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LONDON.  KAPITEL 13



LONDON

       Das Oberlicht ist von Kondenswasser beschlagen. Regen trommelt darauf. Unsere schmutzigen Spiegelbilder liegen ü ber uns, wä hrend wir auf dem Bett liegen. Verschwommene Doppelgä nger, die im Glas gefangen sind.

       Chloe ist ganz weit weg. Ich kenne ihre Stimmungen inzwischen gut genug, um sie nicht zu bedrä ngen und sie in Ruhe zu lassen, bis sie freiwillig wieder mit mir spricht. Sie starrt durch das Oberlicht nach drauß en, und ihre blonden Haare fangen das Licht von der Muschellampe ein, die sie auf dem Flohmarkt gekauft hat. Ihre Augen sind blau. Sie blinzelt nicht. Ich habe wieder das Gefü hl, ich kö nnte meine Hand quer durch ihr Sichtfeld wischen, ohne eine Reaktion zu bekommen. Ich will sie fragen, worü ber sie nachdenkt, aber ich schweige. Ich habe Angst, sie kö nnte es mir erzä hlen.

       Die Luft im Raum ist kalt und feucht auf meiner nackten Brust. Am anderen Ende der Wohnung steht eine leere Leinwand unberü hrt auf Chloes Staffelei. Sie ist jetzt schon seit Wochen leer. Der Geruch von Terpentin und Ö lfarben, den ich lange Zeit mit dieser kleinen Wohnung verknü pft hatte, ist verflogen und kaum mehr wahrnehmbar.

       Ich spü re, wie sie sich neben mir regt.

       «Denkst du auch manchmal darü ber nach, wie es sein wird zu sterben? », fragt sie.

       Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Die Stimmung zwischen uns war ziemlich angespannt, seit ich das Kokain gefunden habe. Chloe beteuert, es sei nur ein einziges Mal passiert und werde nicht wieder vorkommen, und ich versuche, ihr zu glauben. Keiner von uns spricht ü ber Jules. Jeder Tag ist aufs Neue ein Balanceakt, und mit jedem Tag fü rchte ich, einer von uns kö nnte danebentreten und alles kaputtmachen.

       Trotzdem habe ich bemerkt, dass sie in letzter Zeit irgendwie stiller geworden ist. Ich kann es nicht genau benennen, aber ich habe vor ein paar Tagen noch mal die Wohnung durchsucht, als sie nicht da war. Als ich nichts fand, habe ich mir eingeredet, dass ich mir das alles nur eingebildet habe. Aber es kann auch bedeuten, dass sie ein besseres Versteck gefunden hat.

       «Was ist das denn fü r eine Frage? »

       «Macht dir das Angst? »

       «Himmel, Chloe …»

       «Mir macht es keine Angst. Frü her schon, aber jetzt nicht mehr. »

       Die Muskeln in meinem Nacken verkrampfen sich schmerzhaft. Ich richte mich auf und sehe sie an. «Wohin fü hrt diese Unterhaltung? »

       Sie starrt durch das Oberlicht in den Himmel, und ihre Augen sind helle Punkte in ihrem bleichen, in Schatten getauchten Gesicht. Als ich schon denke, dass keine Antwort mehr kommt, sagt sie es.

       «Ich bin schwanger. »

       Zuerst weiß ich nicht, was ich empfinde. Ich habe alles Mö gliche erwartet, aber nicht das hier. Doch dann wird das alles von Euphorie und Erleichterung fortgeschwemmt. Das war es also, was sie aus der Bahn geworfen hat.

       «Gott, Chloe, das ist toll! », rufe ich und will die Arme um sie legen.

       Aber sie liegt steif da und reagiert nicht. Noch immer starrt sie durch das Oberlicht, und jetzt sehe ich, wie das Helle, Blanke in ihren Augen ü ber die Wimpern quillt und ihre Wangen hinabrinnt. Ich lasse sie los, weil sich in mir eine unerklä rliche Kä lte ausbreitet.

       «Was? », frage ich, obwohl ich es bereits weiß.

