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LONDON.  KAPITEL 6



LONDON

       Von dem Geld, das Chloe fü r ein Gemä lde bekommt, fahren wir nach Brighton. Der Kä ufer ist ein Kunsthä ndler, der in Notting Hill eine Galerie erö ffnen wird. Das Bild, ein kaltes, abstraktes Gemä lde in Blau und Violett, das ich persö nlich zu dü ster finde, will er fü r sich behalten und nimmt sechs weitere in Kommission, die zur Erö ffnung in der Galerie aufgehä ngt werden.

       «Endlich passiert es! », jubelt Chloe nach dem Telefonat. Sie wirft sich auf mich und schlingt die Beine um mich. «Das passiert wirklich! »

       An diesem Abend feiern wir im Domino. Chloe hat frü her Schluss gemacht und taucht mit ein paar Flaschen Sekt auf, die der Geschä ftsfü hrer spendiert haben soll.

       «Geiziger Mistkerl», grummelt Yasmin. «Es hä tte ihm nicht weh getan, wenn er eine Flasche Champagner springen lä sst. »

       Chloe ist sogar ohne Alkohol vö llig aufgedreht. Sie sprudelt fö rmlich ü ber vor Plä nen und Aufregung.

       «Gott, ich kann’s nicht glauben! Er hat Kontakte in Paris und New York, die alle zu der Erö ffnung kommen wollen. Und der Kunstkritiker der Daily Mail wird auch da sein! »

       «Ich wusste gar nicht, dass in der Daily Mail eine Rubrik fü r Kunstkritik existiert», murmelt Jez. Yasmin versetzt ihm mit dem Ellenbogen einen Rippenstoß und wirft ihm einen strengen Blick zu.

       Chloe hat ihn entweder nicht gehö rt, oder es ist ihr egal. Sie kippt den Sekt wie Wasser runter. «Gott, endlich kann ich diesen Job kü ndigen. Ich kann Vollzeit malen und allen Werbeagenturen sagen, sie kö nnen sich ihre Illustrationen sonst wo hinschieben. »

       Callum hat als seinen Beitrag zu der Party ein Gramm Kokain gekauft. An unserem Tisch in dem dü steren Alkoven hackt er die Lines mit der Kante seiner Kreditkarte auf der Rü ckseite einer Zeitschrift.

       «Was zur Hö lle tust du da? », zischt Yasmin.

       «Ist schon okay, ist doch nur ein kleiner Kick. Und niemand sieht uns hier hinten. Sean, willst du auch eine? »

       «Nein danke. » Ich habe mir nie was aus Kokain gemacht. Soweit ich weiß, trifft das auch auf Chloe zu, weshalb ich davon ausgehe, dass sie auch ablehnt. Zu meiner Ü berraschung tut sie das nicht. «Bist du sicher? », frage ich sie.

       «Warum nicht? » Sie grinst. «Wir haben was zu feiern, oder? »

       «Chloe …», sagt Yasmin warnend.

       «Ist schon in Ordnung. Mach dir keine Sorgen», sagt sie und nimmt Callums Angebot einer zweiten Line an. «Ist doch nur dieses eine Mal. »

       Yasmin beugt sich zu mir her, wä hrend ich mein Glas nachfü lle. «Lass sie nicht mehr nehmen, hö rst du? »

       «Sie hat einfach ein bisschen Spaß », beruhige ich sie. Yasmin ist schwer in Ordnung, aber manchmal ist sie zu streng. «Warum sollte sie nicht koksen? Sie hat sich das hier verdient. »

       «Und was ist, wenn es nicht funktioniert? Sie kann mit Enttä uschungen nicht besonders gut umgehen. »

       «Ach, komm schon, Yasmin. Entspann dich! »

       Sie funkelt mich an. «Bist du wirklich so dumm? »

       Ich blicke ihr ratlos und verletzt nach, als sie den Stuhl zurü ckschiebt und einfach geht. Da ist wohl jemand eifersü chtig, denke ich.

