Хелпикс

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LONDON.  KAPITEL 9



LONDON

       Chloe verschwindet eines Nachts nach der Arbeit. Ich bin mit Callum und ein paar Schü lern nach der letzten Stunde noch ausgegangen. Allerdings waren wir nicht im Domino – nicht mehr. Frü her habe ich es genossen, aufschauen zu kö nnen und Chloe bei der Arbeit hinter der Bar zu beobachten – mich still auf die Momente zu freuen, wenn sie sich kurz zu uns gesellte. Das ist jetzt vorbei.

       «Findest du es richtig, mich stä ndig zu kontrollieren? », fragte sie mich eines Abends, als ich mich von ihr mit den Worten verabschiedete, wir wü rden uns spä ter dort sehen.

       «Nein», erwiderte ich ehrlich ü berrascht. «Wenn du nicht willst, dass ich komme, brauchst du das nur zu sagen. »

       Sie hatte mit den Schultern gezuckt und sich abgewendet. «Mach, was du willst. »

       Es ist schon fast eins, als ich mich von Callum trenne und zurü ck in die Wohnung gehe. Der Geruch nach Terpentin und Ö lfarben ist jetzt nicht mehr so intensiv. Chloe hat seit unserer Fahrt nach Brighton nicht mehr gemalt. Aber das ist auch so ein Thema, ü ber das wir nicht reden.

       Sie wird in der Bar nicht vor zwei fertig sein, darum mache ich mir einen Kaffee und suche eine DVD aus. Ich entscheide mich fü r Ein mö rderischer Sommer, den ich wie alle anderen Filme in meiner Sammlung schon mehrmals gesehen habe. Chloe behauptet, ich mag den Film so sehr, weil Isabelle Adjani im Grunde den ganzen Film ü ber nackt ist. Das stimmt schon irgendwie, aber selbst ohne die nackte Adjani ist die Kamerafü hrung wunderbar.

       Ich sehe bei diesem Reigen aus Leidenschaft, Gewalt und Tragö die zu, der unentrinnbar seinen Lauf nimmt. Erst als der Film zu Ende ist, merke ich, wie spä t es schon ist. Chloe hä tte schon vor einer Stunde zurü ck sein mü ssen.

       Niemand geht ans Telefon, als ich in der Bar anrufe. Ich warte noch eine halbe Stunde, dann hinterlasse ich ihr eine Nachricht, falls sie in der Zwischenzeit zurü ckkommt, und mache mich auf den Weg ins Domino. Die Straß en sind verlassen. Ich folge dem Weg, den Chloe von der King’s Road nehmen wü rde, wenn sie zu Fuß heimgeht. Allerdings nimmt sie sich inzwischen meistens ein Taxi oder wird von Kollegen mitgenommen, wenn ich sie nicht abhole. Die Tü r der Bar ist verschlossen, und drinnen ist kein Licht zu sehen, aber ich hä mmere trotzdem dagegen. Nachdem das Echo meiner Schlä ge verstummt ist, bleibt das Gebä ude aber still und dunkel.

       Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich stehe auf dem Bü rgersteig und blicke in beide Richtungen die verlassene Straß e entlang, als glaubte ich allen Ernstes, sie kö nnte auf mich zukommen. Ich habe keine Ahnung, wo die anderen Mitarbeiter wohnen. Aber einmal bin ich mit Chloe bei Tanja gewesen. Ich weiß zwar nicht mal, ob sie heute Abend auch gearbeitet hat, aber mehr fä llt mir im Moment nicht ein.

       Obwohl ich schnell gehe, ist es fast fü nf Uhr frü h, als ich ihr Haus in Shepherd’s Bush erreiche. Der Eingangsbereich ist unbeleuchtet, und ich muss mir mit meinem Handy leuchten, um die Namen auf den Klingelschildern zu erkennen. Es ist kalt, aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich friere. Als sie nicht aufmacht, drü cke ich wieder auf den Klingelknopf und nehme den Finger nicht mehr runter.

       «Schon gut, schon gut, wer ist da? » Die Stimme knackt durch die Gegensprechanlage. Sie klingt wü tend und verzerrt.

       «Tanja, hier ist Sean», sage ich, den Mund ganz nah an dem Mikrophon. «Hast du eine Ahnung, wo …»

       «Sean wer? »

       «Chloes Freund. Sie …»

       «Himmel, weiß t du eigentlich, wie spä t es ist? »

       «Ich weiß, es tut mir echt leid, aber Chloe ist heute nicht von der Arbeit nach Hause gekommen. Hast du eine Ahnung, wo sie ist? »

       «Nein, wieso sollte ich? » Sie klingt mü de und gereizt.

       Meine Hoffnung schwindet. Ich hatte gehofft, dass sie mir sagt, Chloe sei bei ihr oder dass sie auf eine Party gegangen ist. Irgendwas.

       «Hast du gesehen, wann sie gegangen ist? »

       «Ja, sie … ach nein, stimmt gar nicht. Ich bin heute Abend vor ihr gegangen. Sie hat noch mit diesem Typen geredet, der ziemlich spä t kam. Sie meinte, ich kö nne ruhig schon gehen. »

       «Ein Typ? Was fü r ein Typ? Wer war das? »

       «So ein Typ eben. Hö r mal, ich muss morgen echt frü h raus …»

       «Hast du diesen Typen schon mal gesehen? »

       «Nein. Wie ich schon sagte, es war einfach so ein Typ. Irgendwie protzig, aber Chloe schien ihn zu kennen. Darf ich jetzt wieder ins Bett? »

       Die ersten Arbeiter sind schon unterwegs, wä hrend ich zurü ck zur Wohnung gehe. Meine Nachricht liegt immer noch auf dem Kü chentisch, wo ich sie hingelegt hatte. Ich schaue vorsichtshalber ins Schlafzimmer, aber das Bett ist unberü hrt.

