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LONDON.  KAPITEL 10



LONDON

       Bald nach Chloes nä chtlicher Abwesenheit ist alles wieder fast normal. Es bleibt die Tatsache, dass sie verschwunden war, aber wir vermeiden es beide, den anderen damit zu konfrontieren. Ich habe beschlossen, das als Wahrheit zu akzeptieren, was sie mir erzä hlt hat. Es ist also nichts passiert. Und Chloe scheint sich Mü he zu geben, ihren kleinen Fehltritt hinter sich zu lassen. Wenn ich nicht darü ber nachdenke, kann ich mir sogar einreden, zwischen uns hä tte sich nichts verä ndert.

       Aber das stimmt nicht.

       Ich habe wieder begonnen, manchmal nach der Arbeit in die Bar zu gehen. Niemand von uns spricht aus, was ich damit andeute – dass ich ihr nä mlich nicht lä nger vertraue. Es ist einfach Teil des unausgesprochenen Handels, den wir eingegangen sind.

       Eines Abends, als ich in die Bar komme, steht sie mit einem Mann am Tresen. Eigentlich steht nur sie, und er sitzt auf einem Barhocker, und ich denke auch zuerst, dass es sich um einen Gast handelt. Dann aber merke ich, wie sich die beiden einander zuwenden, und sehe den dü steren Blick Chloes, wä hrend sie dem lauscht, was er zu sagen hat. Ich bleibe stehen, um mich zu wappnen. Erst dann gehe ich zu ihnen.

       Chloe blickt auf und sieht mich nä her kommen. Ihre Augen weiten sich, und ich weiß nicht, ob das Erschrecken oder Besorgnis ist. Der Mann schaut sich ebenfalls um, aber ihn bemerke ich gar nicht. Ich zwinge meinen Mund zu einem Lä cheln.

       «Hi. Wollen wir los? »

       Chloes Gesicht spiegelt ihre Nervositä t wider. «Du kommst frü h. »

       Ihre Blicke huschen zu dem Mann. Er hat mich die ganze Zeit angestarrt, und jetzt wende ich mich ihm zu. Chloe wird noch aufgeregter.

       «Sean, das ist … das ist Jules. »

       «Hallo, Sean», sagt er.

       Er muss um die dreiß ig sein. Gut aussehend, mit Dreitagebart und einem im Fitnessstudio gestä hlten Kö rper, mit dem er vermutlich die fast weiblich wirkenden langen Wimpern kompensieren will. Die Lederjacke und die sorgfä ltig zerfetzte Jeans sehen zu teuer aus, um den Geruch der Straß e zu verströ men, den er damit wohl bezweckt.

       Ich weiß sofort, wer er ist. Er beobachtet mich mit einem verschlagenen und herablassenden Grinsen, als wü sste er auch, wer ich bin.

       Ich wende mich an Chloe. «Wie lange brauchst du noch? »

       Sie kann mich nicht ansehen. «Zehn Minuten. »

       Mit gesenktem Kopf geht sie los, um einen Gast zu bedienen. Ich kann spü ren, wie der Mann, den sie Jules nennt, mich beobachtet. In diesem Moment wü nsche ich mir, nicht mit dem Rauchen aufgehö rt zu haben, denn dann kö nnte ich jetzt wenigstens meine Hä nde beschä ftigen.

       «Sie sind also Lehrer», sagt er.

       «Im Moment schon. » Ich hasse die Vorstellung, wie Chloe mit ihm ü ber mich spricht.

       Er lä chelt in seinen Wodka. «Im Moment, ja? Klingt fü r mich, als hä tten Sie Groß es vor. »

       Ich antworte nicht. Er sitzt lä ssig auf dem Barhocker und lä sst die teure Jacke und seine Klamotten fü r sich sprechen. Ich frage ihn nicht, was er macht – es interessiert mich einfach nicht.

       «Sie und Chloe also», sagt er.

       «Was ist mit uns? »

       «Nichts. » Er scheint sich prä chtig zu amü sieren. Ich glaube allmä hlich, er kö nnte betrunken sein. «Ich habe gehö rt, Sie sind vor einer Weile einem Freund ü ber den Weg gelaufen. »

       «Das wä re mir neu. »

       «Ein Typ namens Lenny. »

       Der Name sagt mir nichts. Und dann fä llt es mir wieder ein. Der gewalttä tige Kerl, der uns in jener Nacht auf der Straß e angehalten hatte. Chloe hatte ihn Lenny genannt.

       Jules rutscht vom Barhocker. «Ich muss los. Sagen Sie Chloe, ich melde mich. »

       Ich traue mir nicht zu, darauf angemessen zu antworten, also sage ich nichts. Als Chloe mit der Arbeit fertig ist, gehen wir nach drauß en und die Straß e entlang. Ich hoffe, sie wird den Anfang machen, aber das tut sie nicht. Sie sagt kein Wort.

       «Wer war das? », frage ich schließ lich.

       «Wer? »

       «Jules. »

       «Ach, nur ein Gast. »

       Ich bleibe stehen. Chloe geht ein paar Schritte weiter, ihre hohen Absä tze klappern auf dem Bü rgersteig. Dann merkt sie, dass ich ihr nicht mehr folge, und dreht sich um. Zum ersten Mal, seit ich in die Bar gekommen bin, sieht sie mich an.

