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LONDON.  KAPITEL 12



LONDON

       «Wer ist Jules? »

       Jez erstarrt mitten in der Bewegung und legt das Schinkensandwich zurü ck auf den Teller. Er wirft mir einen knappen Seitenblick zu.

       «Welcher Jules? »

       Wir sind in dem Café neben der Sprachenschule, die eigentlich nicht mehr ist als eine ü ber einem Versicherungsbü ro gelegene Ansammlung von Unterrichtsrä umen. Das Café ist klein, stinkt nach fettigem Essen und liegt direkt an einer vielbefahrenen Hauptverkehrsstraß e. Aber es ist in Ordnung, wenn man vor dem Unterricht noch ein bisschen reden will, und Jez schert sich nicht um ä sthetische Ansprü che, solange die Snacks billig sind.

       «Chloes Jules. »

       Er tut so, als mü sste er darü ber erst nachdenken. «Ä hm, nein … Ich glaube nicht …»

       Er ist ein erbä rmlicher Lü gner. Insgeheim hatte ich bis jetzt immer noch gehofft, ich kö nnte mich irren. Diese Hoffnung stirbt gerade. «Wer ist er? »

       «Woher soll ich das wissen? »

       «Weil du mit Yasmin zusammenlebst und weil Yasmin Chloes beste Freundin ist. »

       «Du solltest lieber Chloe fragen. »

       «Chloe erzä hlt mir nichts. Komm schon, Jez. »

       Er reibt sich den Nacken und sieht ziemlich unglü cklich aus. «Yasmin hat mir das Versprechen abgenommen, dir nichts zu erzä hlen. »

       «Ich verrate ihr schon nichts. Das ist eine Sache zwischen dir und mir. » Jez sieht nicht besonders ü berzeugt aus. «Bitte. »

       Er seufzt. «Er ist Chloes Exfreund. Ein echtes Arschloch, aber sie hat sich vor Ewigkeiten von ihm getrennt. Das ist also lä ngst Geschichte. »

       Ich schaue auf meinen Kaffeebecher. «Ich glaube, sie trifft ihn wieder. »

       Jez verzieht das Gesicht. «Scheiß e. Tut mir echt leid, Mann. »

       «Weiß Yasmin davon? »

       «Dass Chloe sich wieder mit ihm trifft? Das bezweifle ich. Zumindest hat sie mir gegenü ber nichts davon erwä hnt. Und sie kann Jules auf den Tod nicht ausstehen. »

       Einige Schü ler aus dem Kurs, den ich gleich gebe, gehen drauß en vorbei und winken uns durch das Fenster zu. Ich hebe meine Hand und bin erleichtert, weil sie nicht ins Café kommen.

       «Erzä hl mir, was passiert ist», sage ich.

       Jez spielt unbehaglich mit seinem Becher. «Der Mann ist ein echtes Arschloch. Das Letzte, was ich von ihm gehö rt habe, ist, dass er drü ben in den Docklands ein exklusives Fitnessstudio fü hrt. Bezeichnet sich selbst als Unternehmer. Ein protziger Typ und knallhart, wenn du verstehst, was ich meine. »

       Ich nicke. «Ich bin ihm schon mal begegnet. »

       «Dann brauche ich dir ja nichts zu erzä hlen. Er hat Chloe damals richtig runtergezogen. Sie war fü r ihn eine Trophä e. Du weiß t schon, sieht gut aus, ist Kü nstlerin … Einfach ganz anders als der Typ Frau, mit dem er sich sonst abgibt. Er hat ein paar ihrer Bilder gekauft, so haben sie sich wohl kennengelernt. Aber er war ein richtiger Kontrollfreak. So einer, dem es einen Kick verschafft, jemanden kleinzumachen, verstehst du? Er ist derjenige, der sie auf Kokain gebracht hat, und wegen ihm ist sie von der Kunstschule geflogen. »

       «Sie ist was? »

       Jez ist ziemlich geknickt. «Scheiß e. Ich dachte, das wü sstest du. »

       Fü r mich ist das alles neu. Soweit ich weiß, hat Chloe zusammen mit Yasmin ihren Abschluss gemacht. Und Kokain? Ich habe das Gefü hl, gerade ein Paralleluniversum betreten zu haben.