       Chloes Stimme ist tonlos und von den Trä nen vö llig unbeeinträ chtigt.

       «Es ist nicht von dir. »


[zur Inhaltsü bersicht]


 KAPITEL 13

       Die Polizei kommt am nä chsten Morgen. Ich klettere vom Gerü st runter, als ich die Schritte im Innenhof hö re. Ich schaue mich um und erwarte eigentlich Mathilde oder Gretchen. Der Anblick von zwei uniformierten Gendarmen lä sst mich erstarren. Nur die Tatsache, dass ich einen Arm um eine Leitersprosse geschlungen habe, verhindert meinen Absturz.

       Ihre weiß en Hemden blenden in der Sonne, und die dunklen Glä ser ihrer Sonnenbrillen lassen ihre Mienen ausdruckslos wirken, als sie mich beobachten, wie ich auf halbem Weg auf der Leiter verharre wie eine Fliege im Spinnennetz. Der Kleinere der beiden, der aussieht, als sei er der ranghö here Beamte, spricht zuerst.

       «Wo ist Arnaud? »

       Die Worte dringen nicht zu mir durch. Ich starre ihn dü mmlich an.

       «Wir suchen nach Jacques Arnaud», wiederholt er gereizt. «Wo steckt er? »

       Der grö ß ere Gendarm nimmt seine Schirmmü tze ab und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Die Achseln seines Hemds haben groß e feuchte Flecken. Aus irgendeinem Grund ist es mir dadurch mö glich, einen Satz hervorzupressen.

       «Versuchen Sie’s im Haus. »

       Ohne sich zu bedanken, marschieren sie zur Haustü r. Jetzt merke ich, dass ich immer noch reglos auf der Leiter stehe, und zwinge mich, nach unten zu steigen. Meine Beine fü hlen sich schwer an, als hä tte ich vergessen, wie man sie benutzt.

       Arnaud kö nnte auf der Jagd sein, denke ich, aber die Tü r ö ffnet sich, bevor die Gendarmen klopfen kö nnen. Schweigend und streitlustig tritt er ihnen entgegen. Als der kleinere Gendarm fragt: «M’sieur Arnaud? », nickt er nur leicht zur Bestä tigung. Der Gendarm ist gä nzlich unbeeindruckt. «Bei uns liegt eine Anzeige vor. Wegen einer Schieß erei gestern Nacht. »

       Sein Kollege mit dem verschwitzten Hemd bemerkt, dass ich die drei beobachte. Rasch wende ich mich ab und gehe zur anderen Seite des Hauses. Sobald ich auß er Sichtweite bin, sinke ich einfach zu Boden.

       Sie sind nicht meinetwegen hier. Ich lasse den Kopf hä ngen und atme tief durch. Die Stimmen dringen immer noch vom Innenhof herü ber, aber ich kann nicht verstehen, was gesagt wird. Rasch ziehe ich mich an der Innenseite des Gerü sts hoch wie an einem riesigen Klettergerü st. Dabei merke ich eher beilä ufig, wie es quietscht und ä chzt. Sobald ich mich wieder auf die Plattform gehievt habe, krieche ich zu dem Ende, das der Kü che am nä chsten liegt. Die Stimmen sind jetzt gut zu verstehen.

       «… keine offizielle Anzeige erstattet», sagt Arnaud jetzt da unten. «Ich habe nur meinen Besitz verteidigt. Wenn Sie wissen, wer das war, sollten Sie lieber die Kerle einlochen und nicht mich. »

       «Wir wollen ja niemanden einsperren, wir wollen nur …»

       «Das sollten Sie aber. Jemand greift mein Haus an. Aber Sie schikanieren lieber mich. Und das nur, weil ich ein paarmal in die Luft geschossen habe, um sie zu verjagen? Wo bleibt denn da die Gerechtigkeit? »

       «Wir haben gehö rt, die Schü sse gingen nicht in die Luft. »

       «Nein? Wurde denn jemand verletzt? »

       «Nein, aber …»