       Um acht rufe ich Yasmin an. Ich erwarte eigentlich nicht, dass Chloe bei ihr ist, und das ist sie auch nicht.

       «Hast du schon die Polizei benachrichtigt? », fragt Yasmin sofort.

       «Nein, noch nicht. » Diese letzte Mö glichkeit habe ich bisher noch von mir gewiesen. «Glaubst du, das sollte ich? »

       «Gib ihr bis heute Mittag», sagt sie schließ lich.

       Es ist schon fast elf, als ich hö re, wie jemand die Tü r aufschließ t. Ich sitze am Kü chentisch, mein Mund schmeckt bitter nach Kaffee und Erschö pfung. Als Chloe hereinkommt, empfinde ich einen Moment lang sprachlose Erleichterung.

       Sie zö gert, als sie mich so am Tisch sitzen sieht, und schließ t die Tü r.

       «Himmel, wo bist du gewesen? Ist mit dir alles in Ordnung? »

       «Ja. » Sie macht eine vage Geste. «Ich habe bei einem Freund ü bernachtet. »

       «Hä ttest du nicht anrufen kö nnen? »

       «Es wurde ziemlich spä t. Ich wollte dich nicht stö ren. »

       Chloe sieht mich nicht an. Ihr Gesicht ist blass, blaue Schatten liegen unter den Augen. Die anfä ngliche Erleichterung weicht einem anderen Gefü hl.

       «Was fü r ein Freund? »

       «Keiner, den du kennst. » Sie steuert das Badezimmer an. «Ich muss jetzt …»

       «Was fü r ein Freund? »

       Chloe bleibt mit dem Rü cken zu mir stehen. «Jemand, den ich mal kannte. Niemand Besonderes. »

       «War das derselbe Mann, mit dem Tanja dich gestern Abend zusammen gesehen hat? »

       Ihr Kopf ruckt ü berrascht herum. Dann nickt sie knapp.

       «Ist er ein Exfreund? »

       Wieder nickt sie. Ich habe das Gefü hl, als wü rde mir die Luft aus der Lunge getrieben.

       «Hast du mit ihm geschlafen? »

       Sie hat sich mir jetzt ganz zugewendet, und ihr Gesicht wirkt angespannt. «Bitte mach das nicht …»

       «Hast du? »

       «Nein! », schreit sie plö tzlich wü tend. «Nichts ist passiert, hö rst du? Und jetzt lass mich gefä lligst in Ruhe! »

       «Dich in Ruhe lassen? Ich war krank vor Sorge! Ich dachte, du hä ttest einen Unfall gehabt oder … oder du wurdest ü berfallen! Und jetzt kommst du hier reingeschneit und verkü ndest, du wä rst mit einem anderen Mann zusammen gewesen, und erwartest von mir, nichts dazu zu sagen? »

       «Das geht dich verdammt noch mal nichts an, verstanden? »

       Ich starre sie wie betä ubt an. Meine Wut brodelt immer noch, aber ich habe das ungute Gefü hl, dass es fü r uns beide kein Zurü ck gibt, wenn ich der Wut nachgebe. «Du meinst das ernst? »

       «Nein. Ich weiß nicht. » Sie fä ngt leise an zu weinen. «Es tut mir leid, ja? »

       Sie lä uft ins Badezimmer und schließ t hinter sich ab. Ich bleibe sitzen und fü hle nichts. Absolut gar nichts.


[zur Inhaltsü bersicht]


 KAPITEL 9

       Ich bin bereits auf, als Mathilde am nä chsten Morgen mein Frü hstü ck bringt. Ich wurde von dem wiederholten Krä hen eines Junghahns geweckt und bin ziemlich verkatert. Zum Abendessen habe ich mir wieder eine Flasche Wein gegö nnt. Ü ber Châ teau Arnaud kann man ja nicht viel Gutes sagen, aber stark ist das Zeug. Ich gehe zu dem Plumpsklo und halte danach meinen Kopf unter den Wasserhahn und wasche die letzten Spuren der Mü digkeit ab. Wasser tropft von meinen Haaren, als ich nur in meiner Jeans drauß en vor der Scheune sitze und die kü hle Luft auf meiner nackten Haut genieß e.

       Es ist ein herrlicher Morgen wie auch jeder andere seit meiner Ankunft. Der Himmel spannt sich endlos blau und hat noch nicht jenes gleiß ende Weiß angenommen, das mit der Hitze kommt. Am Horizont steht ein dunkler Wolkenstreifen, doch noch scheint er zu weit entfernt zu sein, um eine Bedrohung darzustellen.

       Ich verscheuche mit dem Fuß die rostfarbene Henne, die Anstalten macht, auf ihn einzupicken. Als ich Mathilde nä her kommen hö re, blicke ich auf.

       «Guten Morgen», sagt sie.

       Ihr Gesicht verrä t wie immer nur wenig. Sie stellt das Tablett mit meinem Frü hstü ck neben mich auf den Boden. Ein feiner Dampf steigt von dem Kaffee auf, und das Brot riecht frischgebacken. Die beiden gepellten Eier liegen wie zwei weiß e Pobacken dicht aneinandergeschmiegt auf einem Tellerchen.

       «Ich habe das hier gebastelt», sagt Mathilde und zieht etwas hervor, das sie unter den Arm geklemmt hat. «Fü r deinen Fuß. »

       Es ist die Sohle von einem Gummistiefel, von dem der obere Teil bis auf die Ferse groß teils weggeschnitten wurde. Schnü rbä nder sind durch Lö cher in der Sohle gefä delt worden.