       «Oh Mann, Yasmin bringt mich um. » Er seufzt und fä hrt sich mit der Hand ü bers Gesicht. «Jules steckte bis zum Hals in der Drogenszene drin. VIP-Lounges, Clubs, Partys. Und bei ihm im Fitnessstudio bekam man nicht nur Steroide, wenn du verstehst, was ich meine. Es gab da so einen groß en Typen, der ihn mit dem Zeug versorgt hat. Ein ü bler Mistkerl, mit dem man sich lieber nicht anlegt. »

       Das klingt nach Lenny. Ich bin wie betä ubt. Jez mustert mich besorgt von der Seite. «Bist du sicher, dass du das alles hö ren willst? »

       «Erzä hl weiter. »

       «Yasmin hat versucht zu helfen, aber Chloe war … Na ja, du kennst sie. Dann hat sie eines Nachts eine Ü berdosis von irgendwelchem Zeug genommen, das Jules ihr angedreht hat. Yas hat sie gefunden und ins Krankenhaus gebracht und anschließ end in eine Entzugsklinik. Sie hat Chloe dazu gebracht, ihre Telefonnummer zu ä ndern, und hat mit ihr zusammengewohnt, bis sie bereit war, wieder allein zu leben. Jules war in nichts von alledem eingeweiht, und das hat ihn ohne Ende aufgeregt. Er hat Yas mit allem Mö glichen gedroht und hat versucht, Chloe zu finden. Aber Yas hat nicht nachgegeben. Und sie hatte recht: Sobald Chloe bei ihm ausgezogen war, kam sie wieder auf die Fü ß e. Sie hat wieder angefangen zu malen und hat dich kennengelernt. » Er zuckt mit den Schultern. «Das ist alles. »

       Es kommt mir vor, als wü rde er ü ber einen anderen Menschen reden. Jetzt verstehe ich auch, warum Yasmin so wü tend war, als Callum bei Chloes Feier mit dem Koks ankam. Warum sie nicht wollte, dass Chloe sich zu viele Hoffnungen bezü glich der Galerie macht. Das Malen war Chloes Halt, eine neue Sucht, die die alte ersetzte. Und die war ihr jetzt auch genommen worden.

       Mein Stuhl kratzt ü ber die Fliesen, als ich aufstehe. «Sean? Wo gehst du hin? Sean! », schreit Jez hinter mir her, als ich das Café verlasse.

       Ich kü mmere mich nicht um ihn. Ich habe das Gefü hl, schon jetzt zu spä t zu kommen, als ich die U-Bahn zurü ck nach Earl’s Court nehme. Chloe ist nicht da, also durchsuche ich systematisch alle Rä ume. Ich werfe ihre Klamotten, Bü cher und DVD-Hü llen auf den Boden. Und dann werde ich unter einem lockeren Dielenbrett im Badezimmer fü ndig. Eine unscheinbare Plastikdose mit luftdichtem Deckel.

       Darin finde ich ein Tü tchen mit weiß em Pulver, eine Rasierklinge und einen Make-up-Spiegel.

       Ich sitze am Kü chentisch, als sie von der Arbeit nach Hause kommt. Sie zö gert, als sie die Plastikdose vor mir stehen sieht. Dann schließ t sie die Wohnungstü r und zieht ihren Mantel aus.

       «Willst du mir irgendwas sagen? », frage ich.

       «Was soll ich denn sagen? »

       «Irgendwas. »

       «Ich bin mü de. Kö nnen wir nicht spä ter darü ber reden? »

       «Wann denn? Wenn du wieder in einer Entzugsklinik bist? »

       Sie seufzt, und ihre Schultern sacken nach unten. «Wer hat dir davon erzä hlt? Yasmin? »

       «Ist doch egal, wer mir davon erzä hlt hat. Warum hast du es mir nicht gesagt? »

       «Das geht dich ü berhaupt nichts an. »

       «Und was ist hiermit? » Ich schiebe die Plastikdose quer ü ber den Tisch in ihre Richtung. «Geht mich das etwa auch nichts an? »

       Sie wendet sich von mir ab und fü llt Wasser in den Kessel. «Ich bin schon ein groß es Mä dchen und kann tun und lassen, was ich will. »

       «Woher hast du das Zeug? »

       «Von jemandem bei der Arbeit. »

       «Von wem? »

       «Was glaubst du denn, von wem? »

       Obwohl ich es vorher gewusst habe, fü hlt es sich an, als hä tte sie mir einen Schlag in die Magengrube versetzt. Ich bringe Jules’ Namen nicht ü ber die Lippen. «Um Himmels willen, Chloe! Warum tust du das? »

       «Warum? » Sie knallt den Wasserkessel auf die Herdplatte. «Weil ich es nicht ertrage, mich stä ndig so scheiß e zu fü hlen! Weil ich es hasse, so ein verdammter Versager zu sein! Und ich bin es leid, immer so zu tun, als wä re ich kein Versager! Was machen wir denn ü berhaupt hier? Ich arbeite in einer Bar, und du schaffst es nicht mal, die wirkliche Welt zu ertragen! »