       «Da haben Sie’s! Auß erdem weiß ich gar nicht, woher die zu wissen glauben, worauf ich gezielt habe. Sie haben ziemlich schnell das Weite gesucht. »

       «Kö nnen wir lieber drinnen weiterreden? »

       «Ich wü sste nicht, dass es noch irgendwas zu bereden gä be. »

       «Wir werden auch nicht allzu viel Zeit brauchen. »

       Die Stimme des Gendarms klingt eisern. Ich kann Arnauds Antwort nicht verstehen, aber ich hö re Schritte, die im Innern des Hauses verschwinden. Die Tü r geht zu. Ich kann nur noch an das in Plastikfolie gewickelte Pä ckchen in meinem Rucksack denken. Es kommt mir jetzt wahnsinnig vor, es nicht schon lä ngst irgendwie losgeworden zu sein. Stattdessen habe ich es einfach unter ein paar alten Klamotten versteckt.

       Aber nun ist es zu spä t.

       Ich merke erst jetzt, dass ich dabei bin, einen Fingernagel bis aufs Blut abzukauen, und zwinge mich, damit aufzuhö ren. Von dem Platz aus, wo ich jetzt kauere, kann ich jenseits der Baumwipfel den See erkennen. Ich kö nnte mich da unten verstecken, bis die Polizei wieder weg ist. Vielleicht kann ich sogar ü ber den Stacheldrahtzaun klettern und durch die Getreidefelder laufen, bis ich die nä chste Straß e erreiche. Wenn ich Glü ck habe, bin ich schon Meilen entfernt, ehe ü berhaupt jemand mein Verschwinden bemerkt.

       Aber das ist bloß Panik. Die Gendarmen haben kein Interesse an mir. Sie sind nur gekommen, um Arnaud zu verwarnen, weil er gestern Nacht mit dem Gewehr rumgeballert hat. Wenigstens hoffe ich das. Wenn ich weglaufe, wü rde ich damit nur unnö tig Aufmerksamkeit auf mich ziehen.

       Auß erdem: Wo soll ich hin?

       Besorgt schlage ich mit der Kelle auf den Mö rtel ein, der auf dem Brett eingetrocknet ist. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was ich tue, nehme ich etwas Mö rtel aus dem Eimer und drü cke ihn in die Wand. Dann wiederhole ich den Vorgang. Das leise Kratzen der Kelle auf dem Mauerwerk ü bt eine beruhigende Wirkung auf mich aus, und das Zittern meiner Hä nde lä sst nach. Kurz darauf stehe ich auf und arbeite mechanisch weiter. Ich kratze den Mö rtel mit der Kelle vom Brett und verstreiche ihn an der Wand, immer wieder und ohne nachzudenken. Mit jeder Bewegung vergesse ich Arnaud ein bisschen mehr, ich vergesse sogar die Polizei. Ich vergesse alles um mich herum.

       Ich hö re nicht mal, wie die Kü chentü r wieder geö ffnet wird.

       «Wie geht es da oben voran? »

       Ich halte inne und schaue nach unten. Der grö ß ere Gendarm steht im Hof und blickt mit zusammengekniffenen Augen zu mir hoch. Er trä gt die Sonnenbrille nicht und hat Schweinsä uglein.

       «Sieht aus, als ob es ziemlich heiß ist», ruft er zu mir rauf.

       Ich tue so, als wü rde ich konzentriert weiterarbeiten. «Ja. »

       Er zupft das feuchte Hemd von seiner Brust. «Was fü r ein Scheiß tag. Wir mussten den Wagen zurü cklassen und von der Straß e den ganzen Weg laufen. Das Tor ist abgeschlossen. »

       «Stimmt. »

       «Ich ertrag die Sonne nicht. Hab ich noch nie. Von April bis Oktober ist es einfach nur die Hö lle. »

       «Ich weiß, wovon Sie sprechen. »

       «Ja, mit Ihrer Haut muss es fü r Sie auch ziemlich ü bel sein. »

       Der Mö rtel rutscht von der Kelle und klatscht auf das Gerü st. Der Gendarm mustert das Haus, nimmt die Schirmmü tze ab und fä hrt sich mit den Fingern durch die Haare, ehe er sie wieder aufsetzt. Sein dichter Schnurrbart verdeckt fast den ganzen Mund.