       «Tu das nicht, Chloe. »

       «Was soll ich nicht tun? »

       «Mich wie einen Idiot behandeln. Das war er, richtig? »

       «Wenn du das schon weiß t, wieso fragst du dann? »

       «Was hat er gewollt? »

       «Nichts. »

       «Und wieso war er dann da? »

       «Er wollte nur was trinken. Das tun Leute in einer Bar nun mal. »

       «Triffst du dich wieder mit ihm? »

       «Nein! Ich kann doch nix dafü r, wer in die verfickte Bar kommt, oder? »

       Sie lä uft vor mir weg, und ich hole sie wieder ein und stelle mich ihr in den Weg. Unser Atem steigt in Wö lkchen unter der Straß enlaterne auf.

       «Chloe …» Die Worte bleiben mir im Hals stecken. «Was ist denn los? Warum bist du so? »

       «Es gibt nichts, worü ber wir reden mü ssten. »

       «Und wieso verhä ltst du dich immer so? »

       «Ich verhalte mich nicht so. Himmel, hö r auf damit. Ich gehö re dir nicht! »

       «Mir gehö ren? Ich habe ja langsam das Gefü hl, dich nicht mal zu kennen! »

       «Vielleicht tust du das auch nicht! »

       Ihre Augen funkeln mich wü tend an. Ich bin wie betä ubt, aber genauso wü tend. «Okay, weiß t du was? Vergiss es. Ich packe meine Sachen und ziehe aus. »

       Diesmal wende ich mich ab und gehe. Ich komme nicht weit, als ich ihre Schritte hinter mir hö re. «Sean! »

       Ich drehe mich um. Sie schlingt die Arme um mich und legt den Kopf an meine Brust. «Geh nicht. »

       Meine Erleichterung ist so groß, dass es mir Angst einjagt. «Ich halte das nicht aus, wenn du dich mit einem anderen triffst. Wenn du das tust, sag es mir. Jetzt. Aber hö r auf, mit mir zu spielen. »

       «Das tue ich nicht», flü stert sie. «Es tut mir leid. Ich verspreche dir, das tue ich nicht. »

       Ihr Kö rper drü ckt sich gegen meinen, und das fü hlt sich warm und richtig an. Ich starre ü ber ihren Kopf hinweg auf die Kette aus gelben Straß enlichtern, die die Straß e sä umen. Die eisige Luft trä gt einen scharfen Gestank vom Fluss herü ber. Ich streichle Chloes Rü cken, der mir so vertraut ist, und mir wird eiskalt. Ich bin ü berzeugt, dass sie mich anlü gt.


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 KAPITEL 10

       «Ich brauche Zement. »

       Mathilde schaut von dem Blumenbeet zu mir auf. Die Kü che war leer, als ich mein Frü hstü ckstablett zurü ckbrachte, weshalb ich vermutete, sie im Gemü segarten zu finden. Neben ihr steht eine Plastikschü ssel mit gepflü ckten Bohnen, aber im Moment kniet sie vor dem Blumenbeet. Sie beugt sich wieder hinunter und zupft das Unkraut, das zwischen den Blumen aufgegangen ist.

       «Gibt es nicht noch anderes fü r dich zu tun? »

       «Irgendwie nicht. Ich habe so viel Mö rtel rausgehackt, wie ich konnte, und ich will nicht woanders weitermachen, solange ich nicht neu verfugt habe. »

       Die Arbeit ist mir in der vergangenen Woche leicht von der Hand gegangen. Aber ich habe so viele lose Steine aus der Mauer genommen, dass das obere Stockwerk des Hauses aussieht, als wü rde es im nä chsten Augenblick zusammenfallen. Ich hoffe, dass es nur oberflä chlich so aussieht. Diese Lü cken waren notwendig, wenn ich die Wand richtig sanieren will. Aber ich will sie lieber nicht zu lange so lassen.

       Ich habe schon seit ein paar Tagen gewusst, dass dieser Moment kommt, aber ich habe das Gesprä ch mit Mathilde aufgeschoben. Nach dem, was ich bei der Tankstelle miterlebt habe, lege ich nicht besonders viel Wert darauf, mich wieder auß erhalb des Hofs zu bewegen. Und ich bezweifle, dass es ihr anders geht.

       Aber was sie auch empfinden mag, sie behä lt es fü r sich. Sie zupft ein Unkraut aus der Erde. «Wo willst du hinfahren? »

       Das war leichter als erwartet. Ich zucke mit den Schultern. «Ich muss erst eine Liste schreiben, was ich brauche. Aber das wird nicht allzu lange dauern. »

       Sie schaut nicht von ihrem Blumenbeet hoch. «Komm einfach zum Haus, wenn du damit fertig bist. »

       Jetzt erst merke ich, dass ich insgeheim gehofft habe, sie werde eine Entschuldigung finden, nicht in die Stadt zu fahren. Aber es gibt nichts mehr zu sagen. Ich ü berlasse sie ihrem Unkraut und humple wieder in den Innenhof. Dabei stü tze ich mich auf den alten Wanderstab, den Mathilde mir gegeben hat, um die Krü cke zu ersetzen, die der Keiler verspeist hat. Das dunkle Holz hat Bissspuren, wo einer von Lulus Vorgä ngern darauf herumgekaut hat, aber der Stock ist dick und massiv und hat silberne Ringbeschlä ge und eine passende Verzierung am Griff.