       «Wovon redest du, um Himmels willen? »

       «Du weiß t es nicht mal, kann das sein? Du glaubst, Filme gucken ist das wahre Leben! Du machst nicht mal deine eigenen Filme, du schaust dir nur die anderer Leute an! Die Filme der anderen, die Leben der anderen, mehr hast du nicht! Himmel, du schwä rmst von franzö sischen Filmen und diesem verfickten Frankreich, aber du fä hrst nie einfach mal dorthin! Wann bist du ü berhaupt das letzte Mal dort gewesen? »

       Ich werfe die Plastikbox auf den Boden und springe auf. Mit zwei Schritten bin ich bei ihr, und hinter meinen Augen pocht das Blut schmerzhaft.

       «Na los, komm schon! », schreit sie. «Tu doch wenigstens einmal in deinem Leben irgendwas! »

       Aber ich bin schon an ihr vorbei. Ich laufe wie blind aus der Wohnung und lasse Chloes haltloses Schluchzen hinter mir zurü ck.


[zur Inhaltsü bersicht]


 KAPITEL 12

       «Mir ist langweilig. »

       Gretchen wirft die Ü berreste der kleinen gelben Blume zur Seite, der sie nach und nach die Blü tenblä tter ausgerupft hat. Ich versuche, nicht zu seufzen.

       «Na komm, versuch es noch mal. » Ich halte meine Gabel hoch. «Wie lautet das englische Wort hierfü r? »

       «Ich weiß es nicht. »

       «Doch, das weiß t du. Wir haben das schon mal gehabt. »

       Sie schaut nicht mal auf. «Knife. »

       Ich lege die Gabel wieder auf meinen Teller. Meine Versuche, Gretchen in Englisch zu unterrichten, sind bislang erfolglos geblieben. Allerdings ist meine Begeisterung fü r diese Aufgabe auch nicht besonders groß. Ein Gesprä ch mit Arnauds jü ngerer Tochter kann im besten Fall schwierig sein, und wenn ich sie zu sehr bedrä nge, zieht sie sich in sich zurü ck und schmollt. Trotzdem. Ich habe Mathilde versprochen, es zumindest zu versuchen.

           

       Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, sie heute zu unterrichten. Ich bin in der Scheune nach unten gegangen, um mich zu waschen, bevor ich mein Mittagessen vom Haus hole. Den ganzen Morgen habe ich ü ber das nachgedacht, was gestern im Badezimmer passiert war und ob ich mir die Spannung zwischen Mathilde und mir bloß eingebildet habe. Ich habe mich schon gefragt, ob sie heute irgendwie anders auf mich reagieren wird, aber bisher hatte ich noch keine Gelegenheit, das herauszufinden. Mein Frü hstü ck wurde auf den Stufen zum Dachboden abgestellt, und Mathilde war auch nicht in der Kü che, als ich spä ter mein Geschirr zurü ckbrachte. Ich hatte gehofft, sie wenigstens zu treffen, wenn ich mein Mittagessen hole.

       Aber als ich aus der Scheune komme, taucht Gretchen mit einem Teller Essen auf. Mathilde habe ihr aufgetragen, es mir zu bringen, erklä rt sie mir mit einem verschlagenen Lä cheln. Damit weiß ich, dass jede Hoffnung auf ein friedliches Mittagessen vergebens ist.

       Sie liegt auf dem Bauch und baumelt trä ge mit den Beinen, wä hrend sie die nä chste Blume zwischen den ü berwucherten Pflastersteinen pflü ckt. Sie trä gt eine gelbe, ä rmellose Bluse und die ausgewaschene, abgeschnittene Jeans. Ihre Beine sind lang und gebrä unt, und die pinken Flipflops baumeln von ihren dreckigen Fü ß en. Ich male mit dem Finger einen Kreis in den Staub und fü ge von der Mitte ausgehend zwei Striche hinzu, die auf neun und zwö lf Uhr zeigen.

       «Welche Uhrzeit ist das? »

       «Langweilig o’clock. »

       «Du hast es ja nicht mal versucht. »

       «Wieso auch? Das ist ö de. »

       «Versuch es doch wenigstens. » Mir wird bewusst, dass ich genauso klinge wie die Lehrer, die ich frü her immer gehasst habe. Gretchen bringt wirklich meine schlimmsten Seiten zum Vorschein.

