impuls ist, die Hand nach ihr auszustrecken. Doch ich tue nichts.

       «Chloe! Komm her. »

       Die Worte kommen von Jules. Sie wischt sich mit dem Handrü cken die Trä nen aus dem Gesicht. Der Moment ist vorbei, in dem ich etwas hä tte sagen oder tun kö nnen.

       «Es tut mir leid», sagt sie und wendet das Gesicht ab, ehe sie zur Damentoilette hastet.

       Ich bitte Dee, die Drinks an den Tisch zu bringen, und gehe in die Kü che. Als ich wieder rauskomme, fü llt sich die Bar allmä hlich. Eine Zeitlang bin ich angenehm beschä ftigt, und als ich das nä chste Mal zu dem Tisch schaue, an dem Jules und Lenny gesessen haben, wurde er bereits von einer anderen Gruppe eingenommen.


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 KAPITEL 16

       Das Ersetzen der Steine geht mir nur langsam von der Hand. Der Bereich des Hauses, bei dem ich angefangen habe, ist in einem schlechteren Zustand als der Rest, weil er auf der Seeseite liegt und jahrelang der Witterung ausgesetzt war. Ich muss viele Steine vollstä ndig entfernen und den alten Mö rtel abkratzen, ehe ich sie wieder in die Mauer fü gen kann. Sie sind groß und schwer, und der feuchte Mö rtel quillt wie kaffeefarbener Zuckerguss hervor, wenn ich sie zurü ck in die Lü cken schiebe. Manchmal rutschen sie zu tief in die Ö ffnungen und sind nicht mit den angrenzenden Steinen auf einer Linie. Sobald das passiert, hole ich sie wieder raus und fange von vorne an. Ich bezweifle, ob man es von unten sehen wü rde oder ob es jemanden stö ren wü rde, wenn ich es so schief ließ e.

       Mich wü rde es aber stö ren.

       Ich schaufle den Mö rtel an den nä chsten Stein und hieve ihn hoch auf Brusthö he, ehe ich ihn weiter hochund hineinstemme, und dieses Mal, so bete ich, wird er richtig sitzen. Was er dann zum Glü ck tut. Ich kratze den ü berschü ssigen Mö rtel weg und lasse meine schmerzenden Schultern kreisen. Heute frü h habe ich gute Fortschritte gemacht. Unter normalen Umstä nden wü rde mir das genü gen, um zufrieden zu sein. Heute nicht.

       Mein Eimer ist leer. Ich trage ihn die Leiter hinunter und gehe in die feuchte Kammer, wo ich einem Berg leerer Plastiksä cke gegenü berstehe. Ich habe nur noch einen Sack Sand.

       Also muss ich bald wieder in die Stadt.

       Ich fluche und stelle den Eimer ab. Ich wusste seit Tagen, dass dieser Moment kommen wü rde. Das Erneuern der Steine hat viel Mö rtel verbraucht. Ich habe zwar noch massig Zement, aber vom Sand habe ich fast alles aufgebraucht, was im Vorratsraum lagerte. Wenn ich gewusst hä tte, dass er mir ausgeht, hä tte ich noch welchen geholt, als ich den Zement besorgt habe. Aber damals war ich davon ausgegangen, mein Vorgä nger hä tte genug Sand gekauft. Mein Fehler.

       Louis hatte also neben einer Vielzahl von anderen Fehlern keine Ahnung vom Bauhandwerk.

       Ich finde Mathilde im Gemü segarten hinter dem Haus. Sie kniet vor dem kleinen Blumenbeet und rupft Unkraut. Als ich auftauche, blickt sie auf, und wieder habe ich das Gefü hl, sie in einem sehr privaten Moment zu stö ren.

       «Ich muss noch mehr Sand kaufen. »

       Sie fragt diesmal nicht nach. Ihr Gesichtsausdruck wirkt resigniert, als gä be es niemanden mehr, der sie durch Taten oder Worte ü berraschen kö nnte. Sie nickt nur und steht schweigend auf. Ich begleite sie und warte in der Kü che, wä hrend sie ihre Geldbö rse holt. Gretchen sitzt mit Michel am Tisch. Sie wü rdigt mich keines Blicks. Seit der Keiler aus seinem Pferch entkommen ist, hat sie sich ganz in sich zurü ckgezogen. Es ist weniger so, dass sie mich ignoriert – sie scheint mich ü berhaupt nicht mehr zu bemerken.

