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LONDON.  KAPITEL 5



LONDON

       Callum ereiferte sich immer noch, als ich vom Tresen zurü ckkam.

       «Ach, komm schon! Haben wir ü berhaupt denselben Film geguckt? Sag schon, hast du denselben Film gesehen? Bei mir war es Das letzte Kommando. Und bei dir? »

       «Ich sage doch nur, dass in dem Film stereotype Charaktere gezeichnet werden. Da wä re einmal der verhä rtete Angeber, der Anfä nger, die Spielfigur …»

       «Das sind Archetypen, keine Stereotypen. Ich kann nicht glauben, dass dir entgangen ist, wie …»

       «Mir ist gar nichts entgangen. Ich finde einfach, es ist … tja, keine Ahnung …»

       «Genau! »

       «Callum, wieso hä ltst du nicht den Mund und lä sst Jez ausreden? », mischt sich Yasmin ein.

       «Das wü rde ich, wenn er nicht nur Scheiß e labern wü rde. »

       Ich stelle die Geträ nke auf den Tisch. Bier fü r Callum, Yasmin und mich, Orangensaft fü r Chloe, Wodka fü r Jez. Chloe schenkt mir ein Lä cheln und verdreht die Augen, als ich mich wieder zu ihnen setze.

       Yasmin wendet sich an mich. «Sean, sag Callum bitte, dass es mö glich ist, Aspekte eines Films mit Jack Nicholson vorurteilsfrei zu diskutieren, ohne gleich wegen Hä resie verbrannt zu werden. »

       «Sean ist meiner Meinung», wirft Callum ein. «Nicholson ist der beste Schauspieler seiner Generation, ohne jede Einschrä nkung. »

       «Ein ehemaliger Aushilfsschauspieler, der Glü ck gehabt hat», sagt Chloe. Sie wirft mir einen raschen Blick zu, um mir zu bedeuten, dass sie Callum absichtlich aufzieht. Und wie jedes Mal beiß t er an.

       «Quatsch! Da muss ich doch nur einen Titel nennen, und du bist widerlegt, Chloe. Einer flog ü bers Kuckucksnest. Mehr nicht. » Er lehnt sich zurü ck und verschrä nkt die Arme, als habe er die Diskussion damit fü r sich entschieden.

       «Das war eine Traumrolle. Jeder halbwegs anstä ndige Schauspieler wä re damit durchgekommen», sagt Yasmin und verdreht die Augen. Sie hat die Haare zurü ckgekä mmt und trä gt weite, schwarze Sachen, weil sie, wie Chloe mir mal anvertraut hat, wegen ihres Gewichts Komplexe hat.

       «Ach, komm schon! Und was ist mit Chinatown? Oder Departed – Unter Feinden? »

       «Was soll damit sein? » Chloe beginnt, an den Fingern abzuzä hlen: «Die Hexen von Eastwick. Mars Attacks. Batman. Der beste Schauspieler seiner Generation? Schon klar. »

       Jez runzelt die Stirn. «Batman war in Ordnung. Allerdings nicht so gut wie The Dark Knight. »

       Niemand nimmt von ihm Notiz. Er hat den ganzen Abend getrunken und den Gesprä chsfaden schon vor einer halben Stunde verloren. Er arbeitet ebenso wie Callum an der Sprachenschule in Fulham, an der auch ich seit ein paar Monaten unterrichte. Yasmin ist seine Freundin und Chloes beste Freundin seit ihrer gemeinsamen Zeit an der Kunstschule. Sie hat frü her auch an der Sprachenschule gearbeitet, bis sie einen besser bezahlten Job an der Uni angeboten bekam.

       Ich liebe diese Freitagabende. Die Kurse enden frü her, und ein paar von uns gehen noch weg. Wir essen was und gehen dann in eines der unabhä ngigen, kleinen Kinos, die nur wenige U-Bahn-Stationen von der Sprachenschule entfernt liegen. Callum ist von Filmen besessen, entflammt immer wieder fü r andere Schauspieler, Drehbuchschreiber und Regisseure. Vor nicht allzu vielen Wochen hat er fü r Terrence Malick geschwä rmt. Und nachdem wir kü rzlich eine Auffü hrung von Die Kunst zu lieben gesehen haben, ist fü r die nä chsten Wochen Jack Nicholson sein Gott.

       Ich nehme einen Schluck Bier und streichle unter dem Tisch Chloes Oberschenkel. Sie drü ckt meine Hand und lä chelt. Dann richtet sie sich auf und schiebt ihren Stuhl zurü ck.