       Sie wirft mir einen bockigen Blick zu. «Warum denn? Ich werde eh nie nach England fahren. »

       «Vielleicht ja doch. »

       «Wieso? Nehmen Sie mich etwa mit? »

       Allein der Gedanke an meine Rü ckkehr fü hrt dazu, dass sich in meiner Brust etwas schmerzhaft zusammenzieht. «Ich glaube, das wird deinem Vater kaum gefallen. »

       Die Erwä hnung von Arnaud ernü chtert sie wie immer. «Gut. Ich will auch gar nicht von hier weg. »

       «Vielleicht nicht. Aber es kann nicht schaden zu lernen. Du hast doch nicht vor, dein ganzes Leben auf der Farm zu bleiben, oder? »

       «Warum denn nicht? » Ihre Stimme klingt alarmiert.

       «Na ja, nur so, willst du nicht irgendwann wegziehen und heiraten? »

       «Woher wissen Sie, was ich will? Und wenn ich schon heirate, wird es bestimmt nicht so ein dahergelaufener Englä nder sein. Wieso soll ich also ü berhaupt diese doofe Sprache lernen? Es gibt genug Jungs hier in der Gegend, die mich liebend gern heiraten wü rden. »

       «Okay. Ich dachte nur, du wü rdest dich langweilen. »

       «Tu ich ja auch. » Sie stü tzt sich auf einen Ellenbogen und wirft mir einen Blick zu. «Ich kö nnte mir aber was Besseres vorstellen, um die Langeweile zu vertreiben. »

       Ich beschä ftige mich mit dem Essen und tue so, als hä tte ich sie nicht gehö rt. Heute gibt es eine dicke Scheibe Brot und eine Schü ssel Cassoulet, mit weiß en Bohnen und Wü rstchen, die fast schwarz sind und kleine weiß e Fettflecken haben. Gretchen verzieht das Gesicht, als ich ein Stü ck davon mit der Gabel hochnehme.

       «Ich verstehe nicht, wie Sie das Zeug essen kö nnen. »

       «Was stimmt nicht damit? »

       «Nichts stimmt nicht damit. Ich mag einfach keine Blutwurst. »

       «Blutwurst? »

       Sie grinst, als sie meinen Gesichtsausdruck sieht. «Wussten Sie das nicht? »

       Nein, wusste ich nicht. Ich schaue auf das dunkle Fleisch und die weiß en Stippen. Ich erinnere mich wieder an das betä ubte Schwein, das an den Hinterlä ufen von der Decke hä ngt, als Georges ihm sein Messer in die Kehle rammt. Da ist wieder das Blut, das in die Metallwanne spritzt. Und dahinter lauern andere Erinnerungen, die genauso unwillkommen sind.

       Ich lege die Wurst zurü ck auf den Teller und stelle ihn beiseite.

       «Habe ich Ihnen den Appetit verdorben? », fragt Gretchen.

       «Ich hab keinen Hunger. »

       Ich trinke einen Schluck Wasser, um den Geschmack loszuwerden. Auf meinem Arm kitzelt mich etwas. Eine Ameise hat sich auf meiner Haut auf Entdeckungsreise begeben. Ich wische sie ab und entdecke Dutzende, die im Gras herumwimmeln und Brotkrumen in ein zwischen den Pflastersteinen gelegenes Erdloch schleppen.

       Gretchen reckt den Hals, weil sie sehen will, was da meine Aufmerksamkeit fesselt. «Was ist das? »

       «Nur Ameisen. »

       Sie schiebt sich nä her heran, um sich die Sache genauer anzusehen. Dann nimmt sie eine Handvoll Erde und beginnt, sie ü ber die Ameisen zu streuen. Die Tiere laufen wild im Kreis, ihre Fü hler wackeln in alle Richtungen, ehe sie eine neue Straß e bilden, die das Hindernis umgeht.

       «Tu das nicht. »

       «Warum? Sind doch nur Ameisen. »

       Sie verfolgt die Insekten mit der Erde. Ich wende den Kopf ab, weil ihre beilä ufige Grausamkeit mich ä rgert. Das ist vermutlich der Grund, dass ich nun das sage, was ich sage.