       «Richtig. » Ich bin nicht sicher, was ich sagen soll. «Danke. »

       «Als Schutz fü r den Verband. Ich dachte, es kö nnte dir bei der Arbeit helfen. » Sie schiebt sich eine Strä hne hinters Ohr. Ich weiß inzwischen, dass sie das macht, wenn sie unsicher oder nervö s ist, und diese Erkenntnis lä sst mich Schlimmes fü rchten. «Ich muss dich um einen Gefallen bitten. Gretchen hat erzä hlt, du wä rst mal Englischlehrer gewesen. »

       «Ich habe nur privat unterrichtet», sage ich misstrauisch. «Nicht an einer richtigen Schule. »

       «Wü rdest du sie unterrichten? »

       «Ä hm, ich weiß nicht, ob das …»

       «Ich wü rde dich dafü r bezahlen», fä hrt sie rasch fort. «Nicht viel. Aber du mü sstest ihr auch keine richtigen Stunden geben. Nur … na ja, wenn du ohnehin mit ihr redest. »

       Ich will das Angebot ablehnen. Nach dem gestrigen Abend bin ich zu dem Schluss gelangt, dass ich besser so wenig wie mö glich mit ihrer Schwester zu tun habe. «Kannst du sie nicht selbst unterrichten? »

       «Mein Englisch ist dafü r nicht gut genug. » Sie zuckt entschuldigend mit den Schultern. «Und sie mag es nicht, wenn ich ihr sage, was sie tun soll. »

       «Was sagt dein Vater dazu? »

       «Er wird keine Probleme machen. »

       Was nicht heiß en muss, dass er einverstanden ist. Aber Mathilde kennt ihn besser als ich. Sie wartet auf meine Antwort, und sosehr ich mir auch den Kopf zerbreche, mir fä llt kein guter Grund ein abzulehnen.

       «Ich vermute, ich kö nnte das schon machen …»

       Mathildes Lä cheln ist sehr viel ernster und nü chterner als das ihrer Schwester, aber wä hrend sie lä chelt, sieht sie um Jahre jü nger aus. «Ich danke dir. »

       Ich sehe ihr nach, als sie zurü ck zum Innenhof geht. Dann untersuche ich den Schuh. Er stinkt nach altem Gummi, und vermutlich hat es nur wenige Minuten gedauert, ihn zu basteln. Trotzdem rü hrt mich diese Geste. Ich kann mich nicht erinnern, wann jemand das letzte Mal etwas fü r mich getan hat. Und der Schuh wird mir das Leben erleichtern. Als ich ihn nach dem Frü hstü ck anziehe, stelle ich fest, dass ich meinen Fuß sogar aufstü tzen und ein paar hü pfende Schritte machen kann.

       Auf dem Gerü st verleiht mir der Schuh ein Gefü hl von Stabilitä t und Selbstvertrauen, das mir bisher gefehlt hat. Ich nehme den Hammer zur Hand und gebe mir groß e Mü he, die Kopfschmerzen zu ignorieren. Mit jedem Hammerschlag spü re ich ein Pochen in den Schlä fen, aber ich hoffe, mit der Anstrengung den Kater frü her oder spä ter auszuschwitzen. Die Blasen an meinen Handflä chen sind offen, aber ich bringe es einfach nicht ü ber mich, die vor Schweiß steifen Arbeitshandschuhe anzuziehen, die in den Taschen des Overalls steckten.

       Langsam beginnt die Starre aus meinen Muskeln zu verschwinden. Ich mache den Bereich fertig, an dem ich bisher gearbeitet habe, und beginne dann mit der Wand neben dem Schlafzimmerfenster, bei dem die Lä den offen stehen. Einige Steine unter der Regenrinne haben sich gelockert, und es gibt wohl keine andere Mö glichkeit, als sie ganz herauszunehmen. Ehe ich es mich versehe, ist in der Wand ein Loch, groß genug, um hineinzukriechen. Dahinter sehe ich das nackte Mauerwerk der Innenwand. Ich bin eingeschü chtert von dem Schaden, den ich angerichtet habe, und wieder mal wird mir auf unangenehme Weise bewusst, dass ich eigentlich keine Ahnung habe, was ich hier mache.

       Aber es ist immer noch sehr befriedigend, gezielt mit Hammer und Meiß el an der Mauer herumzuklopfen. Ich hä mmere weiter, und die Mö rtelbrocken fliegen mir wie Schrapnellgeschosse ins Gesicht. Es tut inzwischen gar nicht mehr so weh, wenn ich versehentlich auf meine Hand schlage. Die Haut und die Knochen sind abgestumpft von den wiederholten Treffern. Erst wenn ich lange genug Pause mache, um wieder zu Atem zu kommen, spü re ich den Schmerz.

       Schon bald habe ich mich ganz im Rhythmus des Hä mmerns verloren. Meine Welt schrumpft auf jenen schmalen Streifen ü ber den Schlafzimmerfenstern zusammen, weshalb ich nur schleppend reagiere, als ich in dem Zimmer etwas bemerke. Dann passiert es erneut – ein Blitzen am Rand meines Gesichtsfelds. Ich schaue auf und sehe ein Gesicht auf der anderen Seite der staubigen Fensterscheibe.

       «Himmel! »

       Der Meiß el fä llt klappernd ü ber den Rand des Gerü sts und knallt an die Wand, ehe er unten auf dem Pflaster landet. Gretchen ö ffnet das Fenster und lacht.