       Wenn ich ehrlich sein soll, ist das eine Erleichterung.

       «Wird das reichen? », fragt Mathilde und hä ndigt mir ein paar Geldscheine aus. Es ist nicht besonders viel.

       «Ich denke schon. »

       «Die Schlü ssel sind im Wagen. Auch die fü r das Tor. »

       Sie kehrt in ihren Garten zurü ck, und ich gehe zum Renault. Im Innern der Fahrerkabine ist es heiß wie in einem Gewä chshaus, aber ich warte nicht, bis es kü hler wird. Nachdem ich die Prozedur mit dem Aufschließ en und Verriegeln des Tors hinter mich gebracht habe, bleibe ich einen Moment stehen und schaue auf die Straß e. Ein Auto schieß t vorbei, das aus der Stadt kommt und seinem unbekannten Ziel entgegenrast. Wä hrend ich sehe, wie es am Horizont verschwindet, erwacht etwas in der hintersten Ecke meines Verstands. Erst ist es so undeutlich, dass ich es nicht erkenne.

       Rastlosigkeit.

       Meine Unruhe ist gewachsen, seit die Gendarmen auf den Hof kamen. Ich mache mir inzwischen keine Sorgen, sie kö nnten zurü ckkommen. Wenn sie das hä tten tun wollen, wä re es lä ngst passiert. Aber die Rastlosigkeit, die mit ihnen kam, hat mich seither kaum mehr verlassen.

       Ohne groß e Begeisterung steige ich wieder in den Pritschenwagen. Die Fahrt in die Stadt vergeht wie im Flug. Die Tankstelle huscht vorbei, und dann bin ich schon auf dem Marktplatz. Die Boulespieler sind wieder da, obwohl ich nicht weiß, ob es dieselben wie beim letzten Mal sind. Der Springbrunnen versprü ht in der Sonne frö hlich sein Wasser. Schweiß nass umklammern meine Hä nde das Lenkrad, als ich in den Hof des Baustoffhandels einbiege. Der Motor erstirbt zittrig. Ich atme tief durch und steige aus.

       Von Jean-Claude ist nichts zu sehen.

       Ich erlaube mir, mich zu entspannen. Zumindest ein bisschen. Ich will meinen Gehstock aus dem Wagen holen, zö gere aber. Mein Fuß ist inzwischen ordentlich verheilt. Die Fä den kö nnen bald gezogen werden, und ich trage jetzt eine Socke statt des Verbands. Den Gummischuh, den Mathilde fü r mich gebastelt hat, benutze ich nach wie vor, aber nur, weil mein eigener Schuh an den Wunden scheuert. Inzwischen ist der Stock mehr eine Angewohnheit und nicht so sehr eine Notwendigkeit. Ich weiß, schon bald kommt der Moment, in dem ich mich nicht mehr darauf stü tzen muss.

       Aber nicht heute. Ich hole ihn aus dem Wagen, stü tze mich darauf und humple in das hangarartige Gebä ude.

       Von den Mä nnern im Innern erkenne ich niemanden. Ich bestelle und bezahle den Sand und bekomme erklä rt, wo im Hof ich ihn finde. Es gibt groß e Holzverschlä ge, die mit Kies, Split und Sand gefü llt sind. Niemand ist in der Nä he, aber in einem der Sandhaufen steckt eine Schaufel, und daneben liegt ein Stapel leerer Plastiksä cke. Ich beginne, die Sä cke zu fü llen.

       Ich arbeite mit dem Rü cken zum Hof, schiebe mechanisch die Schaufel in den Sandhaufen und ignoriere immer wieder den Impuls, mich umzusehen. Als die Sä cke voll sind, fahre ich den Pritschenwagen heran. Die Decke, auf der Lulu gelegen hat, liegt zusammengeknü llt auf der Ladeflä che, und die Blutflecke sind schwarz eingetrocknet. Ich schiebe sie beiseite und beginne, die Sä cke aufzuladen. Irgendwann lä sst die nervö se Anspannung nach, und ich mache kurz Pause, um mir den Schweiß von der Stirn zu wischen.

       «Brauchen Sie Hilfe? »

       Jean-Claude steht neben dem Wagen. Er trä gt dieselbe Latzhose wie bei unserer letzten Begegnung. Fü r einen Mann seiner Grö ß e bewegt er sich erstaunlich leise.