       «Wer war der Geschä ftspartner deines Vaters? »

       Gretchen lä sst weiter Erde aus ihrer Hand rinnen und auf die Ameisen fallen. «Papa hatte nie einen Geschä ftspartner. »

       «Er meint, da gab’s mal jemanden. Einen, der ihm mit den Statuen geholfen hat. »

       «Louis hat fü r uns gearbeitet, er war aber nicht Papas Partner. »

       Den Namen hö re ich zum ersten Mal. «Okay. Aber er ist Michels Vater, oder? »

       «Was hat das denn mit Ihnen zu tun? »

       «Nichts. Vergiss es. »

       Gretchen nimmt noch eine Handvoll Erde und lä sst sie auf das Loch der Ameisenhö hle rieseln. «Das war Mathildes Schuld. »

       «Was denn? »

       «Alles. Sie wurde schwanger und hat einen riesigen Aufstand gemacht, und deshalb ist Louis verschwunden. Er wä re noch hier, wenn sie nicht so blö d gewesen wä re. »

       «Ich dachte, du hast gesagt, er hä tte euch alle im Stich gelassen? »

       «Das hat er, aber seine Schuld war das nicht. » Sie zuckt mit den Schultern. Ihr Blick geht in weite Ferne. «Er hat richtig gut ausgesehen. Und man konnte mit ihm viel Spaß haben. Er hat Georges immer aufgezogen, hat ihn gefragt, ob er mit einer der Muttersauen verheiratet ist und so. »

       «Klingt lustig. »

       Gretchen nimmt die Bemerkung fü r bare Mü nze. «Das war er! Einmal hat er ein Ferkel aus dem Pferch geholt und es mit seinem alten Taschentuch gewindelt. Georges war richtig wü tend, als er das rausfand, Louis hat das Ferkel nä mlich fallen gelassen, und es hat sich dabei ein Bein gebrochen. Er wollte es eigentlich Papa beichten, aber Mathilde hat ihn ü berredet zu behaupten, es wä re ein Unfall gewesen. Sonst wä re Papa nur wü tend geworden. Und die Sanglochons gehö ren Georges ohnehin nicht, also soll er nicht so einen Aufstand machen. »

       «Was wurde aus dem Ferkel? »

       «Georges musste es schlachten. Aber wir haben noch gutes Geld dafü r gekriegt. »

       Je mehr ich ü ber diesen Louis hö re, umso weniger mag ich ihn. Ich kann mir nicht vorstellen, wie Mathilde sich mit einem wie ihm abgibt, aber sobald ich das nur denke, merke ich selbst, wie albern das ist. Es ist ja nicht so, als wü rde ich sie wirklich kennen.

       «Und wo ist Louis jetzt? »

       «Ich hab Ihnen doch schon gesagt, Mathilde hat ihn fortgeschickt. »

       «Aber er lebt noch in der Stadt? »

       Gretchens Miene verhä rtet sich. Jetzt sieht sie ganz wie die Tochter ihres Vaters aus. Sie wirft den Rest Erde einfach auf die Ameisen. «Wieso interessiert Sie das ü berhaupt? »

       «Ich habe mich nur gefragt, ob Mathilde …»

       «Jetzt hö ren Sie schon mit Mathilde auf! Warum stellen Sie mir immer Fragen ü ber sie? »

       «Ich stelle gar keine …»

       «Doch, tun Sie! Mathilde, Mathilde, Mathilde! Ich hasse sie! Sie verdirbt alles! Sie ist nur eifersü chtig auf mich, weil sie schon alt und schlaff ist, und sie weiß ganz genau, dass die Mä nner mich lieber wollen als sie! »

       Ich hebe die Hä nde und versuche, sie zu beruhigen. «Okay, komm mal runter. »

       Gretchen ist aber weit davon entfernt runterzukommen. Die Haut um ihre Nase ist jetzt weiß. «Sie wollen sie ficken, ist es das? Oder ficken Sie sie schon? »

       Die Sache gerä t auß er Kontrolle. Ich stehe auf.

       «Wo gehen Sie hin? »

       «Wieder an die Arbeit. »

       «Um Mathilde zu sehen, meinen Sie? » Ich antworte nicht, sondern bü cke mich und will den Teller aufheben. Aber sie schlä gt ihn mir aus der Hand. «Hö ren Sie schon auf, mich zu ignorieren! Ich sagte, ignorieren Sie mich nicht! »

       Sie greift nach der Gabel und holt damit aus. Ich zucke zurü ck, aber die Zinken bleiben an meinem Arm hä ngen und reiß en mir die Haut auf.

       «Himmel …! » Sofort entreiß e ich ihr die Gabel und werfe sie fort. Dunkles Blut quillt aus meinem Arm, und ich presse die Hand drauf und starre sie an. Gretchen blinzelt, als wä re sie gerade erst aufgewacht.

       «Es tut mir leid. Ich … ich …»

       Mein Arm beginnt zu pochen, aber ich bin eher schockiert als alles andere. «Du gehst jetzt besser. » Meine Stimme zittert.