       «Ich gehe wohl lieber zurü ck. »

       Sie beugt sich herunter und kü sst mich. Ihre kurzen Haare berü hren einen Moment mein Gesicht, dann ist sie fort und geht an die Bar. Das Domino liegt in der Nä he der King’s Road und nicht weit von einem unserer Stammkinos, aber wir kommen vor allem deshalb immer her, weil Chloe hier arbeitet. Es ist dunkel und modern eingerichtet. Blaue Lichter beleuchten die Flaschen an der Wand hinter der Bar. Wir kö nnten es uns nie leisten herzukommen, wenn Chloe uns nicht billige Drinks besorgen kö nnte. Sie sagt, der Geschä ftsfü hrer weiß Bescheid, also nehme ich an, das ist okay. Trotzdem frage ich mich manchmal, ob er weiß, wie groß zü gig er ist.

       Ich blicke hinter ihr her. Sie lacht ü ber etwas, das Tanja sagt, die auch hier arbeitet. Dann nimmt sie ein volles Tablett und beginnt zu servieren. Freitags ist viel los.

       «Chloe geht’s doch gut, oder? », fragt Yasmin.

       Ich drehe mich zu ihr um. Sie lä sst Chloe auch nicht aus den Augen. «Klar. Wieso sollte es ihr nicht gut gehen? »

       Yasmin lä chelt und sagt mit einem Schulterzucken: «Ach, nur so. Ich habe bloß laut gedacht. »

       Das scheint mir eine merkwü rdige Begrü ndung zu sein. Aber ich werde abgelenkt, weil Callum anfä ngt, ü ber Kurosawa herzuziehen.

       «Bitte sag mir, dass das nicht dein Ernst ist», sage ich und stelle mein Bier ab.

       Fü nf Minuten spä ter habe ich vergessen, was Yasmin gesagt hat.

           

       Aber ich erinnere mich spä ter in der Nacht wieder an ihre Worte. Ich muss warten, bis die Bar schließ t und Chloe die glä nzende Edelstahltheke abgewischt hat und alle Glä ser weggerä umt sind. Erst dann kö nnen wir heimgehen.

       Drauß en wartet Tanja auf ihren Freund, der sie abholt. Wir wü nschen ihr eine gute Nacht und machen uns auf den Weg, nach Hause. Fü r die U-Bahn ist es zu spä t, und Taxis sind ein seltener Luxus, aber bis Earl’s Court ist es auch nicht so weit. Kalt ist es trotzdem. Der Vollmond steht am klaren Himmel, und auf dem Pflaster glitzert der Frost wie Diamantensplitter.

       Ich ö ffne meinen Mantel und wickle ihn um uns beide. Chloe schiebt den Arm um meine Taille. Ihr Kö rper drü ckt sich warm gegen meine Brust. Die Geschä fte, an denen wir vorbeikommen, sind verrammelt, und die angeschlagenen Titelseiten vom Evening Standard verkü nden Nachrichten, die schon wieder veraltet sind. Ich sollte vermutlich nervö ser sein, weil wir so spä t durch diesen Teil der Stadt laufen. Aber das bin ich nie. Die Gegend ist mir zu vertraut, um eine Bedrohung darzustellen.

       Wir lachen leise, um die Nachbarn nicht aufzuwecken, als wir die Straß e zur Wohnung ü berqueren. Autos parken am Straß enrand. Dunkle Metallsilhouetten, die Kä lte verströ men. Aus dem Augenwinkel entdecke ich eine Gestalt, die sich aus den Schatten lö st und in unsere Richtung kommt.

       Ich gehe weiter und habe den Arm beschü tzend um Chloe gelegt. Der Mann ist ein groß er, bulliger Kerl in einer dicken, wattierten Jacke. Seine Beanie-Mü tze hat er fast bis zu den Augen heruntergezogen.

       «Haste mal die Uhrzeit? », fragt er. Seine Hä nde stecken in den Jackentaschen, aber am Handgelenk der Linken kann ich seine Uhr aufblitzen sehen. Mein Herz fä ngt an zu rasen. Wir hä tten wohl doch lieber ein Taxi nehmen sollen.

       «Zehn nach drei», sage ich und schaue nur flü chtig auf meine Uhr. Sie ist ganz neu, ein Geburtstagsgeschenk von Chloe. Ich versuche, mich nicht allzu offensichtlich vor sie zu schieben, als er einen Schritt auf uns zumacht. Eine seiner Hä nde kommt langsam aus der Jackentasche und hä lt etwas Metallisches umfasst.

       «Lenny? »

       Der Mann bleibt stehen. Er schwankt. Ob er betrunken ist oder es einen anderen Grund dafü r gibt, kann ich nicht erkennen. Chloe macht einen Schritt nach vorne.