       «Habe ich Ihnen Angst eingejagt? »

       «Nein», behaupte ich, aber mein Herz hä mmert. «Na ja, ein bisschen vielleicht. »

       «Ich habe Ihnen Kaffee gebracht. » Sie reicht mir einen groß en Becher. Sie klingt sehr zufrieden mit sich. «Ich dachte, dann mü ssen Sie nicht wieder ganz nach unten klettern. »

       «Danke. »

       Ich muss ohnehin wegen dem Meiß el nach unten, aber das behalte ich lieber fü r mich. Ich habe Gretchen nicht mehr gesehen, seit sie gestern Abend mein Foto angezü ndet hat, aber das scheint sie schon vergessen zu haben. Sie lehnt sich durch das offene Fenster, wä hrend ich auf der Fensterbank sitze.

       «Mathilde hat gesagt, Sie geben mir Englischunterricht. » Eine gewisse Hinterhä ltigkeit schwingt in der Art mit, wie sie es sagt.

       «Wenn du das gerne mö chtest. »

       «Es war ihre Idee», sagt sie, und sofort verfinstert sich ihre Miene. Dann hellt sie sich wieder auf. «Sie kö nnen mich nachmittags unterrichten. Papa schlä ft, und Mathilde kü mmert sich um Michel. Dann werden wir nicht gestö rt. »

       Sie strahlt mich an und wartet auf meine Reaktion. Ich nippe an meinem Kaffee und gebe mich betont lä ssig, obwohl ich mich nicht so fü hle. Der Kaffee ist stark und schwarz, und ich verbrenne mir fast die Zunge daran. «Wie du meinst. »

       «Was haben Sie denn da am Fuß? », fragt Gretchen, als sie den behelfsmä ß igen Gummischuh bemerkt.

       «Den hat Mathilde gebastelt. »

       «Mathilde? » Wieder ist ihr Lä cheln fort. «Das sieht doof aus. »

       Ich antworte darauf nichts. Ein muffiger Geruch, der nicht ganz unangenehm ist, dringt aus dem offenen Fenster. Ohne den Staubschleier auf der Fensterscheibe sind die abblä tternden Tapeten und die Risse im Putz im Schlafzimmer deutlich zu sehen. Das Bettgestell aus Eisen mit der klumpigen Matratze und den Kissen sieht aus, als wollte es im nä chsten Moment auf den nackten Bodendielen in sich zusammenfallen.

       «Wem hat das Zimmer frü her gehö rt? », frage ich.

       «Meiner Maman. »

       Mir entgeht nicht, dass sie nicht behauptet, Arnaud hä tte hier auch geschlafen. Ich zeige auf das Foto auf der Kommode. «Ist sie das mit deinem Vater? »

       Sie nickt. «Das war ihre Hochzeit. »

       «Wie alt warst du, als sie gestorben ist? »

       «Ich war noch ein Baby. Ich kann mich gar nicht an sie erinnern. » Gretchen klingt gelangweilt. «Ich habe nach ihrem Tod oft mit ihrem Rollstuhl gespielt. Aber dann bin ich rausgefallen und hab mich verletzt, und Papa hat ihn kaputt gehauen. »

       Und ein Pony hatte sie auch nie gehabt, denke ich. Aber wie oft, wenn es um Gretchen geht, behalte ich das lieber fü r mich. Sie ist verstummt, und ich schwö re, ich kann fö rmlich fü hlen, was als Nä chstes kommt.

       «Warum kommen Sie nicht einfach mit rein? »

       «Nein danke. »

       Sie rü ckt zur Seite, damit ich bequem ins Zimmer steigen kann. «Ist schon in Ordnung. In dieses Zimmer kommt sonst niemand. »

       Der Kaffee ist immer noch zu heiß, aber ich nehme trotzdem einen Schluck. «Ich bleibe hier drauß en. »

       «Was ist denn los? »

       «Nichts. »

       «Und warum kommen Sie nicht rein? Wollen Sie nicht? »

       «Ich arbeite. »

       «Nein, Sie arbeiten nicht. Sie trinken Kaffee. »

       Ihr Lä cheln ist selbstbewusst und herausfordernd. Irgendwas an Gretchens Art erinnert mich an eine Katze. Sie ist geschmeidig und schnurrt, damit man sie streichelt, aber zugleich rammt sie dir im nä chsten Moment die Krallen unter die Haut, wenn ihr etwas nicht passt.

       Ich habe noch nie was fü r Katzen ü briggehabt.

       «Ich arbeite gleich weiter», sage ich. Mein Kopf pocht. Der Kater ist mit voller Wucht zurü ck.

       Sie geht durchs Zimmer, setzt sich aufs Bett und baumelt mit einem Bein. «Sind Sie schwul? »

       «Nein. »

       «Sind Sie sicher? Wenn Sie die Einladung eines hü bschen Mä dchens ablehnen, kö nnte man schon drauf kommen, dass Sie schwul sind. »

       «Also gut, bin ich eben schwul. »

       Sie scheint die Szene mit dem Foto auf dem Dachboden vollstä ndig verdrä ngt zu haben. Aber ich werde nicht wieder davon anfangen, wenn sie es nicht tut. Ihr Lä cheln ist schelmisch, als sie sich auf dem Bett hinlegt, einen Fuß und beide Ellenbogen auf die Matratze gestü tzt.

       «Ich glaube Ihnen nicht. Ich glaube, Sie sind nur schü chtern und brauchen jemanden, der Ihnen hilft, sich zu entspannen. » Gretchen lehnt sich auf dem Bett noch weiter nach hinten. Sie hebt eine Augenbraue und lä chelt mich an. «Also? »

       «Ey! Sie da oben! »

       Gretchens Lä cheln verschwindet, als Arnaud aus dem Hof nach mir ruft. Ich hoffe nur, sie besitzt so viel Geistesgegenwart, den Mund zu halten, als ich ü ber das Gelä nder des Gerü sts schaue. Arnaud schaut wü tend vom Pflaster zu mir hoch. Der Spaniel steht neben ihm und hat die Ohren aufgestellt. Der Hund schaut ebenfalls hoch.