       «Schon lange hier? »

       «Hm, seit heute frü h um neun. »

       Er lä chelt. «Ich meinte nicht heute. »

       «Ach so. Ein paar Wochen. »

       Mein Brett ist leer. Der Mö rtel im Eimer ist inzwischen zu sehr eingetrocknet, um damit noch arbeiten zu kö nnen, aber ich kratze trotzdem noch etwas raus. Entweder das, oder ich muss nach unten gehen. Wenn der Gendarm sich bewegt, hö re ich seinen Ledergü rtel und den Pistolenholster knarzen.

       «Sie sind Englä nder, stimmt’s? »

       Ich nicke.

       «Sie sprechen gut Franzö sisch. Wo haben Sie das gelernt? »

       «Ich hab einiges aufgeschnappt. »

       «Wirklich? Dann haben Sie wohl ein Talent fü r Sprachen. »

       «Ich hab in der Schule die Grundlagen gelernt. »

       «Ah ja. Das wird’s sein. » Er zieht ein Taschentuch heraus und wischt sich ü bers Gesicht. «Wie heiß en Sie? »

       Ich bin versucht, einen Namen zu erfinden, aber das wird die Sache nur verkomplizieren, wenn er meinen Ausweis sehen will. Er reagiert nicht, als ich ihn nenne.

       «Und was bringt Sie nach Frankreich, Sean? », fragt er.

       Ich fahre mit der Kelle ü ber die Wand, obwohl ich den Mö rtel gar nicht glä tten brauche. «Ich reise einfach ein bisschen. »

       «Wenn Sie Tourist sind, sollten Sie aber nicht arbeiten. » Mein Gesicht brennt vom Blut, das hineinschieß t. Nach einer kurzen Pause lacht er. «Keine Sorge, ich mach nur Witze. Sie waren also letzte Nacht auch hier, als es die Probleme gab? »

       «In gewisser Weise. »

       «In gewisser Weise? »

       «Ich habe den Tumult gehö rt. Gesehen hab ich aber nichts. »

       «Aber Sie haben gehö rt, was passiert ist. »

       «Das war kaum zu ü berhö ren. »

       Er wischt sich mit dem Taschentuch den Nacken ab. «Erzä hlen Sie mal, was da los war. »

       «Ich habe gehö rt, wie Fenster zerbrachen. Dann waren Rufe zu hö ren, die aus dem Wald kamen. Fü r mich klang es so, als wä ren das mehrere Jungs. »

       «Was genau haben sie gerufen? »

       «Irgendwas ü ber Arnaud und seine Tö chter. »

       «Ziemlich widerliche Sachen oder wie? »

       «Nett war’s jedenfalls nicht. »

       «Und wie oft hat Arnaud das Gewehr abgefeuert? »

       «Hm …» Ich runzle die Stirn, als versuchte ich ernsthaft, mich zu erinnern. «Ich hab keine Ahnung. »

       «Einmal, zweimal? Sechsmal? »

       «Ich bin nicht sicher. Es war ein ziemliches Durcheinander. »

       «Hat er in den Wald gezielt? »

       «Das konnte ich nicht sehen. »

       «Wo waren Sie denn, als das alles passierte? »

       «Am anderen Ende vom Haus. »

       «Aber Sie konnten nicht sehen, was passiert ist? »

       «Es war dunkel. Bis ich dort ankam, war es schon wieder vorbei. »

       «Sie sind also nicht sofort hingelaufen, um zu sehen, was da los ist? »

       Ich halte meinen Fuß hoch, damit er den Verband sieht. «Nicht mit dem da. »

       Selbst wä hrend ich den Fuß noch hochhalte, merke ich, dass das ein Fehler ist. Er sieht ihn an und scheint nicht im Geringsten ü berrascht. «Was ist passiert? »

       «Bin auf einen Nagel getreten», sage ich und wü nsche zugleich, ich hä tte einfach die Klappe gehalten.