       Brighton ist Chloes Idee. Sie ist in der Woche vor der Galerieerö ffnung so nervö s, dass sie die Fingernä gel bis aufs Nagelbett abgekaut hat. Sie arbeitet den ganzen Tag an ihren Bildern, so lange, bis sie aus der Tü r rennen muss, um zu ihrer Schicht im Domino nicht zu spä t zu kommen.

       «Lass uns wegfahren», sagt sie an dem Abend, als ihre Bilder in die Galerie geliefert wurden.

       «Passt mir gut. Nach der Erö ffnung kö nnen wir …»

       «Nein, jetzt. Diese ganze Warterei macht mich noch wahnsinnig. Ich muss jetzt wegfahren. »

       Der Ferienort ist strahlend weiß, die Sonne scheint, was nach der mü rrischen Dü sternis Londons eine Wohltat ist. Wir sind per Anhalter gefahren und haben lieber nicht Chloes Auto vertraut, das inzwischen nur noch fü r kurze Strecken taugt. Ein neues werden wir kaufen, wenn es mit ihren Bildern so gut lä uft wie erhofft. Sie steckt voller Plä ne und Ideen und ist ü berzeugt, den Wendepunkt ihrer Karriere erreicht zu haben. In den Momenten, wenn sie es schon fast ü bertreibt, fü hle ich mich an Yasmins Warnung erinnert. Aber Chloes neugewonnener Optimismus ist so ansteckend, dass er jeden Zweifel einfach beiseitewischt.

       Wir machen in einem Pub am Meer halt und zahlen absurd viel Geld fü r Bier. Das Versprechen von Chloes Erfolg und der Urlaub machen uns ü bermü tig. Danach bummeln wir durch Secondhandlä den und die Lä den der Wohltä tigkeitsverbä nde und suchen dort nach alten Bilderrahmen, die sie fü r ihre eigenen Werke wiederverwenden kann. Wir finden keine, aber wir kaufen eine alte Sofortbildkamera, zu der es ein halbes Dutzend Polaroids gratis gibt, bei denen man die Folien noch abziehen muss. Wir verknipsen alle Bilder direkt am Meer und zä hlen laut runter, wä hrend wir warten, dass wir die Bilder aufmachen dü rfen. Aber jedes Mal sind nur die nackten Quadrate der Emulsion zu sehen. Bloß ein einziges Bild gelingt, Chloe hat sich in Pose geworfen, steht wie ein Model vor dem Pier und strahlt. Sie hasst das Foto, aber ich halte es hoch ü ber ihrem Kopf auß er Reichweite, wä hrend sie lachend versucht, es mir wegzunehmen, um es zu zerreiß en. Sie besteht darauf, dass wir uns in einem Bed & Breakfast einmieten, das weit ü ber unserem ü blichen Budget liegt, und wir speisen vorzü glich und sehr knoblauchlastig in einem italienischen Restaurant. Wir sind mehr als nur ein bisschen betrunken, als wir zurü ck ins Hotel gehen, und machen laut «Psst» und kichern viel, als wir unser Zimmer aufschließ en. Und dann machen wir noch mehr Lä rm, als wir uns lieben.

       Nach drei Tagen nehmen wir den Zug zurü ck nach London. Ein Luxus, auf dem Chloe besteht, weil wir uns so was jetzt leisten kö nnen. Wir kommen am spä ten Nachmittag heim und erfahren als Erstes, dass der Galeriebesitzer Insolvenz angemeldet hat, die Galerieerö ffnung abgesagt ist und sein ganzes Vermö gen eingezogen wurde. Inklusive Chloes Gemä lde.

       «Das kö nnen sie nicht machen! Diese Scheiß kerle, das dü rfen die einfach nicht! »

       Ich versuche ihr zu erklä ren, dass sie die Bilder bestimmt irgendwann zurü ckbekommt. Aber ich weiß, dass es ihr gar nicht um die Bilder geht. Es ist die Chance, fü r die diese Bilder stehen.