       «Was machen Sie da? »

       Ich weiß nicht, wie viel er von da unten sehen oder hö ren kann, und widerstehe dem Impuls, ü ber die Schulter zu Gretchen zu blicken.

       «Ich mach Pause. »

       «Sie haben doch gerade erst angefangen. » Er fixiert mich mit seinem unfreundlichen Blick und macht eine ruckartige Kopfbewegung. «Kommen Sie runter. »

       «Warum? »

       «Ich hab was anderes fü r Sie zu tun. »

       Ich weiß nicht, ob ich erleichtert sein soll oder nicht. «Was denn? »

       «Wir schlachten ein Schwein. Oder sind Sie zimperlich? »

       Ich hoffe, er macht nur einen Scherz. Aber er blickt verschlagen zu mir hoch, als warte er bloß darauf, dass ich mich weigere. Und ich will nicht lä nger hier oben herumstehen, als ich muss. Ich traue Gretchen zu, irgendwas Dummes zu machen.

       «Ich komme nach. »

       Ich drehe mich um, ehe er noch etwas sagen kann. In dem Moment, bevor ich ins Schlafzimmer schaue, sehe ich Gretchen noch auf dem Bett liegen, und diese Erinnerung ist so lebendig, dass ich fast sehe, wie sich ihre gebrä unte Haut von den verblassten blauen Streifen der Matratze abhebt.

       Das Bett ist leer. Ebenso das Zimmer. Auf den Dielenbrettern ist eine schwache Spur, wo ihre Fü ß e den Staub auf beiden Wegen von der Tü r und wieder zurü ck aufgewirbelt haben.

       Ich schließ e das Fenster so gut wie mö glich und mache mich an den Abstieg.

           

       Arnaud und Georges haben bereits eines von den Sanglochons von den anderen getrennt. Ich kann das Quieken und die schroffen Rufe hö ren, wä hrend ich den Pfad zu den Pferchen entlanggehe. Als ich auf die Lichtung trete, treibt Georges das zum Tode verdammte Tier bereits auf das Gatter vom Muttersaupferch zu, das Arnaud aufhä lt. Die anderen Schweine besitzen so viel Vernunft, sich rar zu machen. Sie drä ngen sich am anderen Ende des Pferchs zusammen und laufen so weit wie nur mö glich von den beiden Mä nnern weg. In dem kleineren Pferch nebenan stapft die dunkle Gestalt des Ebers am Zaun auf und ab und grunzt aufgeregt.

       Die Sau, die Georges auf das Gatter zutreibt, ist vergleichsweise klein. Kaum grö ß er als ein Labrador, aber immer noch groß genug, um den kleinen Mann jederzeit umzuwerfen. Trotzdem weiß er augenscheinlich, was er zu tun hat. Er hä lt die Sau in Bewegung, indem er mit einem dicken Stock auf den Rü cken und die Flanken klopft, und lenkt sie mit einem quadratischen Holzbrett, das er gegen den Kopf drü ckt, aus dem Pferch. Weder er noch Arnaud bemerken mich, bis das Schwein aus dem Pferch ist. Arnaud folgt Georges dicht auf den Fersen, der das Tier zu dem kleinen Betongebä ude fü hrt, das etwas abseits steht.

       «Machen Sie das zu», ruft Arnaud mir zu und zeigt auf das offene Gatter. Er geht weg, ohne sich darum zu scheren, ob ich seinen Befehl befolge. Die ü brigen Schweine steuern jetzt neugierig die Ö ffnung im Gatter an, weshalb ich es rasch verschließ e und den Drahtbü gel ü ber den angrenzenden Pfosten hake. Ich hö re Arnaud fluchen und sehe mich um. Er tritt den Spaniel weg, der ihm zu nahe gekommen ist. Der Hund jault auf und rennt Richtung Waldweg.

       Sie kriegen das Sanglochon bis direkt vor den Hü tteneingang, dann wird das Quieken schrill, als wü rde irgendetwas an dieser Hü tte es in Panik versetzen. Georges muss sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das Brett stemmen und das verä ngstigte Tier gewaltsam hineindrü cken, wä hrend Arnaud versucht, es an der Flucht zu hindern.

       «Wollen Sie uns nur zusehen oder was? », brü llt er.

       Ich gehe zu den beiden rü ber und stehe Arnaud gegenü ber. Mit Georges von hinten hat das Sanglochon jetzt keine Chance mehr zu entkommen. Ich lege die Hand auf seinen Rü cken und drü cke es zur Tü r. Sein Fell ist borstig und rau. Kompakt wie ein Sandsack aus Leder. Georges versetzt ihr krä ftige Schlä ge mit dem Stock, und die Sau schieß t durch die Tü r.

       Im Innern werden ihre Schreie von den nackten Wä nden und dem Betonboden noch verstä rkt. Ich stehe im Eingang und zö gere. Ich will keinen Schritt weitergehen.

       «Kommen Sie schon rein. Und Tü r zu», schnappt Arnaud. «Lassen Sie nur den oberen Teil offen. »

       Ich tue, was er von mir verlangt. Die Tü r ist in zwei Hä lften geteilt wie bei einer Stalltü r. In der kleinen Hü tte sind keine Fenster, weshalb die Tü rö ffnung die einzige Lichtquelle ist. Fliegen summen aufgeregt im Innern, und ich versuche, nicht vor dem Gestank nach getrocknetem Blut und Fä kalien zurü ckzuschrecken. In der Mitte der Hü tte ist ein hü fthoher Betonblock. Eine Schiene ist darü ber an der Decke befestig, und von der Schiene hä ngt ein Flaschenzug mit einer Kette und einem Haken. Ich stehe direkt neben der Tü r, wä hrend Georges schon einen langstieligen Vorschlaghammer vom Steinblock nimmt. Der Hammer ist grö ß er als der, den ich benutze, aber der alte Mann hebt ihn ohne Probleme hoch. Seine dicken Unterarme sind von Sehnen und Adern ü berzogen, die hart hervorstehen.