       «Einen Nagel. Genau. »

       Ein hä rterer Ausdruck ersetzt jetzt die oberflä chliche Freundlichkeit in seinem Gesicht. Ich wende mich ab und tue so, als mü sste ich die Wand mit dem eingetrockneten Mö rtel verputzen.

       «Wissen Sie, wer das war? », frage ich und versuche, beilä ufig zu klingen. «Letzte Nacht, meine ich. »

       «Vermutlich nur irgendwelche Jugendlichen aus der Gegend. » Er klingt gleichgü ltig. Ich bekomme den Eindruck, dass niemand Didier und seine Freunde einsperren wird, nur weil sie ein paar Steine geworfen haben. Der Gendarm setzt seine Sonnenbrille wieder auf und versteckt die kleinen Augen. «Wie lange bleiben Sie noch? »

       «Bis das Haus fertig ist, nehme ich an. »

       «Und dann reisen Sie weiter. »

       Ich bin nicht sicher, ob das eine Frage sein soll. «Davon gehe ich aus. »

       Die Sonnenbrillenglä ser starren weiter zu mir hoch. Ich vermute, er will noch etwas sagen, aber die Kü chentü r geht wieder auf, und der andere Gendarm tritt heraus. Die beiden reden miteinander, aber sie sprechen zu leise, als dass ich etwas verstehen kö nnte. Der Kleinere von beiden schü ttelt offensichtlich verä rgert den Kopf. Dann sagt der grö ß ere Gendarm etwas, und beide schauen zu mir hoch.

       Ich wende mich wieder ab. Im nä chsten Moment hö re ich, wie sie den Hof ü berqueren. Ich tue weiter so, als wü rde ich arbeiten und fast eingetrockneten Mö rtel in die Fugen schmieren, bis ich sicher bin, dass sie fort sind.

       Meine Beine zittern, als ich auf das Gerü st sinke. Ich nehme den Kopf zwischen die Knie und versuche, mich nicht zu ü bergeben.

       «Bist du da oben? »

       Es ist Mathilde. Ich atme ein letztes Mal tief durch und stehe auf. Sie steht unten vor dem Gerü st und hat einen Teller mit Essen in der Hand. Der Spaniel steht neben ihr und lä sst den Teller nicht aus den Augen.

       «Ich habe dir das Mittagessen gebracht. »

       «In Ordnung. Danke schö n. »

       Ich habe keinen Appetit, aber ich will auch nicht lä nger hier oben bleiben, wo mich jeder sehen kann. Ich lasse mir Zeit beim Runtersteigen und rechne damit, dass Mathilde den Teller wie gewö hnlich auf dem Fensterbrett zurü ckgelassen hat. Aber als ich unten ankomme, steht sie noch da. Ihr Gesicht ist bleich, und die Schatten unter ihren Augen sind ausgeprä gter als sonst.

       «Die Polizei war hier. Wegen gestern Nacht. »

       «Ich weiß. Einer von ihnen hat mich deswegen befragt. »

       Sie wirft mir einen flü chtigen Blick zu und schaut dann weg. Ihre Hand schiebt die Haare zurü ck. Inzwischen habe ich begriffen, dass es ein Ausdruck von Unsicherheit ist, wenn sie das macht.

       «Werden die Anzeige erstatten? », frage ich.

       «Nein. Sie haben ihn verwarnt. Er soll zukü nftig nicht mehr einfach so rumballern. Das ist alles. »

       Ich versuche, gleichmü tig zu klingen. «Und kommen sie noch mal vorbei? »

       «Davon haben sie nichts gesagt. Ich glaube aber nicht. »

       Fast kommt es mir vor, als wolle sie mich beruhigen.