       «Lass mich in Ruhe», sagt sie tonlos, als ich versuche, sie zu trö sten.

       «Chloe …»

       «Ich meine das ernst! Lass mich einfach in Ruhe. »

       Und das tue ich. Ich bin froh, eine Entschuldigung zu haben, um rauszugehen. Ich brauche ein bisschen Zeit fü r mich, um diese ganze Sache irgendwie wegzustecken. Weniger Chloes Enttä uschung, sondern vielmehr dieses gemeine Gefü hl der Erleichterung, das sich bei mir einstellte, als ich vom Bankrott des Galeriebesitzers hö rte. Jetzt wird sich erst mal gar nichts ä ndern.

       Ich ü berlege, Callum anzurufen, aber eigentlich will ich mit niemandem reden. In einem der kleinen Programmkinos lä uft gerade eine Retrospektive. Mit einem halben Dutzend anderen Leute schaue ich hintereinander Alain Resnais’ Muriel und Hiroshima, mon amour. Danach gehen die Lichter wieder an, und ich kehre zurü ck in eine Welt, die so viel lebloser wirkt als die Welten in Schwarz-Weiß, aus denen ich gerade wieder aufgetaucht bin.

       Drauß en regnet es, und in den Bussen drä ngen sich die Pendler. Als ich heimkomme, ist die Wohnung dunkel. Ich schalte die Lichter ein. Chloe sitzt auf dem Fuß boden, und um sie herum liegen die zerfetzten Leinwä nde ihrer Kunst. Sie hat die Tuben mit den Ö lfarben ausgedrü ckt und weggeworfen und ü berall wie im Rausch einen Regenbogen aus Farbe verschmiert. Die Staffelei mit dem unvollendeten Porträ t darauf hat sie umgeworfen und ist dann offensichtlich auf dem Gemä lde herumgetrampelt.

       Chloe erkennt mich nicht. Ihr Gesicht ist von der Farbe verschmiert, wo sie gedankenlos mit den Hä nden darü bergefahren ist. Ich bahne mir behutsam einen Weg zwischen den verstreuten Leinwä nden hindurch zu ihr und ziehe sie an mich. Sie leistet keinen Widerstand.

       «Es kommt alles wieder in Ordnung», verspreche ich ihr automatisch.

       «Ja», sagt sie. Ihre Stimme ist das Einzige in diesem bunten Zimmer, das ohne jede Farbe ist. «Natü rlich. »


[zur Inhaltsü bersicht]


 KAPITEL 6

       Das Gerü st quietscht und schwankt wie ein alter Kahn. Ich klettere die Leiter hoch, eine Sprosse nach der anderen, und stü tze mein Knie auf die hö lzernen Sprossen, statt den verletzten Fuß zu belasten. Es geht kaum schwerer als bei der Treppe hinauf zum Dachboden. Oben ü berprü fe ich erst die wacklige Plattform, ehe ich behutsam einen Fuß daraufsetze und dabei die horizontalen Streben vom Gerü st umfasst halte.

       Das Gerü st fü hlt sich schwindelerregend hoch an. Und der Blick von hier oben ist noch besser als aus dem Dachbodenfenster. Ich bleibe stehen und schö pfe Luft. Ich sehe den See hinter dem Wald und ringsherum die Felder und Hü gel. Das macht mir mehr als alles andere bewusst, wie abgelegen der Hof ist. Ich verschwende ein paar Minuten einfach nur damit, diesen Umstand zu genieß en. Dann drehe ich mich um und nehme in Augenschein, worauf ich mich eingelassen habe.