       Ich sehe wie ein richtiger Dandy aus.

       Meine Nervositä t versuche ich auszublenden, als ich die Tü r zur Abstellkammer ö ffne, weil ich nachsehen will, was ich brauche. Zement auf jeden Fall, aber Sand scheint noch genug da zu sein. Einen weiteren Eimer und eine Maurerkelle, um die rostigen Kellen zu ersetzen, die mit eingetrocknetem Zement verklebt sind. Und eine Schaufel, ü berlege ich und tippe die Schaufel an, die in dem Zementsack feststeckt. Ich suche in den Taschen des Overalls, bis ich das dreckige Notizbuch und den Bleistiftstummel finde. Ich blä ttere durch die Seiten und suche eine, die leidlich sauber ist. Aber eine Seite weckt mein Interesse. Es ist die primitive Zeichnung einer nackten Frau. Der Kü nstler war zwar ziemlich talentlos, aber ein verrä terisches Detail weckt meine Aufmerksamkeit.

       Die Frau hat die Haare hinter ein Ohr gesteckt.

       Mein erster Gedanke ist, dass es Mathilde sein muss und dies nur ein weiterer Beweis dafü r ist, wer Michels Vater ist. Dann schaue ich genauer hin und bin mir nicht mehr ganz sicher. Ein Punkt ist auf das Gesicht gezeichnet, der ein Grü bchen sein kö nnte, und ich habe auch bei Gretchen bemerkt, wie sie gelegentlich die Haare zurü ckstreicht, was wie das unbewusste Nachahmen ihrer Schwester wirkt. Aber die Zeichnung ist so simpel, dass es unmö glich ist zu sagen, wer das sein soll. Falls es ü berhaupt jemand Bestimmtes ist, denn eigentlich kann es auch bloß ein zufä lliges Strichmä nnchen sein.

       Als ich von drauß en ein Gerä usch hö re, klappe ich das Notizbuch schuldbewusst wieder zu. Es ist nur Georges. Der alte Mann stapft mit klirrenden Eimern in beiden Hä nden quer ü ber den Hof. Ich entspanne mich wieder und muss ü ber meine Reaktion grinsen. Das soll dir eine Lehre sein. Ich blä ttere zur nä chsten leeren Seite und beginne zu notieren, was ich brauche.

       Als ich fertig bin, gehe ich zurü ck zum Haus. Die Tü r steht offen, und Mathilde ist damit beschä ftigt, ein gehä utetes Kaninchen auszunehmen. Die Schü ssel mit den gepflü ckten Bohnen steht neben ihr, wä hrend sie schneidet und den Hinterlauf aus dem Gelenk dreht.

       «Ich bin jetzt so weit. Wir kö nnen Zement holen», sage ich.

       Vom anderen Ende des Raums, das hinter der offenen Tü r verborgen ist, hö re ich ein Schnauben. «Wird auch Zeit. Hat ja lange genug gedauert. »

       Ich habe gar nicht bemerkt, dass Arnaud auch da ist. Ich schiebe die Tü r weiter auf, bis ich ihn sehe. Er sitzt an dem vernarbten Esstisch und hat einen groß en Becher Kaffee vor sich stehen. Michel sitzt auf seinen Knien und kaut auf einer Brotkruste herum.

       «Es ist ein groß es Haus», sage ich verletzt.

       «So groß auch wieder nicht. Frage mich schon, was Sie den ganzen Tag da auf dem Gerü st treiben. »

       «Ach, Sie wissen schon. Sonnenbaden, lesen, fernsehen. »

       «Wü rde mich nicht ü berraschen. Viel arbeiten jedenfalls nicht. »

       Unser Wortwechsel ist nicht hitzig. Diese Streitereien sind fü r uns inzwischen fast Routine. Das bedeutet aber nicht, dass wir uns mö gen.

       Arnaud fü ttert Michel mit einem Stü ck Brot, das er in den Kaffee getunkt hat. «Das sollte er eigentlich nicht essen», erklä rt Mathilde ihm.

       Ihr Vater lacht leise, wä hrend sein Enkel sich mit beiden Hä nden den durchweichten Klumpen in den Mund schiebt. «Ihm schmeckt’s. Er weiß, was gut fü r ihn ist. »

       «Er ist zu klein. »

       Arnaud tunkt das nä chste Stü ck Brot ein. «Ist doch nur Kaffee. »

       «Ich will nicht …»

       Arnaud haut mit der flachen Hand auf den Tisch. «Bist du taub? »

       Michel zuckt bei dem Schrei zusammen und verzieht das Gesicht. Arnaud starrt Mathilde finster an. «Sieh doch nur, was du getan hast! » Er schuckelt das Baby auf den Knien. «Psst, kleiner Mann. Hier, du kriegst noch mehr. »

       Seine Stimme und sein Gesichtsausdruck werden ganz weich, sobald er sich wieder seinem Enkel zuwendet. Michel grapscht nach dem vollgesogenen Stü ck Brot, das er ihm hinhä lt, und schmiert es sich um den Mund. Stumm zerlegt Mathilde das Kaninchen fertig. Der steife Rü cken und die Rö te ihres Nackens sind ihre einzige Form des Protests.