       «Danke, ich kriege das schon hin. » Ich wende mich ab und lade einen Sack auf. Er packt trotzdem mit an, wuchtet mü helos einen auf die Ladeflä che und wendet sich gleich dem nä chsten zu. Die letzten Sä cke sind in wenigen Sekunden verstaut. Ich nicke ihm grimmig zu und schließ e die Klappe. Natü rlich lä sst er nicht so leicht locker. «Jemand hat mir erzä hlt, Mathilde sei vor ein paar Tagen in der Stadt gewesen. Hat einen verletzten Hund zum Tierarzt gebracht. Was ist passiert? »

       «Die Hü ndin ist einem Keiler zu nahe gekommen. »

       «Ach so. Ich dachte, sie ist vielleicht auf einen Nagel getreten. Wie geht’s? »

       Ich entscheide, dass er mit der Frage Lulu meint. «Nicht so gut. »

       «Wä re wohl gnä diger, das Tier von seinen Qualen zu erlö sen. Mathilde hatte ja schon immer ein weiches Herz, aber damit tut sie sich und anderen keinen Gefallen. Wird der Hund ü berleben? »

       «Wenn sie ü berlebt, dann mit drei Beinen. Danke fü r die Hilfe. »

       Ich steige in den Wagen. Jean-Claude hä lt die Fahrertü r fest, damit ich sie nicht zuschlagen kann.

       «Ich will mit Ihnen reden. »

       Was auch immer er zu sagen hat, ich bezweifle, ob ich es hö ren will. «Ich muss zurü ck. »

       «Es wird nicht lange dauern. Auß erdem ist Mittagszeit. Es gibt in der Nä he ein Café, in dem das Essen ganz in Ordnung ist. Geht auf mich. »

       «Nein danke. »

       «Sie mü ssen doch essen, oder? Ich will einfach nur ein paar Minuten Ihrer Zeit. Aber wenn das zu viel verlangt ist …»

       Er lä sst die Tü r los und deutet auf das Tor. Auch wenn ich nichts lieber tun wü rde als die Tü r zuschlagen und losfahren, stehe ich in gewisser Weise in seiner Schuld. Wenn er nicht gewesen wä re, hä tten Didier und seine Freunde Gott weiß was mit mir angestellt.

       «Steigen Sie ein», sage ich.

           

       In dem Café sind nicht besonders viele Gä ste, aber wir sitzen in der hintersten Ecke, weit weg von den anderen. Ich starre auf die kleine eingeschweiß te Speisekarte, ohne irgendwas zu sehen.

       «Die Omeletts kann ich empfehlen», schlä gt Jean-Claude vor.

       Das mag ja stimmen, aber in letzter Zeit hatte ich mehr als genug Eier. Ich bestelle das Tagesgericht und ein Bier. Irgendwas brauche ich, um meine Nerven zu beruhigen.

       «Also», sage ich.

       Er legt die Speisekarte beiseite. «Ich habe gehö rt, Arnaud hat von der Polizei Besuch bekommen. »

       «Das stimmt. »

       Jean-Claude wartet einen Moment, und als ich nichts sage, fä hrt er fort: «Ich respektiere das Recht eines Mannes, seinen Besitz zu verteidigen. Aber Arnaud geht zu weit. »

       Ich kann dem kaum widersprechen, doch Arnaud war nicht der Einzige, der sich falsch verhalten hat. «Wie geht’s Didier? Er hat keine unerklä rliche Schusswunde, will ich hoffen? »

       «Didier ist ein Idiot. Sobald er ein paar Bier intus hat, wird es schlimmer. Hoffentlich verwä chst sich das bald. »

       «Darauf wü rde ich mein Geld nicht verwetten. »

       Das quittiert er mit einem Lä cheln. «Keine Sorge, er wird in Zukunft keine Schwierigkeiten mehr machen. Ich habe ein ernstes Wort mit ihm geredet. »

       Sein Gesichtsausdruck verrä t, dass es kein besonders nettes Gesprä ch war. Ich nehme einen Schluck Bier, weil ich mich irgendwie beschä ftigen will. Jean-Claude hat seinen Wein nicht angerü hrt. Er scheint sich ebenso unwohl in seiner Haut zu fü hlen.