       Etwa die Hä lfte der Fassade an der Vorderseite und den beiden Schmalseiten des Hauses ist eingerü stet. Jemand hat den Mö rtel zwischen den Steinen herausgehackt, und einige sind sogar ganz herausgenommen und auf den Bohlen abgelegt worden. Ein Vorschlaghammer und ein Meiß el liegen daneben. Beide sind schon rostig, der Hammer ist schwer wie ein Ziegelstein und der Griff vom Alter und dem Gebrauch ganz glatt. Der Meiß el ist wie ein Messer geformt und hat kein flaches Blatt wie der andere, der unten auf dem Pflaster liegt. Als ich mit ihm an der Wand kratze, fä llt der Mö rtel mir fö rmlich entgegen. Wenn das ganze Haus in diesem Zustand ist, ist es ein Wunder, dass es noch steht.

       Plö tzlich bin ich ü berzeugt, einen Fehler zu machen. Ich weiß, wie man Mö rtel mischt, und habe mich auch schon mal daran versucht, etwas zu mauern. Das ist aber schon Jahre her. Die wenigen Monate, die ich als Arbeiter auf einer Baustelle verbracht habe, haben mich wohl kaum fü r eine Aufgabe wie diese vorbereitet.

       Ohne auf meine Fü ß e zu schauen, mache ich einen Schritt nach hinten. Dabei stö ß t meine Krü cke an einen der Steine, die auf den Bohlen liegen. Ich stolpere gegen die horizontalen Verstrebungen des Gerü sts, die die Brü stung bilden, und fü r einen Moment hä nge ich im Leeren, mit nichts zwischen mir und dem Hof in zehn Metern Tiefe. Dann reiß e ich mich zurü ck und bringe den Turm dazu, protestierend zu schwanken und zu quietschen.

       Langsam nur lä sst die Bewegung nach. Ich lege meinen Kopf gegen den Pfeiler.

       «Was ist passiert? »

       Ich schaue nach unten. Gretchen ist aus dem Haus gekommen und steht mit Michel auf dem Arm im Hof.

       «Nichts. Ich … ü berprü fe nur das Gerü st. »

       Sie beschattet die Augen mit einer Hand und legt den Kopf in den Nacken, um zu mir aufzublicken. «Es klang eher so, als wü rde es gleich zusammenkrachen. »

       Ich wische meine feuchten Handflä chen an der Jeans ab. «Noch nicht. »

       Sie lä chelt. Sie hat seit dem Nachmittag, als ich ihr erzä hlte, dass ich fortwollte, kaum mit mir gesprochen. Aber inzwischen hat sie wohl beschlossen, mir zu verzeihen. Ich warte, bis sie wieder im Haus verschwunden ist. Dann setze ich mich mit weichen Knien auf die Bohlen. Himmel, was habe ich hier zu suchen?

       Seit Mathilde mir den Job angeboten hat, sind zwei Tage vergangen. Anfangs war ich einfach nur zufrieden, mich ausruhen zu kö nnen und wieder zu Krä ften zu kommen. Zusä tzlich gefö rdert wurde meine Rekonvaleszenz durch die Erleichterung, einen unerwarteten Rü ckzugsort gefunden zu haben. Den gestrigen Tag verbrachte ich zum grö ß ten Teil unten am See, wo ich halbherzig den Versuch unternahm, unter der alten Kastanie auf dem Steilhang Madame Bovary zu lesen. Manchmal konnte ich sogar den Grund vergessen, warum ich hier war. Dann wurde ich wieder daran erinnert, und es fü hlte sich an, als wü rde ich fallen. Schon bald nagten die Gedanken wieder an mir. Gestern Nacht war es am schlimmsten gewesen. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn ich in den Schlaf glitt, wachte ich sofort keuchend und mit rasendem Herzen auf. Als ich an diesem Morgen sah, wie es hinter dem kleinen Fenster auf dem Dachboden erst grau und dann hell wurde, wusste ich, dass ich nicht einen weiteren tatenlosen Tag ertragen wü rde.