       «Lenny, ich bin’s. Chloe. »

       Er schaut sie einen Moment lang an, dann nickt er ganz leicht.

       «Wer ist das? »

       Er zeigt auf mich, ohne sie aus den Augen zu lassen.

       «Ein Freund. »

       Sie versucht, ihre Anspannung vor mir zu verbergen. Wer dieser Mann auch ist, sie hat Angst vor ihm.

       Er lä chelt schwach. «Ein Freund. »

       Seine Hand steckt noch halb in der Tasche, als habe er sich noch nicht entschieden. Ich will sie fragen, wer er ist und was hier eigentlich los ist. Aber mein Hals ist wie zugeschnü rt.

       «Also dann … mach’s gut, Lenny. »

       Chloe packt meinen Arm und zieht mich mit sich. Sie geht voran, und Lenny rü hrt sich nicht. Ich spü re, wie er hinter uns herstarrt. Meine Beine bewegen sich hö lzern. Als wir die andere Straß enseite erreichen, drehe ich mich um, aber die Straß e ist leer.

       «Wer war das? »

       Ich bin wü tend, weil ich fast flü stere. Chloe zittert neben mir. Ihr Gesicht wirkt klein und blass, und ich weiß nicht, ob das an der Kä lte liegt oder andere Grü nde hat.

       Die Wohnung liegt im obersten Stockwerk eines gedrungenen Betonkomplexes. Wir gehen durchs Treppenhaus, in dem es immer nach Pisse stinkt, und schließ en die Wohnungstü r auf. Die Wohnung ist so wenig das Atelier einer Kü nstlerin wie nur irgendwas, aber die Oberlichter im Flachdach geben dem Raum viel Helligkeit. Und Kä lte. Auß erdem ist die Wohnung billig. Die Terpentindä mpfe und der Geruch nach Ö lfarben liegen schwer auf meiner Zunge, sobald wir in der Wohnung stehen. Keiner von uns macht Anstalten, das Licht einzuschalten. Ihre Leinwä nde stehen an den Wä nden unseres Wohnzimmers aufgereiht. Weiß umrahmte Rechtecke, auf denen die Bilder in der Dunkelheit nicht zu erkennen sind. Ein unfertiges Porträ t von mir steht auf der Staffelei am Fenster.

       Ich stehe in der Tü r zum Schlafzimmer und sehe zu, wie Chloe den Heizstrahler einschaltet. Ein leises Summen kommt von dem Gerä t, als das Heizelement sich aufwä rmt und gelb glü ht.

       «Wirst du mir erzä hlen, was da gerade passiert ist? »

       Chloe wendet mir den Rü cken zu und beginnt sich auszuziehen. «Das war jemand, den ich mal kannte. »

       In meiner Brust und meinem Hals schwillt etwas an. Es dauert einen Moment, bis ich erkenne, was es ist. Eifersucht.

       «Du meinst, du bist frü her mit ihm ausgegangen? »

       «Mit Lenny? » Ihre Ü berraschung ist echt. «Gott, nein. »

       «Und was dann? »

       Sie kommt in Unterwä sche zu mir und legt die Arme um mich. «Sean …»

       Ich lö se mich aus ihrer Umarmung. Ich weiß nicht, ob ich wü tend bin, weil ich mich da drauß en so hilflos gefü hlt habe oder weil ich plö tzlich den Eindruck habe, sie ü berhaupt nicht zu kennen. Sie seufzt.

       «Er war frü her Kunde in einer Bar, in der ich gearbeitet habe. Okay? Da trifft man lauter Typen. Mehr nicht. »

       Sie blickt aufrichtig zu mir hoch.

       «Okay», sage ich.

       Ich ziehe mich auch aus, und wir gehen ins Bett. Wir liegen in der Dunkelheit und berü hren uns nicht. Sogar mit dem Heizstrahler ist die Luft im Schlafzimmer eisig. Chloe rü hrt sich und rutscht zu mir herü ber. Sie kü sst mich, flü stert meinen Namen. Wir lieben uns, aber danach liege ich wach und starre im Dunkeln zum Oberlicht hoch.

       «Yasmin hat da heute Abend was Komisches gesagt», erzä hle ich ihr. «Sie fragte, ob es dir gut geht. Was hat sie damit gemeint? »

       «Ich weiß nicht. So ist Yasmin eben. »

       «Es gibt da also nichts, was ich wissen sollte? »

       In der Dunkelheit kann ich ihr Gesicht nicht sehen. Aber ein Funkeln verrä t mir, dass sie die Augen offen hat.