       «Was wissen Sie ü ber meinen Bruder? », fragt er unvermittelt.

       Darum geht es also, denke ich. «Nicht viel. Sie reden eigentlich nie ü ber ihn. »

       «Aber Sie wissen, dass er Michels Vater ist? Und dass er in ein paar … Nun ja, sagen wir, er war in ein paar Geschä fte mit Arnaud verwickelt. »

       «Ich habe davon gehö rt. »

       «Dann wissen Sie auch, dass Louis vermisst wird? »

       Ich wusste, es war ein Fehler mitzukommen. «Nein», sage ich.

       Aus einer Lederbrieftasche zieht er ein zerknittertes Foto heraus, das er vor mir auf den Tisch legt. Neben einem grü nen Pick-up steht er zusammen mit einem jü ngeren Mann, der grö ß er und nicht so massiv ist. Jean-Claudes Haare kleben an seinem Kopf, sein Kopf und sein Oberkö rper sehen feucht aus. Er lä chelt angestrengt, wä hrend der andere Mann lacht und ein leeres Bierglas in die Kamera hä lt.

       «Das ist Louis. Sein Sinn fü r Humor ist etwas grö ber als meiner. » In Jean-Claudes Stimme schwingt irgendwas zwischen Resignation und Zä rtlichkeit. «Er ist vor achtzehn Monaten verschwunden. Angeblich war er geschä ftlich auf dem Weg nach Lyon, er kam nie zurü ck. Niemand hat seither etwas von ihm gehö rt oder gesehen. Ich nicht und seine Freunde auch nicht. Niemand. »

       Etwas an dem anderen Mann auf dem Foto bringt in mir eine Saite zum Klingen, aber ich kann dieses Gefü hl nicht richtig einordnen. Dann erkenne ich es. Instinktiv schaue ich an mir herunter. Jean-Claude nickt. «Das ist ein alter Overall, den er immer bei Arnaud liegen hatte. Er sagte mal, er wolle nicht den Schweinegeruch mit nach Hause bringen. »

       Unter anderen Umstä nden hä tte ich das als Beleidigung aufgefasst. Ich schiebe das Foto wieder ü ber den Tisch. «Warum erzä hlen Sie mir das alles? »

       «Weil ich herausfinden will, was mit ihm passiert ist. Und ich glaube, Arnaud weiß mehr, als er zuzugeben bereit ist. »

       Er verstummt, weil unser Essen serviert wird. Ich bin froh um die Unterbrechung, weil ich meine Gedanken ordnen muss. Ich stochere auf dem Teller mit Steak und Pommes herum. Unter anderen Umstä nden wä re mir die Abwechslung vom Schweinefleisch willkommen gewesen. Heute nicht.

       «Warum glauben Sie, Arnaud kö nnte etwas wissen? », frage ich, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ich die Antwort hö ren will.

       Jean-Claude wischt das Ö l von seinem Omelett mit einem Stü ck Brot auf. Ü ber seinen Bruder zu sprechen, scheint seinen Appetit nicht zu beeinträ chtigen. «Die Geschä ftsreise hatte etwas mit einem der Plä ne zu tun, die er mit Arnaud geschmiedet hat. Ich weiß nicht, worum es ging, denn Louis ließ sich nicht gern in die Karten schauen. Aber ich bin ü berzeugt, Arnaud und er waren in etwas verstrickt. Und Arnauds Geschichte passt einfach nicht zu seinem Verschwinden. Hat er Ihnen erzä hlt, dass Louis Mathilde einen Antrag gemacht hat, weil er sie geschwä ngert hat? »

       Ich nicke. Selbst jetzt widerstrebt es mir, irgendwas davon preiszugeben.

       «Ich will Mathilde wirklich nicht zu nahe treten, sie ist nä mlich eine gute Frau. Aber das ist Quatsch. Ich kenne meinen Bruder, und glauben Sie mir, er ist nicht der Typ Mann, der heiratet. Das meiste, was er sonst noch rumerzä hlt, kann ich so hinnehmen, aber die Vorstellung, wie er auf einmal das Richtige tut und um ihre Hand anhä lt? Auf keinen Fall. Fü r Louis steht Louis an erster Stelle. Das war schon immer so. Wenn er die Stadt verlassen sollte, weil er ein Mä dchen in Schwierigkeiten gebracht hat, hä tte er das schon vor Jahren tun mü ssen. »

       «Vielleicht wollte er ja den Hof», sage ich und wiederhole damit, was Arnaud gesagt hat. Zu spä t fä llt mir ein, dass ich eigentlich gar nichts sagen wollte.