       «Ich hab doch gesagt, dass es mir leidtut. »

       Ich traue mir nicht zu, vernü nftig zu bleiben, wenn ich jetzt den Mund aufmache, also sage ich nichts. Nach kurzem Schweigen sammelt Gretchen zerknirscht den Teller und das Besteck ein. Die Haare hä ngen ihr dabei ins Gesicht. Ohne ein Wort nimmt sie die Sachen mit und verschwindet um die Ecke der Scheune.

       Ich bleibe, wo ich bin, und warte, bis mein Herzschlag sich normalisiert hat. Die Gabel hat vier parallele Schnitte in meinem Oberarm hinterlassen. Es blutet, aber die Schnitte sind nicht besonders tief. Ich drü cke wieder meine Hand darauf. Zu meinen Fü ß en schwä rmen die Ameisen aus und entwickeln eine geradezu wahnhafte Aktivitä t, um die Essensreste in Sicherheit zu bringen. Die paar, die Gretchen umgebracht hat, sind schon wieder vergessen. Das Einzige, was zä hlt, ist das eigene Ü berleben.

       Ich ü berlasse sie ihrem Festmahl und gehe in die Scheune, um meinen Arm zu reinigen.

           

       Der Sonnenuntergang ist spektakulä r. Die Libellen, Bienen und Wespen, die im Laufe des Tages ü ber dem See patrouillieren, haben den Schnaken und Moskitos weichen mü ssen. Ich sitze mit dem Rü cken an die Kastanie gelehnt und blase Zigarettenrauch in die Luft. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass Insekten Zigarettenrauch nicht mö gen, aber diese hier scheinen das nicht zu wissen. Ich hab schon die ersten Stiche abbekommen, aber die werde ich wohl erst morgen frü h so richtig merken. Und was morgen kommt, kü mmert mich gerade ü berhaupt nicht.

       Ich habe Mathildes Buch mit nach drauß en genommen. Madame Bovary liegt neben mir. Ich habe das Buch nicht mal aufgeklappt, sondern beobachte lieber, wie die letzten Sonnenstrahlen die Oberflä che des Sees in einen dunklen Spiegel verwandeln.

       Die Wunde von der Gabel ist gar nicht so schlimm. Ich habe sie unter dem Wasserhahn ausgewaschen, und das kalte Wasser hat das bisschen Blut vollstä ndig entfernt. Es lief in rosa Bä chen ü ber die Pflastersteine und versickerte in dem breiten Riss im Beton. Noch eine Hinterlassenschaft meines Vorgä ngers. Ich habe Mathilde erzä hlt, ich hä tte mir die Verletzung auf dem Gerü st zugezogen, und bat sie um ein bisschen Verbandmull und Pflaster. Ich fand es besser, mich selbst zu versorgen, statt ihr erklä ren zu mü ssen, woher diese vier Schnitte in gleichmä ß igem Abstand kamen.

       Deine Schwester hat auf mich eingestochen, weil du mit Michels Vater Schluss gemacht hast. Den sie ü brigens auch ein bisschen lieber hatte, als fü r eine kleine Schwester schicklich ist.

       Nein, das Gesprä ch will ich vermeiden. Wenn Gretchen aber in Louis verknallt gewesen ist, wü rde das einen Teil der Spannungen erklä ren, die zwischen Mathilde und ihr existierten. Und vielleicht war es ja mehr als ein bisschen Verknalltsein, ü berlege ich, weil ich mich wieder an die grobe Zeichnung erinnere, die ich in seinem Notizbuch gefunden habe. Die nackte Frau hä tte jede von den beiden sein kö nnen, und Louis klingt fü r mich nicht nach einem Mann, der Bedenken hä tte, mit beiden Schwestern zu schlafen.

       Wer ist hier wohl eifersü chtig?

       Die Kastanie hä ngt mit stacheligen Kugeln voll. Sie sind noch nicht ganz ausgewachsen, aber eine von ihnen ist vor der Zeit vom Baum gefallen und liegt neben mir im Gras. Ich hebe sie auf und spü re die Stacheln in meiner Handflä che. Inzwischen ist die Sonne hinter den Bä umen versunken, und ein dä mmriges Zwielicht hat sich ü ber den See gelegt. Ich stehe auf und stelle mich an den Felsvorsprung. Die Kastanie platscht leise ins Wasser, als ich sie werfe. Wie eine Miniaturgranate schwimmt sie auf dem Wasser und hü pft ü ber dem dunklen Schatten auf und ab, wo der Unterwasserfelsen auf unvorsichtige Schwimmer lauert.