       Als sie weg ist, ü berquere ich den Innenhof. Zunä chst langsam und darum bemü ht, ganz normal zu wirken, doch sobald ich die Scheune erreiche, renne ich fast und ramme den Gehstock wie ein drittes Bein in die Erde. Erst als ich die Stufen hinaufstü rmen will, merke ich, dass ich immer noch den Teller in der Hand halte. Brot und Fleisch fallen fast herunter, als ich ihn abstelle und hoch auf den Dachboden rase. Ich wuchte meinen Rucksack auf die Matratze und zerre an der Kordel. Seit Gretchen auf der Suche nach meinem MP3-Player hier oben gewesen ist, habe ich ihn immer verschlossen gehalten, und jetzt fluche ich laut, wä hrend ich versuche, den Knoten zu lö sen. Zugleich lausche ich, ob irgendwelche Schritte die Rü ckkehr der Polizisten ankü ndigen.

       In meiner Kehle lauert ein bitterer Geschmack, als ich in den Rucksack greife und das Pä ckchen ertaste. Das glatte Gewicht erinnert mich an all das, was ich lieber vergessen wü rde. Ich hatte genug Zeit, mir darü ber klarzuwerden, was ich damit machen will, aber es war einfacher, seine Anwesenheit zu ignorieren. Jetzt habe ich keine Wahl mehr. Hektisch schaue ich mich um, ob irgendwo zwischen dem Gerü mpel ein geeignetes Versteck sein kö nnte, aber dann verwerfe ich den Gedanken, ich brauche einen Ort, wo das Pä ckchen sicher ist vor einer beilä ufigen Durchsuchung und auch nicht zufä llig gefunden wird.

       Es dauert eine Weile, aber schließ lich fä llt mir etwas ein.

           

       Eine Biene summt ü ber den Weinstö cken wie ein angeschlagenes Kleinflugzeug. Die Hitze scheint fast kö rperliches Gewicht zu haben und raubt mir Willenskraft und Energie gleichermaß en.

       Ich schaue aus dem Scheunentor auf den Tag. Ich sitze an einen der alten Weinbottiche gelehnt auf dem Streifen Beton. Es ist hier unten sehr viel angenehmer als oben auf dem Dachboden, wenngleich «kü hl» inzwischen nur noch relativ ist. Als ich zurü ckkam, stand mein Mittagessen noch auf der Stufe, wo ich es zurü ckgelassen habe. Zumindest der Teller war noch da, denn Lulu hatte meine Abwesenheit zu nutzen gewusst. Ich habe ohnehin keinen Hunger.

       Der Springer Spaniel rekelt sich neben mir. Er verdaut mein Mittagessen und genieß t den Schatten. Ich sollte mich wieder an die Arbeit machen, aber ich kann mich einfach nicht aufraffen. Die Ereignisse dieses Morgens haben mich vö llig ausgehö hlt. Der Besuch der Gendarmen hat mich mehr beunruhigt als der nä chtliche Aufruhr. Danach konnte ich wenigstens wieder Zuflucht auf dem hinter verschlossenen Toren liegenden Hof finden. Jetzt ist die Welt da drauß en mir nach drinnen gefolgt und hat mich daran erinnert, dass Zuflucht nicht mehr als eine Illusion ist. Ich kann mich hier nicht bis in alle Ewigkeit verstecken.

       Die Frage ist aber: Wohin soll ich gehen?

       In den Schatten eingesponnen, starre ich auf das Sonnenlicht, das durch das Scheunentor fä llt, und beginne, gedankenverloren an dem Riss im Beton zu zupfen. Die brö ckeligen Kanten geben einfach nach, und es hat etwas Hypnotisierendes, die Krü mel durch meine Finger gleiten zu lassen. Nicht genug Zement in der Mischung. Der Riss wird immer grö ß er und wird vermutlich jedes Mal, wenn ich zu der Treppe gehe, etwas mehr abgenutzt. An der breitesten Stelle misst er inzwischen zweieinhalb Zentimeter, und als ich mit den Fingerspitzen darü berfahre, spü re ich etwas, das raschelt.