       Das Schwein stolpert in der Ecke hin und her, obwohl es inzwischen zu ahnen scheint, dass es keinen Ausweg gibt. Georges geht zu dem Schwein und holt etwas aus der Tasche. Gemü seabfall. Er wirft die Brocken vor dem Schwein auf den Boden, kratzt es hinter den Ohren und murmelt besä nftigend auf das Tier ein. Nun beruhigt es sich immerhin so weit, dass es das Futter riecht. Es ist noch aufgeregt, aber schnuppert schon neugierig am Gemü se. Georges wartet, bis es den Kopf senkt, um zu fressen. Und dann schlä gt er einfach mit dem Hammer zwischen die Augen des Schweins.

       Bei dem fleischigen Laut zucke ich zusammen. Das Schwein kippt um, und seine Beine zucken wie bei einem Hund, der von der Kaninchenjagd trä umt. Georges packt die Hinterlä ufe, und Arnaud zieht die Kette vom Flaschenzug mit lautem Rasseln herunter. Ihre routinierten Handgriffe wirken fast wie einstudiert. Vermutlich haben sie das hier schon oft getan. Er wickelt die Kette um die Beine des Schweins und schiebt den Haken weiter oben in die Kette, damit sie sich nicht wieder abrollen kann. Als er sich aufrichtet, verzieht er das Gesicht und hä lt sich den Rü cken.

       «Packen Sie mal mit an. »

       Ich rü hre mich nicht.

       «Na los, stehen Sie nicht nur da rum. »

       Ich zwinge mich, nä her zu gehen. Er drü ckt mir die Kette in die Hand. Georges kommt hinzu und hilft mir. Ich habe immer noch die Krü cke unter den Arm geklemmt und zö gere, weil ich nicht weiß, was ich damit machen soll. Dann lasse ich sie einfach gegen die Wand fallen. Arnaud macht Platz. Seine Bewegungen sind steif.

       «Zieht sie hoch. »

       Die Kette ist kalt und rau. Sie lä sst sich fü r ein paar Zoll problemlos bewegen, dann rastet sie ein, weil das Gewicht des Schweins am anderen Ende zieht. Ein stechender Gestank breitet sich aus, als das Schwein den Darm entleert. Die Kette zerrt an meinen Armen, als Georges daran zieht. Ich mache es ihm nach. Ich habe jegliche Willenskraft verloren. Wenn er zieht, ziehe ich auch. Ich spü re die Anstrengung in meinem Rü cken und meinen Armen. Das Hinterteil des Schweins hebt sich zuerst, und schließ lich baumelt es an der Kette. Es zuckt noch, weil es noch lebt. Wir ziehen es hö her.

       «Das reicht. »

       Arnaud lä sst die Kette einrasten, damit sie nicht sofort wieder abrollt. Wir lassen los. Der Flaschenzug quietscht an der Schiene, als Arnaud ihn weiterschiebt, bis das Schwein ü ber dem Steinblock baumelt. Es schwingt wie ein Pendel hin und her. Georges hat vom Haken an der Wand eine lederne Schlachterschü rze genommen, die von den schwarzen Spritzern darauf ganz steif ist. Wä hrend er sie zubindet, holt Arnaud einen breiten Aluminiumeimer aus der Ecke. Er platziert ihn direkt unter dem Kopf des Schweins, den er mit der anderen Hand festhä lt. Georges kommt wieder zum Block und zieht dieses Mal ein Schlachtermesser mit einer langen Klinge. Ich beobachte das alles wie aus groß er Entfernung. Und dann, als Georges auf das Schwein zutritt, dreht Arnaud sich zu mir um und grinst verschlagen.

       «Wollen Sie das machen? »

       Ich taste nach meiner Krü cke, als Georges das Messer an der Kehle des Schweins ansetzt. Hinter meinem Rü cken hö re ich, wie etwas in die Aluminiumwanne klatscht, und dann bin ich drauß en vor der Hü tte. Ich schaffe ein paar Schritte, ehe ich mich ü bergeben muss. Die Eier vom Frü hstü ck kommen mit einem Schwall Galle wieder hoch. In meinen Ohren rauscht es, und mir wird schwarz vor Augen. Ich hö re erneut den dumpfen Schlag des Hammers und sehe, wie aus dem Schä del des Schweins Blut quillt. Andere Bilder ü berlagern das Schwein, ein fallender Kö rper legt sich ü ber den anderen. Jemand schreit, Blut schimmert schwarz unter dem gelblichen Schein einer Straß enlaterne …

       Das Rauschen in meinem Kopf wird wieder zu dem vielstimmigen Summen der Fliegen. Die Lichtung um mich ist wieder da, ich kehre in die Gegenwart zurü ck. Ich hö re jemanden aus der Hü tte kommen.