       Ruhelos gehe ich von dem Felsvorsprung nach unten, direkt an das Ufer des Sees. So weit bin ich noch nie gegangen. Jetzt allerdings reizt mich der Gedanke, die Grenzen des Anwesens abzulaufen.

       Der Weg endet an dem Felsvorsprung, und ein Stü ck weiter reicht der Wald sogar bis ans Seeufer. Ich wä hle den Weg, der zum gegenü berliegenden Seeufer fü hrt. Ein Stü ck dahinter erreiche ich das Ende des Grundstü cks. Rostiger Stacheldraht ist um die Bä ume gewickelt und in die Rinde genagelt. Es gibt auf der anderen Seite nicht viel zu sehen auß er Getreidefeldern. Hier gibt es auch keinen Feldweg mehr, und wenn es einen Grund fü r den Stacheldraht gibt, erschließ t er sich mir nicht. Das Getreide wird wohl kaum unbefugt das Grundstü ck betreten. Aber darum geht auch nicht.

       Arnaud markiert sein Territorium.

       Wenn es dafü r noch eines Beweises bedarf, bekomme ich den wenige Minuten spä ter. Ich folge nä mlich dem Zaun und bemerke erst in letzter Sekunde eine eckige Form, die in einem Grasbü schel versteckt liegt. Eine von Arnauds Fallen, die beiden Bü gel klaffen weit auf und warten auf Beute. Ich hä tte nicht gedacht, dass er sich die Mü he gemacht hat, die Dinger bis hier runter zu schleppen. Offensichtlich ü berlä sst er nichts dem Zufall. Ich ü brigens auch nicht. Ich schaue mich nach einem Stock um und stecke ihn zwischen die Bü gel des Treteisens. Sie schnappen so fest zu, dass das Holz splittert.

       Der Gedanke, dass noch mehr von den Dingern hier versteckt sein kö nnten, erstickt den Wunsch, die Gegend zu erkunden, im Keim. Im nachlassenden Licht benutze ich meinen Gehstock, um vor mir nach weiteren Fallen zu tasten, als ich zurü ck zum See gehe. Ich komme auf der dem Felsvorsprung gegenü berliegenden Seite aus dem Wald und stehe einen Moment lang einfach nur da und genieß e den Anblick aus dieser neuen Perspektive. Die Ufer des Sees sind mit Schilf und Rohrkolben ü berwuchert, aber von hier aus kann ich eine kleine, seichte Kiesbucht sehen, die hinter einem Grashü gel verborgen liegt. Ich gehe hinü ber, und unter meinen Schuhen knirscht der Kies. Ich hocke mich hin und halte meine Hand ins Wasser, das eisig ist. Dort, wo meine Finger den Grund berü hren, steigt in einem Wirbel Sediment auf.

       Das wä re ein guter Platz zum Schwimmen, ü berlege ich. Der Groß teil des Seeufers ist matschig, aber von hier aus kö nnte man gut hineingehen. Ich lasse die Finger durchs Wasser gleiten, und die aufgewü hlte Oberflä che schimmert silbrig. Die Luft ist noch mit der Hitze des Tages aufgeladen, und ich stelle mir vor, wie ich mich ausziehe, mich in die kalte Tiefe stü rze und in der Mitte des Sees einfach treiben lasse. Der Gedanke ist verlockend, schade, dass mein Fuß verbunden ist. Aber die Fä den kö nnen ja bald gezogen werden, und dann wird mich nichts davon abhalten, hier schwimmen zu gehen.

       Wenn ich dann noch hier bin.

       Ich stehe auf und schü ttle das Wasser von der Hand. Winzige Wellen tanzen ü ber die Wasseroberflä che. Ein bleicher Mond ist aufgegangen, als ich zurü ck zum Felsvorsprung gehe, um Mathildes Buch zu holen. Dann mache ich mich durch den Wald auf den Rü ckweg. Die Sanglochons sind heute Nacht still und die Statuen so stumm wie immer. Es ist nur meine gedrü ckte Stimmung, die sie aufmerksam und finster wirken lä sst. Trotzdem bin ich einfach froh, als ich aus dem Wald trete.

       Der Weg zurü ck durch den Weingarten scheint lä nger zu dauern als sonst. Die Sterne sehen wie Staub aus, der ü ber den Nachthimmel gestreut wurde. Als ich die Scheune erreiche, habe ich keine Lust, mich schon in die stickige Hitze des Dachbodens zu begeben, und lungere noch ein bisschen herum. Gerade ü berlege ich, ob ich mir noch eine von Arnauds Flaschen Wein zu Gemü te fü hren soll, als das Splittern von Glas vom Haus herü berdringt.