       Jean-Claude lä chelt bitter. «Richtig. Der Hof ist ja eine echte Goldmine. Wissen Sie, Louis wollte nur in der Gegend rumvö geln und schnelles Geld machen. Je einfacher, desto besser. Er war nicht daran interessiert, einen Hof zu besitzen, und schon gar nicht einen, der vö llig heruntergewirtschaftet und bis unters Dach mit Hypotheken belastet ist. Wenn Arnaud nur nicht so von sich selbst ü berzeugt wä re, wü rde er erkennen, dass niemand mit einem Funken Verstand irgendwas mit diesem Stü ck Land zu tun haben will. »

       «Und wieso hat er dann gelogen? »

       «Das ist eine gute Frage, nicht wahr? » Jean-Claude zö gert und nimmt einen Bissen Omelett. «Ich weiß es nicht. Arnaud hat sich diese hü bsche Geschichte ausgedacht und verliert jetzt kein Wort mehr darü ber. »

       «Haben Sie versucht, mit ihm zu reden? »

       «Natü rlich habe ich das. Er ließ sich lang und breit ü ber Louis aus und sagte, ich solle mir gefä lligst keine Sorgen machen. » Seine Miene verfinstert sich. «Michel ist ebenso mein Fleisch und Blut wie seins, aber Arnaud lä sst mich meinen Neffen nicht sehen. Er hat sie da drauß en alle lebendig begraben. Was soll das fü r ein Leben sein fü r ein Kind? Oder fü r seine Tö chter, wenn wir schon dabei sind. Er hat immer schon versucht, sie an der kurzen Leine zu halten. Besonders Gretchen. Nicht, dass ich es ihm verdenken kö nnte. Hinter ihr ist schon die Hä lfte der Dorfjugend her gewesen. Manchmal denke ich …»

       «Was? », hake ich nach, weil er nicht weiterspricht.

       Aber er schü ttelt nur den Kopf. «Ist nicht wichtig. Der Punkt ist, dass Arnaud nach Louis’ Verschwinden den Hof vö llig von der Stadt abgeschottet hat. Und warum sollte er das tun, wenn er nichts zu verbergen hat? »

       «Vielleicht, weil es Leute wie Didier gibt. »

       «Vielleicht. Fü r Didiers Verhalten werde ich mich nicht entschuldigen. Arnaud aber verhä lt sich, als wä re er unter Belagerung. Er war immer schon extrem reizbar, aber Stacheldraht und Fallen? » Jean-Claude zeigt mit seinem Messer auf meinen Fuß. «Und bitte, beleidigen Sie unser beider Intelligenz nicht, indem Sie darauf beharren, das da wä re ein Unfall gewesen. Bisher habe ich den Gerü chten ü ber die Fangeisen eigentlich keinen Glauben geschenkt, aber du lieber Himmel! Warum sind Sie nach dieser Geschichte ü berhaupt dortgeblieben? »

       «Ich verstehe immer noch nicht, was Sie von mir wollen. »

       «Wie ich schon sagte: Arnaud weiß mehr, als er zugibt. Sonst hä tte er sich nicht diese schwachsinnige Geschichte ausgedacht. Sie leben auf seinem Land. Also kö nnen Sie sich dort umschauen und Fragen stellen. Vielleicht mal Georges auf den Zahn fü hlen, ob er was weiß. Herausfinden, was Arnaud verbirgt. »

       Mit anderen Worten: spionieren. Aber etwas von dem, was er gesagt hat, setzt bei mir eine beunruhigende Gedankenkette in Gang. Er hat sie da drauß en lebendig begraben. Er spricht ü ber Arnauds Familie, aber ich kann nur an den krü meligen Betonboden in der Scheune denken.