       Ich hatte gehofft, kö rperliche Arbeit kö nnte helfen. Jetzt bin ich hier oben, und allein das Ausmaß der Aufgabe flö ß t mir gehö rigen Respekt ein. Ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll. Komm schon, du schaffst das. Es ist nur eine Wand.

       Ich stehe auf und stelle mich dem Haus. Ein Stü ck weiter sind zwei Schlafzimmerfenster. Das eine ist hinter Holzfensterlä den verborgen, aber beim anderen kann ich hinter der staubigen Scheibe den leeren Raum erkennen. Nackte Dielenbretter und abblä tternde Tapeten, ein alter Schrank und ein eisernes Bettgestell mit einer gestreiften Matratze, mehr ist da nicht. An der gegenü berliegenden Wand steht eine Kommode und darauf ein gerahmtes Foto. Es sieht wie ein Hochzeitsfoto aus – der Mann trä gt einen dunklen Anzug, die Frau ist ganz in Weiß. Es ist zu weit weg, um irgendwelche Details zu erkennen, aber ich vermute, es wird sich um Arnaud und seine Frau handeln. Es scheint das richtige Jahrzehnt zu sein, und ich wü rde nichts anderes von ihm erwarten, als dass er sein Hochzeitsfoto in einem unbenutzten Zimmer wegschließ t.

       Diesmal achte ich darauf, wohin ich die Krü cke setze, schlurfe ü ber das Gerü st und schaue um die Ecke auf die Stirnseite des Hauses. Hier sieht alles ebenso unfertig aus wie an der Vorderseite. Als wä re jemand bei der Arbeit gestö rt worden. Auf halber Strecke steht auf einer zusammengefalteten Boulevardzeitung eine groß e Tasse. Darin auf einem braunen, angetrockneten Kaffeerest eine tote Fliege. Die Zeitung ist brü chig wie Pergament, als ich sie hochhebe. Das Datum liegt achtzehn Monate zurü ck. Ich frage mich, ob irgendwer hier oben gewesen ist, seit der unbekannte Bauarbeiter seinen Kaffeebecher geleert und ihn auf die Zeitung gestellt hatte, ehe er fü r immer verschwand. Vielleicht war das gar nicht so dumm von ihm, wenn man bedenkt, wie viel hier noch zu tun ist, ü berlege ich.

       Hinter dem Haus bricht ein Tumult los. Ich humple zum Ende des Gerü sts und schaue auf den Kü chengarten hinunter. Gerade Reihen mit Gemü se und aus Rohrstock errichtete Tipis fü r die Bohnenranken bilden eine Oase der Ordnung. Dahinter gibt es eine eingezä unte Wiese mit Obstbä umen und einem Hü hnerhaus.

       Mathilde fü ttert die Hü hner. Ich beobachte, wie sie Hä nde voll Getreide fü r das Federvieh wirft, das sich gackernd darum zankt. Sie stellt den leeren Eimer ab. Da sie sich unbeobachtet fü hlt, ist sie nicht auf der Hut wie sonst, und ich sehe, wie mü de und traurig sie aussieht. Sie geht zu einer Ecke des Gartens, wo etwas versteckt ein kleines Blumenbeet liegt. Ein heller Farbtupfer inmitten der eher praktischen Gemü sebeete. Leise Tö ne dringen bis zu mir herauf. Sie summt vor sich hin. Eine bedä chtige, hü bsche Melodie, die ich nicht kenne.

       Leise ziehe ich mich zurü ck. An der Vorderseite des Hauses blendet mich die Sonne. Zu dieser Tageszeit gibt es keinen Schatten auf dem Gerü st, und meine Haut beginnt schon zu prickeln, wo sie ungeschü tzt der Sonne ausgesetzt ist. Ich schaue auf die Uhr. Nach Mittag. Wenn ich noch lä nger hier oben bleibe, werde ich vermutlich langsam gerö stet. Die Metallstreben des Gerü sts brennen unter meinen Hä nden, als ich mich auf die Leiter runterlasse und mich langsam an den Abstieg mache. Als ich das untere Ende erreiche, kommt Mathilde um die Hausecke und wischt sich die Hä nde an einem Tuch sauber.