       Eine Tü r am Ende der Kü che geht auf, und Gretchen kommt herein. Sie lä chelt, als sie mich sieht, was aber schon wieder reicht, um Arnaud die Laune zu verderben.

       «Was grinst du denn so? », will er wissen, als sie quer durch den Raum schlendert.

       «Nichts. »

       «Sieht fü r mich nicht nach nichts aus. »

       «Ich kann doch wohl lä cheln, wenn mir danach ist? »

       «Kommt drauf an. »

       Sein Blick geht misstrauisch von seiner jü ngeren Tochter zu mir. Zwischen der gespielten Verdrieß lichkeit von vor einer Minute und der Feindseligkeit, mit der ich jetzt konfrontiert werde, ist ein himmelweiter Unterschied. Die Atmosphä re in der Kü che ist plö tzlich aufgeladen; sogar Michel verstummt und blickt zu seinem Groß vater auf.

       Dann tritt Mathilde dazwischen. Sie macht es so beilä ufig, dass es auch Zufall sein kö nnte.

       «Du wartest am besten beim Pritschenwagen. Ich hole die Schlü ssel», sagt sie.

       Ich bin erst ein paar Schritte gegangen, als ich das gedä mpfte Gerä usch von zerbrechendem Geschirr hö re, dem das sirenenartige Brü llen von Michel folgt. Ich gehe weiter ü ber den Hof zum Pritschenwagen.

       Ein ganz normaler Tag chez Arnaud.

       Mathildes Miene gibt nichts von ihren Gefü hlen preis, als sie aus dem Haus tritt. Sie kommt zu mir herü ber und hä lt mir einen Schlü sselbund hin.

       «Der groß e Schlü ssel ist fü r das Vorhä ngeschloss am Tor. Du musst es hinter dir wieder abschließ en. »

       «Du kommst nicht mit? »

       «Nein. » Sie wirkt angestrengt. «Du kannst fahren? »

       «Ja, aber …» Das habe ich nicht erwartet. Ich hatte mich nicht darauf gefreut, in das Dorf zu fahren, aber wenigstens wä re Mathilde bei mir gewesen. «Ich weiß nicht, wo ich hinmuss. »

       «Der Baustoffhandel ist nicht weit von der Tankstelle, wo du die Zigaretten gekauft hast. Folge einfach der Straß e, bis du den Marktplatz erreichst. Dahinter musst du nur noch rechts fahren. »

       Sie hä lt mir immer noch die Schlü ssel hin. Widerstrebend nehme ich sie und suche nach Einwä nden. «Was ist mit meinem Fuß? »

       «Die Pedale sind weit auseinander. Das mü sstest du eigentlich schaffen. » Sie ö ffnet das groß e Portemonnaie und zieht ein paar Geldscheine raus. «Das sollte fü r Zement und alles andere reichen. Ich wü rde dir ja einen Vorschuss auf deinen Lohn geben, aber mein Vater …»

       «Das ist nicht wichtig. »

       Ich bin von der neuen Entwicklung zu ü berrascht, um mir deswegen Gedanken zu machen. Mathilde scheint sich auch unwohl in ihrer Haut zu fü hlen. Als sie sich abwendet, schiebt sie sich eine Strä hne hinters Ohr. Ich erinnere mich wieder an die Zeichnung, aber der Moment verfliegt schnell. Es gibt Wichtigeres als Mathildes Privatleben.

       Obwohl es noch frü h ist, hat sich das Fahrerhä uschen des Pritschenwagens schon aufgeheizt. Ich stecke den Gehstock in den Fuß raum des Beifahrersitzes und schiebe mich hinter das Lenkrad. Probeweise stelle ich meinen Fuß auf das Pedal. Vorausgesetzt, der gebastelte Schuh verhakt sich nicht unter dem Pedal, sollte es klappen. Ich lege den Sicherheitsgurt an und spü re, wie die Erinnerung wieder aufflammt. Aber ich bin zu sehr mit der Gegenwart beschä ftigt, um lä nger darü ber nachzudenken. Ich verschwende noch ein bisschen Zeit damit, die Bedienelemente zu ü berprü fen und den Sitz zu verstellen, ehe ich mir eingestehe, dass ich den Moment nur hinauszö gere.

       Also drehe ich den Schlü ssel.

       Der Motor springt beim dritten Versuch an und rattert und rö hrt, wä hrend ich das Gaspedal durchdrü cke, damit er mir nicht sofort wieder absä uft. Als der Motor gleichmä ß ig vor sich hin schnurrt, kurbele ich das Fenster runter und fahre langsam vom Hof. Ich holpere im zweiten Gang ü ber den mit Schlaglö chern ü bersä ten Weg. Als ich das Tor erreiche, absolviere ich die zeitraubende Routine: Tor ö ffnen, hindurchfahren, wieder aus dem Pritschenwagen klettern und das Tor hinter mir schließ en. Ich klettere zurü ck in den Pritschenwagen und sitze bei laufendem Motor einfach da. Fahr schon weiter, rede ich mir gut zu.