       Ich schiebe das Bild und meinen Teller beiseite. Das Essen habe ich kaum angerü hrt. «Wenn Sie so sehr davon ü berzeugt sind, dass er lü gt, kö nnten Sie doch auch zur Polizei gehen? »

       «Glauben Sie, das hä tte ich nicht lä ngst getan? Ich war bei der ö rtlichen Gendarmerie und auß erdem bei der Nationalpolizei in Lyon. Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan. Ohne einen Beweis wollten sie nichts davon hö ren. Sie sagten, Louis sei ein erwachsener Mann und kö nne machen, was er will. »

       Ich brauche einen Moment, ehe ich begreife, was das bedeutet. Die lä ndlichen Gegenden in Frankreich unterstehen der Gendarmerie. Die Nationalpolizei wird lediglich in den Stä dten tä tig. Es kann nur einen Grund geben, weshalb Jean-Claude bei beiden sein Glü ck versucht hat, und ich hake nach. «Wo wurde er das letzte Mal gesehen, sagten Sie? »

       Jean-Claude zö gert. Er schaut auf sein Glas und dreht es in beiden Hä nden. «Man hat ihn an einer Tankstelle in einem Vorort von Lyon gesehen. Zwei Tage, nachdem er hier verschwand. Er wurde von einer Ü berwachungskamera gefilmt, als er getankt hat. Aber das beweist gar nichts. »

       Er irrt sich. So wie Jean-Claude bisher geredet hat, bin ich davon ausgegangen, dass Louis es nie bis nach Lyon geschafft hat und sein Verschwinden darum in direktem Zusammenhang mit Arnaud und dem Hof stehen muss. Wenn er in einer Stadt am anderen Ende des Landes zuletzt gesehen wurde, ist das etwas vö llig anderes.

       Ich habe das Gefü hl, ein Gewicht werde mir von den Schultern genommen.

       «Haben Sie schon mal ü berlegt, dass die Polizei recht haben kö nnte? Vielleicht hatte er einen guten Grund wegzulaufen. » Die Ironie meiner Worte entgeht mir nicht. Noch wä hrend ich es sage, ü berkommt mich eine Welle der Scham, die ich zu ignorieren versuche.

       Jean-Claude starrt mich an. Seine dicken Arme ruhen auf dem Tisch. Mich beschleicht das unangenehme Gefü hl, dass er mich abschä tzt und ü berlegt, was er mit mir machen soll.

       «Meine Frau und ich wurden leider nicht mit Kindern gesegnet», sagt er. «Abgesehen von ihr ist Louis meine Familie. Und ich bin seine. Sobald er Scheiß e baut, kommt er frü her oder spä ter zu mir, damit ich die Sache wieder in Ordnung bringe. Weil ich sein Bruder bin und so was eben mache. Dieses Mal kam er aber nicht. »

       «Sehen Sie …»

       «Louis ist tot, und ich brauche nicht die Polizei, um das zu wissen. Wenn er noch am Leben wä re, hä tte ich inzwischen von ihm gehö rt. Und Arnaud hat etwas damit zu tun. Es ist mir egal, wo Louis das letzte Mal gesehen wurde. Der alte Scheiß kerl verbirgt irgendwas. Und was ich wissen will, ist, ob Sie mir helfen werden herauszufinden, was mit meinem Bruder passiert ist. »

       Trotz seiner Schroffheit spü re ich, wie sehr ihm der Verlust zusetzt. Wie gut ich ihn verstehe, dass er jemanden dafü r verantwortlich machen will. «Ich verstehe immer noch nicht, wie ich Ihnen da helfen kann. Ich weiß ja nicht mal, ob ich noch lä nger hierbleibe. » Es klingt wie eine Ausrede, sogar in meinen Ohren. «Tut mir leid. »

       Jean-Claude steht auf und zieht seine Brieftasche hervor. Er wirft einen Geldschein auf den Tisch.

       «Sie brauchen nicht zu …»

       «Ich habe gesagt, das Essen geht auf mich. Danke fü r Ihre Zeit. » Seine breiten Schultern versperren kurz die Tü rö ffnung, als er sich von mir abwendet und hinausgeht.

           

       Die Fahrerkabine des Pritschenwagens ist ein Glutofen und stinkt nach heiß em Plastik und Ö l. Der Wagen lä sst sich nur schwerfä llig lenken, weil die Sandsä cke auf der Ladeflä che ihn wie einen Anker nach unten ziehen. Ich trete das Gaspedal durch, um ihn zu einem bisschen Geschwindigkeit zu treiben. Erst als er anfä ngt zu vibrieren, lasse ich nach, und das nur zö gernd. Der Motor bebt und jammert, als ich die leere Straß e entlangfahre.