       «Das vertragen Sie wohl nicht, was? »

       In Arnauds Stimme schwingt unverhohlene Freude mit. Ich richte mich auf und atme ein letztes Mal tief durch. «Mir geht’s gut. »

       «Sie sehen aber nicht so aus. Was ist los? Angst vor so einem bisschen Blut? »

       Er hä lt die Hä nde hoch. Sie glä nzen feucht vom Blut, und schon wieder wallt Panik in mir hoch. Ich zwinge mich, ruhig zu bleiben. «Ich dachte immer, man braucht eine Lizenz, um die eigenen Tiere schlachten zu dü rfen? Ist doch so ein EU-Ding, oder? »

       «Niemand sagt mir, was ich auf meinem eigenen Hof zu tun und zu lassen habe. Schon gar nicht eine Horde Bü rokraten. » Arnaud sieht mich sauer an und zieht einen Lappen aus der Tasche, an dem er sich die Hä nde abwischt. «Bringt mich wieder auf die Frage, warum Sie hier sind? »

       Ich verfluche meinen Kater und versuche, einen klaren Gedanken zu fassen. Arnaud steckt das blutige Tuch wieder ein. «Was meinen Sie? »

       «Es muss doch einen guten Grund dafü r geben, dass ein Stadtjunge wie Sie sich hier versteckt. Vermisst Sie denn keiner? »

       «Nein. »

       «Haben Sie keine Freunde? »

       «Jedenfalls keine, die die ganze Nacht wach liegen und sich fragen, wo ich bleibe. »

       «Aber Familie. »

       «Meine Mutter ist verschwunden, als ich noch ein Kind war, und mein Vater ist tot. »

       «Woran ist er gestorben? Die Schande? » Arnaud grinst grausam. «Sie haben mir immer noch nicht erklä rt, warum Sie sich im Nirgendwo einbuddeln. »

       «Vielleicht geht das ja nur mich was an. »

       «Und was ist, wenn ich finde, es geht auch mich was an? Wenn ich zum Beispiel der Polizei einen Tipp gebe? »

       Merkwü rdigerweise prallt die Drohung an mir ab. «Ich bin sicher, die wü rden sich brennend fü r die Statuen und die Fallen im Wald interessieren. »

       Das Lä cheln verschwindet. Seine hellgrauen Augen werden hart, und dann grinst er wieder. «Also haben Sie doch Eier in der Hose. Wird auch Zeit; ich hab mich schon gefragt, ob Sie ein Weichei sind. »

       Von den Pferchen auf der anderen Seite der Baracke ist ein Knall zu hö ren. Immer noch grinsend, nickt Arnaud in die Richtung.

       «Der alte Bayard riecht das Blut», sagt er beinahe zä rtlich.

       «Bayard? »

       «Der Eber. » Jetzt hö re ich Holz splittern. Arnauds Miene verä ndert sich schlagartig. «Er versucht, aus dem Pferch zu entkommen. »

       Schlechter Rü cken hin oder her, ich kann mit ihm nicht Schritt halten, als er an der Baracke vorbei zum Pferch rennt. Der Zaun beult sich sichtbar an der Stelle, wo sich der Eber wild quiekend dagegenwirft. Eine der Planken ist bereits gesplittert. Als wir nä her kommen, splittert das Holz erneut, und der Riss wird grö ß er. Darunter erkenne ich frisches, weiß es Holz.

       Arnaud schreit den Eber an und klatscht in die Hä nde, sobald er den Zaun erreicht. Das Tier schreit schrill und intensiviert seine Bemü hungen. Arnaud schnappt sich einen Stock und haut damit durch die Bretter auf das Tier ein.

       «Weg, du Mistvieh! Zurü ck! »

       Das Tier ist auß er sich vor Wut. Es bewegt sich sehr viel schneller, als ich es bei seiner Grö ß e vermutet hä tte, und schnappt nach dem Stock. Arnaud zieht ihn zurü ck und lä sst ihn sofort wieder vorschnellen. Es kracht gewaltig, als der Stock bricht.

       Arnaud wirft ihn beiseite. «Georges! », brü llt er ü ber die Schulter. «Er ist fast drauß en! Wir brauchen mehr Bretter! »

       Georges kommt bereits von der Baracke angerannt und streift die Schlachterschü rze im Laufen ab. Aber der Eber wird noch wü tender, als er den Geruch von frischem Blut wittert. Das gespaltene Rundholz gibt nach, und Arnaud springt zurü ck, als das Schwein den Kopf durch die entstandene Lü cke rammt. Seine massiven Schultern drü cken das nä chste Rundholz hoch, das sich nach auß en wö lbt.

       «Das Brett! Schnell! », weist Arnaud mich an und zeigt auf das dicke Sperrholzquadrat, das ein Stü ck weiter steht. Es ä hnelt dem, das Georges zum Treiben des kleineren Schweins benutzt hat. Ich reiche es Arnaud, aber er winkt ab.

       «Geben Sie mir die Krü cke! »

       «Was? »

       «Ihre verdammte Krü cke! » Er wedelt mit der Hand. «Los! »

       Ich zö gere, aber das erneute Splittern von Holz nimmt mir die Entscheidung ab. Ich gebe ihm die Krü cke, und Arnaud stö ß t das gepolsterte Ende ins Gesicht des Ebers. Er quiekt und schnappt danach, reiß t mit dem Hauer die Polsterung auf. Arnaud dreht die Krü cke um und stochert mit dem Schaft durch die Lü cke im Zaun. Der Gummistopfen am unteren Ende berü hrt die Schnauze des Schweins. Arnaud legt sein ganzes Gewicht hinter die Krü cke und schiebt.

       «Halten Sie das Brett bereit! », grunzt er, als der Eber langsam zurü ckweicht. Er schlä gt noch einmal zu. «Jetzt! »

       Ich schiebe das Brett gegen die Lü cke im Zaun. Einen Augenblick spä ter wä re ich fast nach hinten gefallen, weil der Eber seinen Kopf in das Brett rammt. Ich wappne mich fü r den nä chsten Schlag, aber auch der wirft mich fast um, bis Arnaud mir zu Hilfe kommt. Er stemmt sein Bein neben meinem hinter das Brett, wä hrend er ü ber den Zaun hinweg mit der Krü cke auf den Eber einstochert. Selbst jetzt fü hlt es sich noch an, als versuchten wir, einen Bulldozer aufzuhalten.