       Es sind noch ein paar andere Autos unterwegs, aber nicht viele. Der alte Renault lä sst sich nur ungern aus dem zweiten Gang hö her treiben. Der Motor heult auf, als ich den dritten Gang einlege, und das Getriebe knirscht gefä hrlich. Ich schaffe es sogar bis in den vierten. Einen fü nften Gang gibt es nicht, aber der alte Pritschenwagen gleitet zufrieden ü ber die Landstraß e, sobald er sich an das Tempo gewö hnt hat. Ich steuere ihn einfach auf das flirrende Band des Horizonts zu, das so schnell zurü ckweicht, wie ich darauf zubrause. Ich weiß schon gar nicht mehr, warum ich mir vorhin so viele Sorgen gemacht habe. Ich lehne mich entspannt zurü ck und genieß e einfach die Fahrt.

       Meine Sonnenbrille verleiht der vertrockneten Landschaft zu beiden Seiten der Straß e einen blauen Farbstich und lä sst den Himmel in einem unglaublichen Saphirblau erstrahlen. Ich lasse den Arm aus dem Fenster hä ngen und genieß e den frischen Wind. Weizenfelder huschen vorbei, bis ich bemerke, dass ich viel zu schnell bin, nur widerstrebend bremse ich ab. Das Letzte, was ich jetzt brauchen kann, ist, wegen ü berhö hter Geschwindigkeit angehalten zu werden.

       Meine Anspannung kommt zurü ck, als ich mich der Tankstelle nä here, wo Mathilde und ich gewesen sind. Aber im Moment ist niemand drauß en, und im nä chsten Augenblick bin ich schon vorbei. Angesichts der Probleme zwischen ihrem Vater und seinen Nachbarn kann ich es ihr kaum verdenken, wenn sie nicht mit mir in die Stadt kommen will. Obwohl die Bezeichnung Stadt schmeichelhaft ist. Als ich in den Ort fahre, kommt er mir kaum grö ß er vor als ein Dorf. Es gibt nur wenige Hä user und ein paar Lä den, die direkt auf den schmalen Bü rgersteig hinausfü hren. Schon habe ich den Marktplatz erreicht. Er ist recht klein, aber ganz hü bsch, mit vielen Bä umen, die Schatten spenden, und einem Springbrunnen neben dem Bouleplatz, wo zwei alte Mä nner schon so frü h am Tag ihre Stahlkugeln auf die kleinere Zielkugel werfen.

       Den Baustoffhandel finde ich ohne Probleme. Ich parke neben den Haufen aus Sand, Ziegelsteinen und Bauholz vor einem hangarartigen Gebä ude mit Wellblechdach und gehe hinein. Paletten mit Zementsä cken und Gipsputz sind an den Wä nden mannshoch aufgestapelt. Ich kaufe ein, was ich brauche, und hebe ungeschickt die schweren Zementsä cke auf die Ladeflä che des Pritschenwagens. Es ist schwierig, weil ich meinen Gehstock nicht benutzen kann, und keiner der Angestellten fü hlt sich irgendwie bemü ß igt, mir zu helfen. Aber das ist mir egal. Meine anfä ngliche Besorgnis ist vorbei und hat einem neuen Selbstbewusstsein Platz gemacht. Als ich beim Marktplatz bin, tut es mir sogar schon leid, dass ich so bald zum Hof zurü ckfahre. Als ich einen freien Parkplatz entdecke, kommt mir eine Idee. Ich muss ja gar nicht sofort zurü ck.

       Ich gebe der Idee nach und parke.

       Wä hrend ich die Baumaterialien gekauft habe, ist der Platz zum Leben erwacht. Ich setze mich vor eines der Café s, die rings um den Platz geö ffnet haben, und genieß e dieses Gefü hl der Freiheit. Der Metalltisch wackelt auf dem unebenen Bü rgersteig ein bisschen, als ich meinen Gehstock an die Kante lehne. Nach wenigen Sekunden kommt der Kellner nach drauß en, den Notizblock in der Hand.

       «Einen Kaffee und ein Croissant. »

       Ich lehne mich zurü ck und warte zufrieden. Die Straß e ist von der morgendlichen Straß enreinigung noch nass. Wassertropfen glitzern an den Aluminiumbeinen der Stü hle. So frü h am Morgen wirkt der Ort noch frisch, aber schon in einer Stunde wird das anders sein. Ich bin froh, jetzt hier zu sein, und schaue die schmale Straß e entlang, die die Lä den von dem Marktplatz trennt. Der Springbrunnen ist hier noch das Groß artigste und erinnert an eine inzwischen vergessene Opulenz, die vor dem Krieg hier wohl herrschte. Das Klackern der Kugeln von den Boulespielern klingt ü ber das gelegentliche Rö hren eines Mopeds oder das tiefere Brummen eines Autos herü ber. Die beiden alten Spieler haben von einem dritten Gesellschaft bekommen, der vom Alter genauso gebeugt ist. Fü rs Erste schaut er nur zu. Alle drei tragen Kappen oder Baskenmü tzen und ü ber den kurzä rmeligen Hemden trotz der drohenden Hitze Pullunder. Sie lachen und rauchen, jammern ü ber schlechte Wü rfe und schlagen einander auf die Schulter, wenn ein guter Wurf gelingt.