       «Du hast dir die Sache angeschaut? », fragt sie. Die Traurigkeit, die ich vorhin im Garten gesehen habe, ist verschwunden und hat der ü blichen Ruhe Platz gemacht. «Was denkst du? »

       «Tja, also … das ist mehr Arbeit, als ich dachte. »

       Mathilde schaut zu dem Gerü st hoch und beschattet die Augen vor der Sonne wie Gretchen vorhin. Ihre Haare sind in der Sonne gar nicht so viel dunkler als die ihrer Schwester. Es wirkt vielmehr so, als werde das Licht davon absorbiert.

       «Du musst nicht sofort anfangen. Nicht, solange du dich nicht in der Lage dazu fü hlst. »

       Ich mache mir weniger um meine Gesundheit Sorgen. Zwar ist es nicht leicht, das Gewicht da oben nicht auf den verletzten Fuß zu verlagern, und nach der Kletterpartie hat er wieder begonnen zu pochen. Aber arbeiten ist allemal besser, als weiter untä tig herumzusitzen.

       «Ich zeige dir, wo alles ist. »

       Sie geht zu der Tü r, an der Arnaud mich vor ein paar Tagen erwischt hat. Die Angeln der verzogenen Tü r quietschen, als sie sie ö ffnet und Licht in einen Raum lä sst, der sich als eine kleine, fensterlose Vorratskammer erweist. Eine Welle kalte, feuchte Luft kommt uns entgegen, und nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit gewö hnt haben, erkenne ich das Durcheinander aus Werkzeug, Sandsä cken und Zementsä cken. Wie dem Gerü st haftet dem Raum etwas von einem Geisterschiff an. Ich muss an die Mary Celeste denken. Eine Spur aus Zementstaub ist aus einem Papiersack gerieselt, in dem immer noch eine Schaufel aufragt, wä hrend eine Kelle aus einem Berg aus steinhartem Mö rtel ragt wie das Excalibur des Bauarbeiters. Nach den Spinnweben zu urteilen, die ü berall hä ngen, hat seit Monaten niemand mehr diese gespenstische Ruhe gestö rt.

       Die Tü rangeln stö hnen, als die Tü r hinter uns wieder zuschwingt und alles Licht aussperrt. Ich drehe mich um, weil ich die Tü r aufhalten will, und mache ü berrascht einen Satz, weil ich jemanden dahinter stehen sehe. Aber es ist nur ein alter Overall, der an einem Nagel hä ngt. Wenigstens hat Mathilde nicht bemerkt, wie nervö s ich bin. Sie steht neben der Tü r, als widerstrebe es ihr, nur einen Schritt weiterzugehen.

       «Hier sollte eigentlich alles sein, was du brauchst. »

       Ich schaue mich in dem Durcheinander in der Kammer um. «Hat dein Vater schon mit der Arbeit angefangen? »

       «Nein. Ein Mann aus der Gegend. »

       Ich versetze dem Griff der Kelle, die tief in dem harten Mö rtel steckt, einen Stups. Sie vibriert wie eine Stimmgabel.

       «Warum hat er die Arbeit nicht vollendet? »

       «Es kam zu einer Meinungsverschiedenheit. »

       Mehr sagt sie dazu nicht. Ich untersuche den Zement. Feuchtigkeit hat das graue Puder aus dem aufgerissenen Sack zusammenklumpen lassen. Als ich gegen die versiegelten Sä cke stoß e, sind sie steinhart.