       Ich bin zu lethargisch, um mich groß zu bewegen, und wende darum nur den Kopf, um zu sehen, was das ist. In der Scheune ist es nicht hell genug, aber es fü hlt sich wie ein Stü ck Stoff an. Vermutlich etwas, das in den Mö rtel gelangt ist. Also nur ein weiteres Beispiel fü r Louis’ alles andere als herausragendes handwerkliches Kö nnen.

       Ich verliere das Interesse und wische den Mö rtel von meinen Hä nden. Den Stofffetzen lasse ich, wo er ist. Das hö hlenartige Innere der Scheune riecht streng nach altem Holz und Weingeist. Ich hä tte es nicht fü r mö glich gehalten, nach den Ereignissen dieses Tages irgendwann wieder mü de zu werden, aber die Hitze und die nachlassende Anspannung sind eine gefä hrliche Mischung. Ich lehne den Kopf gegen den Metallkessel und starre in den sonnigen Tag jenseits der Scheunentore. Etwas trifft meinen Fuß, und einen Moment lang glaube ich, wieder in dem Fangeisen zu stecken. Dann verfliegt auch der letzte Rest Mü digkeit, und ich sehe eine verschwommene Gestalt ü ber mir aufragen.

       «Was ist? », keuche ich und kä mpfe mich hoch.

       Ich weiß nicht, ob ich erleichtert bin oder nicht, dass es nur Arnaud ist. Er starrt mich kalt an und hat den Fuß schon halb erhoben, um mich ein zweites Mal zu treten. Lulu wackelt aufgeregt mit dem Schwanz und blickt schuldbewusst und eingeschü chtert zugleich zu ihm hoch.

       «Was tun Sie hier? », will er wissen.

       Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen. «Ich mache Mittagspause. »

       «Es ist schon nach vier. »

       Ich sehe an ihm vorbei. Drauß en hat das Licht sich verä ndert. Ein Dunstschleier hat sich ü ber den Himmel gelegt, der jetzt in einem gleichfö rmigen Weiß erstrahlt. Die Sonne ist nur noch ein formloses, blendendes Licht.

       Aber ich habe keine Lust, mich zu entschuldigen. «Keine Sorge. Das hole ich schon wieder auf. »

       Fast erwarte ich, dass Arnaud dazu eine Bemerkung macht, aber er hö rt mir gar nicht zu. Seiner finsteren Miene nach zu urteilen, ist er in Gedanken ganz woanders.

       «Mathilde sagt, die Gendarmen haben auch mit Ihnen gesprochen. »

       «Einer von den beiden, ja. »

       «Worum ging’s? »

       «Er wollte wissen, was gestern Nacht passiert ist. »

       «Und? »

       «Und was? »

       «Was haben Sie ihm erzä hlt? »

       Ich bin versucht, ihn noch ein bisschen schmoren zu lassen, aber ich bin nicht mit dem Herzen bei der Sache. «Dass es zu dunkel war, um irgendwas zu erkennen. »

       Arnaud mustert prü fend mein Gesicht und versucht zu ergrü nden, ob ich ihn anlü ge. «War das alles, was sie wissen wollten? »

       «Er hat gefragt, was mit meinem Fuß passiert ist. »

       Sein Lä cheln ist bitter. «Dann haben Sie ihm bestimmt von den Fallen erzä hlt, was? »

       «Ich habe gesagt, ich wä re in einen Nagel getreten. »

       «Hat er das geglaubt? »

       Ich zucke mit den Schultern.

       Seine Kiefer mahlen, als mü sse er das erst verdauen. Dann dreht er sich um und geht weg. Bloß nichts Freundliches sagen, denke ich und starre auf seinen Rü cken. Ich will genauso wenig wie Arnaud, dass die Polizei hier herumschnü ffelt, aber ein einfaches Dankeschö n wird ihn ja nicht umbringen. Er ist nur wenige Schritte gegangen, als er stehen bleibt. «Mathilde kocht heute was besonders Gutes», sagt er widerstrebend. «Sie kö nnen mit uns essen. »

       Ehe ich etwas erwidern kann, ist er verschwunden.


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