       Einer von ihnen scheint mich zu beobachten und hebt schließ lich grü ß end die Hand. Ich nicke ihm zu und bin merkwü rdigerweise erfreut ü ber seine Aufmerksamkeit.

       Nach Wochen, in denen ich hauptsä chlich Eier zum Frü hstü ck bekommen habe, schmeckt das Croissant kö stlich. Der Kaffee ist stark und dunkel und hat eine braune Crema. Ich nehme mir fü r beides Zeit, bis nur noch ein paar Krü mel vom Croissant auf dem Teller liegen. Dann lehne ich mich zufrieden seufzend zurü ck, bestelle einen zweiten Kaffee und zü nde mir eine Zigarette an.

       Zwei junge Mä nner gehen vorbei, wä hrend ich rauche. Sie sind um die zwanzig und tragen Jeans und Trainingsjacken. Ich schenke ihnen keine Aufmerksamkeit, bis ich bemerke, dass einer von ihnen mich anstarrt. Er wendet sich ab, als ich aufblicke, aber dieses ungute Gefü hl in mir wä chst, als ich die beiden dabei ertappe, wie sie sich ein zweites Mal umdrehen, ehe sie den Marktplatz verlassen.

       Ich sage mir, dass es nichts zu bedeuten hat. Ich bin in dieser kleinen Stadt ein fremdes Gesicht, und meine roten Haare brandmarken mich als Fremden. Trotzdem verdirbt es mir die Stimmung, und als ich einen gelben VW Beetle in der Nä he entdecke, will ich nicht lä nger bleiben. Ich lege das Geld auf die Untertasse und gehe zu einem Bar-Tabac auf der anderen Seite des Platzes, um meinen Zigarettenvorrat aufzustocken. Daneben ist eine Boulangerie, und als ich aus dem Bar-Tabac komme, ist der sü ß e Geruch nach Frischgebackenem unwiderstehlich. Die Frau hinter der hohen Glastheke ist drall, und eines ihrer Augen trä nt. Aber sie lä chelt mich so warm an, wie das Brot riecht, das sie einer alten Frau reicht, ehe sie sich mir zuwendet.

       «Sechs Croissants, bitte. »

       Sie nimmt die halbmondfö rmigen Gebä ckstü cke von einem Tablett hinter ihrem Rü cken und lä sst sie in eine Papiertü te gleiten. Ich bezahle sie mit meinem eigenen Geld. Ich kö nnte mir denken, dass Mathilde und Gretchen nichts dagegen haben werden, mal was anderes zu bekommen. Arnaud kann sich selber welche kaufen.

       «Sie klingen fremd», sagt die Frau, als sie mir das Wechselgeld gibt.

       Sofort fü hle ich mich wieder unwohl, aber ihre Bemerkung ist eigentlich ganz unschuldig. «Ich bin Englä nder. »

       «Bleiben Sie lä nger hier? »

       «Ich bin nur auf der Durchreise», erklä re ich und gehe, ehe sie mir noch mehr Fragen stellen kann.

       Hö chste Zeit zurü ckzufahren. Ich ü berquere den Marktplatz zu der Stelle, wo ich den Pritschenwagen geparkt habe. Alle drei alten Mä nner spielen jetzt Boule. Sie halten die Kugeln in der nach hinten gewandten Hand und schleudern sie dann nach vorne weg. Die Kugeln landen stumpf und rollen kaum auf dem grobkö rnigen Sand. Der Spieler, der sich zuletzt dazugesellt hat, schafft es, eine andere Kugel von der hö lzernen Zielkugel wegzuschlagen. Sie lachen und diskutieren. Weil ich sie beobachte, bemerke ich zu spä t die Schritte hinter mir, bis jemand ruft.

       «Hey, Sie! Warten Sie! »

       Ich schaue zurü ck. Drei Mä nner kommen ü ber den Platz auf mich zu. Zwei sind die jungen Mä nner, die vorhin an meinem Tisch vorbeigegangen sind. Der dritte kommt mir ebenfalls bekannt vor, und ich spü re, wie sich mein Magen verkrampft, als ich ihn erkenne.

       Er ist das Groß maul von der Tankstellenkneipe.

       Ich widerstehe dem Impuls, zum Pritschenwagen zu schauen, weil ich ganz genau weiß, dass ich es nicht rechtzeitig dorthin schaffen werde. Also packe ich den Gehstock und bleibe vor dem Springbrunnen stehen. Tropfen kitzeln meinen Nacken, als die drei sich vor mir aufbauen. Das Groß maul steht vor seinen Kumpeln.

       «Wie geht’s denn? Immer noch bei den Arnauds? »

       Er lä chelt, aber es ist das Lä cheln eines Straß enrä ubers. Er ist Anfang zwanzig und ziemlich krä ftig. Zu der ö lfleckigen Jeans trä gt er ein T-Shirt, und seine verschrammten Arbeitsschuhe sehen aus, als kö nnten sie Stahlkappen haben.