       «Ich werde Zement brauchen. Die Feuchtigkeit hat den hier verdorben. »

       Mathilde hat die Arme fest um ihren Oberkö rper geschlungen. «Brauchst du ihn jetzt schon? Kannst du nicht vorher etwas anderes machen? »

       Abschä tzend betrachte ich die Sä cke, obwohl ich weiß, dass es nur darum geht, Zeit zu schinden. «Ich nehme an, ich kann auch erst den alten Mö rtel aus den Fugen kratzen», sage ich zweifelnd.

       «Gut», sagt sie und geht wieder hinaus in den Hof.

       Ich schaue mich ein letztes Mal in dem dunklen Raum mit den Werkzeugen um, die jemand einfach so liegen gelassen hat. Erst dann folge ich ihr ins Sonnenlicht. Mathilde wartet im Innenhof, und obwohl ihr Gesicht so undurchdringlich ist wie immer, wirkt sie sehr blass.

       «Alles in Ordnung? », frage ich.

       «Natü rlich. » Ihre Hand fä hrt zu den Haaren und schiebt sie automatisch zurü ck. «Gibt’s sonst noch was, das du im Moment brauchst? »

       «Na ja, mir sind die Zigaretten ausgegangen. Gibt’s irgendwo in der Nä he einen Laden, wo ich welche kaufen kann? »

       Sie denkt ü ber dieses neue Problem nach. «Es gibt eine Tankstelle mit Bar-Tabac, aber das ist zu weit, um …»

       Die Haustü r ö ffnet sich, und Gretchen taucht auf. Sie trä gt Michel auf einer Hü fte, und sie presst die Lippen aufeinander, als sie uns sieht. Sie ignoriert mich und wirft ihrer Schwester einen verdrieß lichen Blick zu.

       «Papa will ihn sehen. » Mit grimmiger Zufriedenheit nickt sie zu mir herü ber. «Allein. »

           

       Es ist das erste Mal, dass ich ins Haus darf, seit ich damals nach Wasser gefragt habe. Die Kü che hat eine niedrige Decke und ist dü ster. Die dicken Wä nde und die kleinen Fenster sind wie geschaffen, damit es in der Sommerhitze schö n kü hl bleibt. Es riecht nach Bienenwachs, nach gekochtem Fleisch und Kaffee. Ein alter Herd dominiert die eine Wand, und die schweren Holzmö bel sehen aus, als stü nden sie schon seit Generationen hier. Die zerkratzten weiß en Kä sten, der Kü hlschrank und der Gefrierschrank, wirken in dieser Umgebung geradezu aufdringlich modern.

       Arnaud sä ubert seine Waffe an einem vernarbten Holztisch. Die Halbmondbrille, die auf seiner Nase sitzt, verleiht ihm ein gelehrtes Aussehen, das ich nur schwer mit dem Mann zusammenbringe, der mich die Treppe runtergeworfen hat. Er blickt nicht auf und arbeitet weiter an dem Gewehr, als wä re ich gar nicht da. Ich nehme den Geruch nach Waffenö l wahr und nach etwas anderem, von dem ich vermute, es ist Kordit. Er schiebt eine lange Drahtbü rste in den Lauf seines Gewehrs. Ein sanftes Flü stern ist zu hö ren, wä hrend er die Waffe sä ubert.

       Ich verlagere mein Gewicht auf die Krü cke. «Sie wollten mich sehen? »

       Er schaut ohne Eile durch den Lauf, ehe er die Waffe senkt. Dann nimmt er die Brille ab, klappt sie zusammen, steckt sie in die Brusttasche und lehnt sich zurü ck. Erst danach blickt er mich an.