       Georges taucht wieder auf. In einer Hand ein langes Brett, in der anderen einen Eimer. Ohne innezuhalten, lä sst er das Brett zu Boden fallen und tritt an den Zaun. Er beugt sich darü ber, schlä gt mit der Hand auf die Bretter, ruft den Eber und schnalzt dazu mit der Zunge. Einen Moment lang ist das Tier zu wü tend, um darauf zu reagieren, aber dann bemerkt es den neuerlichen Stö renfried. Bevor es Georges erreicht, kippt dieser etwas aus dem Eimer in den Pferch. Der sü ß lich ü ppige Geruch nach Schlachtabfä llen steigt auf. Der Eber wird langsamer und schnuppert verunsichert an der Gabe. Dann grunzt er ü bellaunig und vergrä bt die Schnauze in dem Futter.

       Arnaud atmet erleichtert aus und tritt zurü ck. Ich mache Anstalten, das Brett von der Lü cke im Zaun zu nehmen.

       «Halten Sie es weiter so fest. »

       Mit steifen Schritten geht er zu Georges. Seine Aufmerksamkeit gilt noch immer dem Schwein, wä hrend der alte Mann ein paar Nä gel und einen Hammer aus der Hosentasche zieht und ihm gibt.

       «Der braucht ’nen neuen Zaun», erklä rt er Arnaud.

       «Das muss fü rs Erste genü gen. »

       Klingt, als wä re das ein altes Streitthema zwischen den beiden. Georges macht mit seinem verbissenen Schweigen klar, was er davon hä lt.

       «Bring ihn hier weg», sagt Arnaud.

       Georges nimmt den Eimer und schnalzt mit der Zunge. Der Eber trottet hinter ihm her wie ein Hü ndchen, wä hrend er den Pferch umrundet. Als er die andere Seite erreicht, kippt er mehr aus dem Eimer. Das Schwein beginnt eifrig zu fressen.

       Arnaud hebt das Brett auf, das Georges fallen gelassen hat. Es kostet ihn sichtlich Mü he, sich zu bü cken. «Okay, jetzt kö nnen Sie loslassen. »

       Meine Beine zittern. Ich hü pfe beiseite und lehne mich gegen den Zaun. Arnaud tritt gegen die Krü cke, die auf dem Boden liegt.

       «Taugt wohl nicht mehr, was? »

       Er hat recht. Das Polster ist zerfetzt, und der Metallschaft ist verbeult und verbogen. Ich stü tze mich testweise darauf. Es ist zwecklos. Ich bin ü berrascht, weil ich mich verloren fü hle, aber das mö chte ich Arnaud auf keinen Fall zeigen.

       «Was frisst er sonst so, wenn es kein Aluminium gibt? », frage ich.

       Arnaud lacht leise. Der Zwischenfall scheint seine Laune gebessert zu haben. «Schweine fressen alles. Und der alte Bayard probiert alles, was er kriegen kann. Sie kö nnen von Glü ck sagen, dass Sie ihm nicht in die Quere gekommen sind. Dann hä tten Sie jetzt nä mlich einen Fuß weniger. »

       Ich schaue unbehaglich zu dem Eber. Arnaud hä lt derweil das Brett vor die Lü cke im Zaun und schlä gt einen Nagel rein. Das Schwein frisst noch und ist inzwischen so friedlich, dass Georges es mit einer langen Bü rste kraulen kann. Jetzt wirkt es ganz ruhig, obwohl ich bemerke, dass der alte Mann lieber auf der anderen Seite des Zauns bleibt. Wä hrend ich rü berschaue, kippt er aus einer Flasche etwas auf den Schweinerü cken, ehe er weiterkrault. Essig, vermute ich. Gretchen hat mir davon erzä hlt.

       «Wird es immer so wild, wenn Sie ein anderes Schwein schlachten? », frage ich.

       Arnaud hat den Mund voller Nä gel. «Wenn der Wind ihm den Blutgeruch rü berweht. »

       «Warum halten Sie sich nicht eins, das nicht so bö sartig ist? »

       Er wirft mir einen sä uerlichen Blick zu, treibt den Nagel mit einem einzigen Hammerschlag ins Holz und wendet sich dem anderen Ende des Bretts zu. «Er ist ein guter Keiler. Die meisten Sauen muss er nur einmal oder zweimal decken, um seinen Job zu erledigen. » Er klingt sichtlich stolz und nimmt den nä chsten Nagel aus dem Mund, den er mit drei Schlä gen versenkt. «Man trennt sich nicht von einem erstklassigen Zuchtkeiler, nur weil er mal Wutanfä lle kriegt. »

       «Was ist mit dem Schwein, das Sie gerade geschlachtet haben? »

       «Sie war unfruchtbar. Ich hab Bayard oft genug mit ihr zusammengebracht, dass es hä tte klappen mü ssen. Wenn sie keine Ferkel werfen, sind sie fü r mich nutzlos. »

       «Kein Wunder, dass er sauer wird, wenn Sie seine Sauen abschlachten. »

       Arnaud lacht. «Das ist Bayard egal. Er war nur ungeduldig, weil er die Schlachtabfä lle kriegt. »

       Er steht auf und verzieht das Gesicht. Mit der einen Hand reibt er sich den Rü cken und hä lt mir mit der anderen den Hammer hin. «Hier. Machen Sie sich gefä lligst nü tzlich. »

       Er ü berlä sst es mir, den Rest zu erledigen, und verlä sst die Lichtung ohne einen Blick zurü ck.




  

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