       «Und was bringt Sie in die Stadt? »

       «Ich musste ein paar Sachen besorgen. »

       «Besorgungen, ja? » Ich sehe, wie er mich mit Blicken abschä tzt. Fü r ihn bin ich eine unbekannte Grö ß e, aber ich habe ein verletztes Bein. Und bin allein. Er zeigt auf die Tü te von der Boulangerie. «Was haben Sie da drin? »

       «Croissants. »

       Er grinst. «Arnauds Tö chter sind billig zu haben, was? Obwohl Gretchen von mir nie was haben will, wenn ich sie ficke. »

       Die anderen beiden lachen selbstgefä llig. Ich will mich abwenden, aber Didier verstellt mir den Weg.

       «Was denn, verstehen Sie keinen Spaß? »

       «Ich muss arbeiten. »

       «Fü r Arnaud? » Sein Lä cheln verschwindet. «Was fü r Arbeit? Mü ssen Sie Schweinescheiß e wegputzen? Oder sind Sie zu beschä ftigt damit, seine Tö chter zu vö geln? »

       Einer der anderen Jungs fä ngt an, ein Schweinegrunzen nachzuahmen. Ich schaue an ihnen vorbei, aber der Marktplatz ist wie ausgestorben. Auß er den alten Boulespielern ist niemand zu sehen. Plö tzlich ist der Tag grell, und das sanfte Plä tschern des Springbrunnens hö re ich ü berdeutlich. Die Tropfen funkeln im Sonnenlicht.

       «Was ist los? Hat ein Schwein Ihre Zunge gefressen? » Didiers Miene ist grausam. «Sagen Sie Arnaud, wenn er irgendwas aus der Stadt haben will, muss er schon selbst herkommen und soll nicht seinen verdammten englischen Laufburschen schicken. Sagen Sie ihm, er ist ein verfickter Feigling! Glaubt er, er ist sicher da drauß en hinter seinem Stacheldrahtzaun? »

       «Ich bin nicht …»

       «Halten Sie Ihr verfluchtes Maul! »

       Er schlä gt mir die Tü te mit den Croissants aus der Hand, die ins Wasser fliegt. Ich packe den Gehstock fester, als die anderen beiden vorrü cken und mich zum Springbrunnen drä ngen. Die Boulespieler haben endlich bemerkt, was los ist. Die alten Mä nner schreien «Hey, hey, hey! » und «Hö rt sofort damit auf! », aber sie werden einfach ignoriert.

       «Ich kenne dich, Didier Marchant. Ich weiß, wer du bist! », ruft einer von ihnen, wä hrend ein anderer davoneilt.

       «Halt die Klappe und stirb! », ruft Didier zurü ck, ohne sich umzusehen.

       Er hat sich jetzt richtig aufgeputscht und wird im nä chsten Moment zuschlagen. Plö tzlich tä uscht er einen Punch an, seine Faust schnellt vor und wird erst im letzten Moment zurü ckgezogen. Sie lachen, als ich gegen die Umrandung des Brunnens stolpere. Ich hebe instinktiv den Gehstock hoch, aber meine Arme fü hlen sich schwer an.

       «Ja? », sagt Didier. «Sie wollen mich also mit dem Ding schlagen? Na los! »

       Er glaubt nicht wirklich, dass ich dazu fä hig bin, und das ist der Moment, in dem ich eine Chance habe. Das Ende des Gehstocks ist schwer und dick, und ich stelle mir vor, mit wie viel Wucht er auf Didiers Schä del treffen wü rde. Ich kann sogar wieder das Knacken von Knochen hö ren, als Georges den Hammer auf den Schä del des Schweins niedersausen ließ, hö re das Fallen eines Kö rpers. Einen Herzschlag lang stehe ich wieder auf einer dunklen Straß e und sehe das schwarze, klebrige Blut unter einer Straß enlaterne. Diese Erinnerung lä sst mich zö gern. Didier allerdings zö gert nicht.

       Er schlä gt mir mitten ins Gesicht.

       Licht flammt vor meinen Augen auf. Ich stolpere seitwä rts und schlage blindlings mit dem Stock um mich. Er wird mir aus der Hand gerissen und fä llt klappernd zu Boden. Im selben Augenblick wird etwas in meinen Bauch geschlagen und treibt mir die Luft aus den Lungen. Ich klappe zusammen und hebe im vergeblichen Versuch, meinen Kopf zu schü tzen, beide Hä nde.

       «Was ist hier los? »

       Die Stimme ist tief und herrisch. Ich keuche und schaue auf. Jemand schiebt meine Angreifer beiseite. Immer noch gekrü mmt am Boden liegend, sehe ich nur eine Latzhose. Ich hebe den Kopf weiter und sehe den bulligen Kerl, den ich in der Tankstellenkneipe getroffen habe. Der Mann, den Mathilde Jean-Claude genannt hat. Hinter ihm steht der Boulespieler, der vorhin weggelaufen ist, und schnappt nach Luft. Er hä lt sich im Hintergrund, wä hrend der Neuankö mmling sich die drei jungen Mä nner vorknö pft.