       Ich weiß nicht, warum ich so wü tend bin. Oder auf wen. Auf mich, nehme ich an. Ich hä tte mich nicht breitschlagen lassen sollen, Jean-Claude zuzuhö ren. Obwohl ich jetzt wenigstens weiß, warum Arnaud so unbeliebt ist. Ich kann fü r Jean-Claude echtes Mitgefü hl aufbringen, denn natü rlich will er jemandem die Schuld an der schrecklichen Sache geben. Und Arnauds Streitlust macht ihn in diesem Fall zu einem geeigneten Ziel. Aber ich verstehe nicht, wieso man ihn fü r Louis’ Verschwinden verantwortlich machen sollte. Nach dem, was ich ü ber ihn gehö rt habe, scheint Michels Vater auch nicht bei jedermann beliebt gewesen zu sein. Entweder er hat sich mit der falschen Person angelegt, oder er hat beschlossen, seine Verluste hier zu realisieren und woanders von vorne anzufangen.

       Viel Glü ck dabei, denke ich niedergeschlagen.

       Meine Stimmung bessert sich auch nicht, als ich mich dem Hof nä here. Das letzte Mal, als ich in der Stadt war, konnte ich es kaum erwarten, wieder zurü ckzufahren. Dieses Mal verlangsame ich das Tempo, als das Tor in Sichtweite kommt. Ich lenke den Wagen an den Straß enrand vor dem Tor, und statt auszusteigen und aufzuschließ en, sitze ich einfach bei laufendem Motor da. Die Straß e verschwindet im Nirgendwo. Aus der Richtung bin ich ursprü nglich gekommen. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft denke ich ernsthaft ü ber die Mö glichkeit nach, wieder zurü ckzufahren.

       Aber zurü ck wohin?

       Ich steige aus und schließ e das Tor auf und schließ e wieder zu, sobald ich durchgefahren bin. Dann fahre ich den Pritschenwagen ü ber den mit Schlaglö chern ü bersä ten Weg und parke im Hof. Ich ö ffne die Ladeklappe und beginne, die Sandsä cke auszuladen und sie einzeln in die Kammer zu schleppen. Es sind ziemlich viele, denn ich will vermeiden, dass mir das Baumaterial ein zweites Mal ausgeht.

       Jetzt habe ich allerdings das Gefü hl, zu viele gekauft zu haben.

       Eine unerklä rliche Ungeduld erfasst mich, wä hrend ich auslade. Zuerst weiß ich nicht, woher sie kommt, aber dann rieselt etwas Sand auf den Boden, und ich stelle die Verbindung her. Es gibt keinen Grund, wegen meiner Unterhaltung mit Jean-Claude besorgt zu sein. Nicht, nachdem ich erfahren habe, dass Louis wä hrend seines Aufenthalts in Lyon verschwunden ist.

       Aber ich kann nicht aufhö ren, ü ber das Stü ck Stoff in dem Beton nachzudenken.

       Mathilde kommt vom Haus herü ber, als ich den Pritschenwagen fast vollstä ndig ausgeladen habe. Sie trä gt Michel auf der Hü fte. «Gab es Probleme? »

       «Nein, keine Probleme. » Ich ziehe den letzten Sandsack ü ber die Ladeflä che zu mir heran.

       «Du warst recht lange weg. »

       «Ich habe dort zu Mittag gegessen. »

       Sie beobachtet, wie ich den Sandsack hochhieve. Als erwarte sie, ich wü rde mehr sagen. Was ich nicht tue. «Mein Vater meint, du kannst heute Abend wieder mit uns im Haus essen», sagt sie schließ lich.

       «In Ordnung. » Ich gehe an ihr vorbei und halte den schweren Sack an mich gedrü ckt. Als ich die kü hle Kammer betrete, lasse ich ihn neben den anderen zu Boden fallen. Schon jetzt bereue ich, so kurz angebunden gewesen zu sein. Ich freue mich nicht besonders darauf, noch einen Abend mit Arnaud zu verbringen. Aber es hat ü berhaupt keinen Sinn, meine schlechte Laune an Mathilde auszulassen. Wenn es ein Opfer bei der ganzen Geschichte gibt, dann ist sie es.

       Ich gehe wieder raus, um mich zu entschuldigen, aber der Innenhof ist leer.