       Ein zweites Bersten folgt. Schreie und hysterisches Gelä chter kommen hinzu, und ich renne zum Innenhof. Als ich dort ankomme, wird die Kü chentü r aufgestoß en, und Arnaud stü rmt heraus. Er hat das Gewehr in der Hand, und ich bleibe wie erstarrt stehen, weil ich ü berzeugt bin, dass er auf jede Bewegung, die er in der Dunkelheit ausmachen kann, schieß en wird.

       «Nein, tu’s nicht! »

       Mathilde kommt hinter ihm her. Er ignoriert sie und steuert den Feldweg an, der zur Straß e fü hrt. Wilde Schreie folgen dem nä chsten Bersten von Glas. Erst jetzt realisiere ich, dass da Fensterscheiben zu Bruch gehen. Mathilde versucht, Arnaud zurü ckzuhalten, aber er schü ttelt sie einfach ab, und dann sind beide auß er Sichtweite. Ich eile ü ber den Hof, als Gretchen in der Tü r auftaucht. Sie hä lt Michel auf dem Arm, und ihr Gesicht ist bleich und verä ngstigt.

       «Bleib hier», befehle ich ihr.

       Ohne abzuwarten, ob sie gehorcht, laufe ich hinter Mathilde und Arnaud her. Ich ü berquere den gepflasterten Hof in einem humpelnden Hopserlauf. Die Schreie kommen aus dem dunklen Wald hinter dem Haus. Mehrere Stimmen sind zu hö ren, die hö hnen und einander anfeuern, und jetzt kann ich zumindest verstehen, was sie sagen.

       «Hier, Schweinchen! Schick uns deine Tö chter raus, Arnaud! »

       «Hier ist eins von deinen kleinen Schweinchen, komm und sag hallo! »

       Dann folgt ein Grunzen und Quieken und schrilles Gelä chter. Vor mir kann ich die dunklen Gestalten von Arnaud und Mathilde sehen, die sich von dem blassen Feldweg abheben. Mathilde hat Arnauds Arm gepackt und versucht, ihn wegzuziehen.

       «Lass! Lass sie in Ruhe, dann verschwinden sie von selbst! »

       «Geh zurü ck ins Haus! » Er stö ß t sie weg, und mit derselben Bewegung bringt er sein Gewehr in Anschlag und feuert. Seine Gesichtszü ge werden kurz beleuchtet, als der Schuss losgeht, und das Gegrö le verstummt abrupt. Fluchen und entsetzte Schreie ertö nen, dicht gefolgt von Krachen im Unterholz. Arnaud zielt mit dem langen Lauf in die Schwä rze des Walds und schieß t wieder und wieder. Er drü ckt den Bolzen so schnell hintereinander, dass die Munition beim Durchladen fast auf die vorangehende Patrone trifft. Erst als der Tumult sich legt, lä sst er das Gewehr beinahe widerstrebend sinken.

       In der Ferne heult ein Motor auf und verschwindet schnell in der Ferne. Stille legt sich wie eine Decke ü ber die Nacht.

       Arnaud bewegt sich nicht. Mathilde steht mit dem Rü cken zu ihm und hat die Hä nde ü ber die Ohren gelegt. Zwei Gestalten, die in der Dunkelheit genauso wenig menschliche Zü ge haben wie die Bä ume. Sie bleibt stocksteif stehen, als Arnaud sich endlich zum Haus umwendet. Seine Schritte knirschen auf dem Feldweg, und er geht an mir vorbei, als wä re ich gar nicht da. Ich bleibe abwartend stehen und beobachte Mathilde. Schließ lich lä sst sie die Arme sinken. Ich hö re ein leises Schniefen. Eine Hand geht zu ihrem Gesicht und macht eine wischende Bewegung. Langsam kommt sie nä her.

       «Geht es dir gut? », frage ich.

       Meine Stimme lä sst sie zusammenzucken. Jetzt erkenne ich ihr Gesicht, das, blass und verä ngstigt, von den dunklen Haaren umrahmt wird. Sie nickt. Mit gesenktem Kopf geht sie an mir vorbei. So dicht, dass sie mich fast streift. Sie verschwindet um die Hausecke, und einen Augenblick spä ter hö re ich das leise Klicken, als die Kü chentü r ins Schloss gezogen wird.

       Ich bleibe auf dem Feldweg stehen und schaue zu dem Wald, der jetzt wieder ruhig daliegt. Mein Herz rast. Langsam kehrt das Zirpen der Grillen zurü ck.

       Von ihrem Lied begleitet, gehe ich zur Scheune.




  

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