       «Ich habe gefragt, was hier los ist. »

       Didier antwortet mü rrisch. «Nichts. »

       «Das nennst du nichts, ja? Und weiß Philippe, dass einer seiner Mechaniker sich vor der Arbeit drü ckt, um auf dem Marktplatz dieser Art nichts nachzugehen? »

       «Halt dich da raus, Jean-Claude. »

       «Warum? Damit ihr dummen Scheiß kerle mitten in der Stadt einfach jemanden verprü gelt? »

       «Das geht dich nichts an. »

       «Das soll mich nichts angehen? Wen geht es denn was an, wenn nicht mich? Dich etwa? »

       «Er arbeitet fü r Arnaud. Er hat kein Recht, sich hier rumzutreiben. »

       «Und du hast das Recht? » Das stoppelige Gesicht des Mannes verfinstert sich. «Okay, wenn du schon jemanden verprü geln willst, kannst du ja mit mir anfangen. »

       «Jean-Claude …»

       «Worauf wartest du noch? » Er spreizt die Hä nde und sieht aus, als kö nnte er alle drei in Stü cke reiß en. «Komm schon, du Held. Ich warte. »

       Didier schaut auf seine Fü ß e.

       «Nein? Hast du plö tzlich keine Lust mehr? » Der Mann schü ttelt angewidert den Kopf. «Los jetzt, verschwindet. Alle drei. »

       Sie rü hren sich nicht.

       «Ich sagte, ihr sollt verschwinden! »

       Widerstrebend wenden sie sich zum Gehen. Didier bleibt immerhin lange genug, um mit dem Finger auf mich zu zeigen. «Glauben Sie ja nicht, ich wä re schon mit Ihnen fertig. »

       Der Mann sieht den drei jungen Mä nnern nach, die davonstapfen. Dann wendet er sich an mich. «Geht es Ihnen gut? »

       Ich nicke, aber ich muss mich an den Brunnen lehnen, um das Zittern zu kaschieren. Meine Wange brennt von Didiers Schlag, und mein Magen schmerzt. Aber das ist nichts Ernstes.

       Ich hebe dankend die Hand, als der alte Boulespieler zu seinen Freunden zurü ckkehrt. Dann angele ich nach meinem Gehstock und richte mich auf. Ich betrachte den Mann, der mich gerettet hat. Meinen Angreifern kann ich es nicht verdenken, dass sie einen Rü ckzieher gemacht haben. Er ist ungefä hr so groß wie ich, aber massiv wie ein Fels, und die riesigen Hä nde sind so schwielig, dass es vermutlich unmö glich ist, sie zum Bluten zu bringen.

       «Danke», sage ich.

       «Vergessen Sie’s. Ich sollte derjenige sein, der sich entschuldigt. » Er schü ttelt verä rgert den Kopf. «Didier ist mein Cousin. Wenn er Scheiß e baut, fä llt das zwangslä ufig auf die Familie zurü ck. »

       «Na ja, ich weiß Ihren Einsatz jedenfalls zu schä tzen. » Ich fische die nasse Croissanttü te aus dem Brunnen. Wasser strö mt heraus, als ich sie in einen Mü lleimer werfe. «Was hat er fü r ein Problem mit Arnaud? »

       Der Mann mustert meinen Overall. Ich habe das Gefü hl, dass er das eigentlich hatte verhindern wollen. «Sie arbeiten an dem Haus? »

       Ich nicke. «Ich bin nur in die Stadt gefahren, um Material nachzukaufen. »

       Mir entgeht nicht, wie er geschickt einer Antwort auf meine Frage ausweicht. Zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, dass ich, wenn ich mit meiner Vermutung ü ber Michels Vater recht habe, seinen Job ü bernommen habe. Aber mit seiner nä chsten Bemerkung gibt er der Sache eine neue Richtung.

       «Dann habe ich Sie wohl verpasst. Ich bin der Geschä ftsfü hrer vom Baustoffhandel. » Wieder gleitet sein Blick ü ber meinen Overall. «Wie sind Sie eigentlich bei Arnaud gelandet? »

       «Ich war per Anhalter unterwegs und habe mir bei ihnen im Wald den Fuß verletzt. Mathilde hat mich wieder zusammengeflickt. »

       «Ich dachte, Sie hä tten erzä hlt, Sie wä ren in einen Nagel getreten? »

       Jetzt bin ich derjenige, der ausweichend antwortet. Ich will ihn nicht anlü gen, aber ich will auch keine Probleme. «Warum reagiert eigentlich jeder gleich so ü ber, wenn es um Arnaud geht? Was hat er getan? », frage ich statt einer Antwort.

       Jean-Claudes Miene ist verschlossen. «Nichts, das Sie was angehen wü rde. »

       «Das hat Didier anders gesehen. »

       «Didier ist ein Arschloch. Aber wenn Sie meinen Rat hö ren wollen, halten Sie sich lieber aus der Stadt fern. Oder noch besser: Suchen Sie sich woanders Arbeit. »

       «Warum? Kommen Sie schon, das kann doch nicht alles sein», sage ich. Er wendet sich zum Gehen.

       Fü r einen Moment sehe ich, wie er hin- und hergerissen ist. Er reibt sich das stoppelige Kinn und scheint intensiv nachzudenken. Schließ lich schü ttelt er den Kopf, mehr fü r sich selbst als an mich gerichtet. «Sagen Sie Mathilde, dass Jean-Claude sich nach seinem Neffen erkundigt hat. »

       Er lä sst mich an dem Brunnen zurü ck und verlä sst den Marktplatz.


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