       Also schließ e ich die Klappe des Pritschenwagens und schaue am Gerü st hoch. Aber schon jetzt weiß ich, dass ich nicht nach oben steigen werde. Noch nicht. Niemand ist hier drauß en. Ich will es wissen.

       Ich eile ü ber den Hof zur Scheune.

       Ich renne beinahe, als ich das Tor erreiche. Im dä mmrigen Innern gehe ich zu der rechteckigen Kruste aus Mö rtel. Ich bin jeden Tag darü ber hinweggelaufen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Das Stü ck ist etwa fü nf bis sechs Fuß lang und halb so breit.

       Groß genug jedenfalls, um eine Leiche zu verstecken.

       Wieder denke ich an das, was Jean-Claude mir erzä hlt hat.

       Er vergrä bt alles …

       Ein schreckliches Gefü hl breitet sich in meiner Magengrube aus. Das ist dumm, denke ich. Wenn ich schon paranoid werden will, sollte ich damit warten, bis es dunkel wird. Aber ich kann nicht anders. Ich schaue rasch ü ber die Schulter, um mich zu vergewissern, dass niemand im Tor steht. Dann hocke ich mich neben das Betonfeld. Ich entdecke sofort den Fetzen von was auch immer, der aus dem Riss ragt. Das kö nnte alles sein. Ein Bonbonpapier oder ein Lappen oder irgendwas.

       Warum findest du es nicht einfach heraus?

       Ich bohre meine Finger in den Riss und versuche, den Fetzen zu packen. Rau und steif fü hlt er sich an und steckt ziemlich fest. Der Mö rtel ringsum fä ngt an zu brö ckeln, als ich den Fetzen hin und her bewege, und dann spritzen die Zementkrü mel auf, als der Fetzen nachgibt. Jetzt kann ich ihn besser greifen, und dann kommt ein Schwall Kies und Sand, und der Fetzen ist frei.

       Mit trockenem Mund stehe ich auf und nehme meine Beute mit ins Tageslicht. Der Fetzen ist mehrere Zoll lang und hat ausgefranste Kanten. Er hat dieselbe staubige Farbe wie der Beton, und als ich erkenne, was es ist, lache ich auf. Erleichtert und zugleich peinlich berü hrt wegen meiner lebhaften Phantasie. Das ist kein Stü ck Stoff, es ist Papier. Dickes Papier.

       Ein Stü ck, das von einem Zementsack abgerissen ist.

       Ein Pluspunkt fü r meine lebhafte Phantasie, denke ich und wische den Sand von meinen zerschrammten Fingern.

       An diesem Nachmittag arbeite ich lä nger als sonst und versuche, die verlorene Zeit aufzuholen und mit der Anstrengung einen Teil der Anspannung aus meinem Kö rper zu vertreiben, die sich dort eingenistet hat. Die Sonne steht schon knapp ü ber den Bä umen, als ich endlich mit meinem Tagwerk zufrieden bin. Meine Schultern schmerzen, und meine Arme und Beine sind schwer, als ich die Leiter runtersteige. Ich trotte zurü ck zur Scheune und wasche mich unter dem eisig kalten Wasserstrahl. Dann ziehe ich den Overall aus und erinnere mich an etwas anderes, das Jean-Claude erzä hlt hat. Ich zö gere und schnuppere dann an dem Overall. Dreck und Schweiß. Wenn er nach Schwein riecht, kann ich den Geruch nicht ausmachen. Vielleicht bemerke ich den Schweinegeruch schon gar nicht mehr.

       Ich ziehe meine eigenen Sachen an und mache mich dann auf den Weg zum Haus. Die Tü r steht offen, und ich gehe direkt in die Kü che. Der Tisch wurde bereits fü r vier gedeckt, und diesmal nehme ich denselben Platz ein wie beim letzten Mal. Meinen Platz. Arnaud sitzt auf seinem Stammplatz am Kopfende. Er ö ffnet eine Flasche Wein und schiebt sie mir schweigend zu. Gretchen lä chelt mich an, wä hrend sie Mathilde hilft, das Essen zu servieren. Als sei sie von jenem weit entfernten Ort zurü ckgekehrt, an den sie sich in den letzten Tagen zurü ckgezogen hat. Die beiden setzen sich zu uns, und wir beginnen zu essen.

       Wie eine ganz normale Familie.




  

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