       «Mathilde meint, Sie suchen einen Job. »

       Das gibt unser Gesprä ch nicht unbedingt wieder, aber ich verzichte darauf, ihn zu korrigieren. «Wenn’s einen gibt …»

       «Das ist die Frage, nicht wahr? » Arnauds Kiefer mahlen. Darunter hat die Haut an seinem Hals im Laufe der Jahre ihre Spannkraft verloren. «Meine Tochter kann Ihnen sagen, was sie gerne haben mö chte, aber ich bin derjenige, der entscheidet, wer hier arbeitet. Schon mal auf einem Hof gearbeitet? »

       «Nein. »

       «Irgendwelche Erfahrungen auf dem Bau? »

       «Nicht viel. »

       «Und wieso sollte ich Ihnen dann eine Chance geben? »

       Mir fä llt eigentlich auch kein guter Grund ein. Ich bleibe also stumm und versuche, nicht auf das Gewehr zu starren. Arnaud schnaubt.

       «Warum sind Sie ü berhaupt hier? »

       Mir liegt schon fast auf der Zunge, ihm zu erklä ren, dass seine Fallen daran schuld sind, aber das wü rde ihn nur provozieren. Selbst wenn ich mir nicht mehr so groß e Sorgen mache, dass er auf mich schieß en kö nnte, bin ich mir auf unangenehme Art bewusst, dass jedes Jobangebot allein von seiner Gunst abhä ngt.

       «Was meinen Sie damit? »

       «Ich meine, was Sie hier zu suchen haben. Wieso wandern Sie durch ein fremdes Land wie ein Landstreicher? Sie sind zu alt, um noch Student zu sein. Womit verdienen Sie Ihr Geld? »

       Ich erkenne an seinem Verhalten, dass Gretchen ihm etwas erzä hlt haben muss. «Ich hatte da ein paar Jobs. »

       «Nur ein paar? Sie geben wohl nicht gern allzu viel preis, kann das sein? Haben Sie was zu verbergen? »

       In diesem Moment habe ich das Gefü hl, nichts zu wiegen. Ich bin mir bewusst, wie verrä terisch meine Wangen sich rö ten, weil mir Blut ins Gesicht schieß t. Aber ich zwinge mich, seinen Blick zu erwidern.

       «Nein. Warum sollte ich? »

       Arnauds Mund arbeitet, entweder eine Angewohnheit, oder er kaut auf einem Essensrest herum, den er zwischen seinen Zä hnen gefunden hat. «Ich erwarte von den Leuten, meine Privatsphä re zu respektieren», sagt er schließ lich. «Sie bleiben auf jeden Fall in der Scheune. Sie kö nnen Ihre Mahlzeiten da drü ben bekommen. Ich will Sie nicht hä ufiger sehen als unbedingt nö tig. Ich zahle Ihnen fü nfzig Euro pro Woche, wenn ich finde, dass Sie sich das Geld verdient haben. Nehmen Sie’s, oder lassen Sie’s bleiben. »

       «Okay. »

       Es ist ein Hungerlohn, aber das Geld ist mir egal. Dennoch lä sst das Funkeln in Arnauds Augen mich bereuen, so schnell zugestimmt zu haben. Es ist ein Fehler, ihm gegenü ber auch nur ansatzweise Schwä che zu zeigen.

       Er mustert mich von oben bis unten und versucht, mich einzuschä tzen. «Das ist alles Mathildes Idee und nicht meine. Sie gefä llt mir nicht, aber am Haus muss viel getan werden, und weil sie anscheinend denkt, wir sollten einen englischen Versager dafü r einstellen, lass ich ihr den Willen. Ich werde Sie trotzdem im Auge behalten. Kommen Sie mir nur einmal in die Quere, dann werden Sie’s bereuen. Ist das klar? »

       Und ob. Er starrt mich noch ein paar Augenblicke an, bis er sicher ist, dass seine Worte ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Dann greift er wieder nach dem Gewehr.

       «Und jetzt verschwinden Sie. » Er beginnt, mit einem ö ligen Tuch die Waffe zu polieren. Ich humple zur Tü r und bin gleichermaß en wü tend und gedemü tigt. «Eine Sache noch. »

       Arnauds Augen sind eiskalt, als er mich ü ber den Lauf des Gewehrs hinweg anstarrt.

       «Halten Sie sich von meinen Tö chtern fern. »


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