       «Natü rlich nicht», sagt sie. «Was soll denn da sein? »


[zur Inhaltsü bersicht]


 KAPITEL 5

       Ich habe gepackt und bin bereit zum Aufbruch, als Mathilde am nä chsten Morgen auf den Dachboden kommt. Ich weiß, dass sie es ist, denn ich kann inzwischen ihre gleichmä ß igen Schritte und das Schlappen von Gretchens Flipflops unterscheiden. Ihr Blick huscht zu dem verschnü rten Rucksack neben dem Bett, aber wenn sie irgendwelche Schlü sse daraus zieht, behä lt sie diese vorerst fü r sich. Sie trä gt ein Tablett mit einem Teller und frischem Verbandszeug. Und an diesem Morgen gibt es noch eine besondere Kö stlichkeit: eine dampfende Schale mit Kaffee.

       «Ich habe dir Frü hstü ck gebracht», sagt sie und stellt das Tablett ab. «Kann ich den Verband wechseln? »

       Ich setze mich auf die Matratze und rolle das Hosenbein meiner Jeans hoch. Der Verband ist von meinem gescheiterten nä chtlichen Ausflug ausgefranst und verdreckt. Wenn der Verband nicht wä re, kö nnte ich fast glauben, das alles nur geträ umt zu haben. Bei Tageslicht wirkt die Erinnerung an die stumme Versammlung der Statuen ziemlich unwirklich, und ich habe mich inzwischen erfolgreich davon ü berzeugt, dass der Schrei, den ich gehö rt habe, nur von einem Fuchs gekommen ist. Vermutlich ist er in eine von Arnauds Fallen gegangen.

       Ich kann ihm nachfü hlen, dass er so schreit.

       «Kannst du mich spä ter zur Straß e fahren? », frage ich, wä hrend Mathilde beginnt, den Verband abzuwickeln. Sie kommentiert die Schmutzrä nder nicht.

       «Du willst schon weg? »

       «Direkt nach dem Frü hstü ck. Ich wü rde lieber frü h aufbrechen. »

       Die Entscheidung war gefallen, als ich an diesem Morgen aufwachte. Wenn ich es zum Wald und zurü ck schaffe, bin ich auch schon wieder so fit, um zu reisen. Ich kö nnte selbst zur Straß e laufen, aber es gibt keinen Grund, mich schon vor der Reise zu verausgaben. Ich weiß immer noch nicht, was ich tun soll oder wohin ich gehen werde. Aber mein letzter Zusammenstoß mit Arnaud hat mich ü berzeugt, dass ich lieber mein Glü ck da drauß en versuche, statt noch einen Tag lä nger hierzubleiben.

       Mathilde wickelt weiter die Bandage ab. «Bist du sicher? »

       «Wenn du mich bis zur nä chsten Hauptstraß e fä hrst, kann ich ab da per Anhalter weiter. »

       «Wie du willst. »

       Obwohl ich keinen Grund dafü r habe, bin ich von ihrer schwachen Reaktion enttä uscht. Ich sehe zu, wä hrend sie den Verband abwickelt und die Mullauflagen lö st. Als die letzte Schicht abgeht, bin ich erleichtert, weil mein Fuß nicht schlimmer aussieht als zuletzt. Tatsä chlich sieht er sogar deutlich besser aus. Die Schwellung ist zurü ckgegangen, und die Wunden sind nicht mehr so entzü ndet.

       «Sieht gar nicht so schlimm aus, oder? », frage ich und hoffe, sie findet das auch.

       Mathilde antwortet nicht. Sie dreht meinen Fuß behutsam hin und her. Dann berü hrt sie leicht die Wundrä nder.

       «Tut das weh? »

       «Nein. » Ich beobachte sie, wä hrend sie den Fuß eingehend untersucht. «Ist alles okay? »

       Sie antwortet nicht. Ihre Miene bleibt ausdruckslos, als sie die Hand auf meine Stirn legt. «Fü hlst du dich heiß? Fiebrig? »

       «Nein. Warum? »

       «Du siehst ein bisschen fiebrig aus. »

       Sie beugt sich wieder ü ber meinen Fuß. Ich lege meine Hand gegen die Stirn. Ich kann nicht sagen, ob sie sich heiß er anfü hlt als sonst.

       «Hat sich die Infektion verschlimmert? »

       Sie zö gert nur kurz, ehe sie antwortet: «Ich glaube nicht. »

       Die gelbliche Verfä rbung vom Bluterguss rund um die Wunde scheint sich unheilvoll verdunkelt zu haben. Unbehaglich sehe ich zu, wie sie meinen Fuß reinigt und ihn wieder mit einer frischen Mullbinde umwickelt.

       «Ist irgendwas nicht in Ordnung? »

       «Ich bin sicher, dass alles okay ist. » Sie hä lt den Kopf gesenkt und schaut mich nicht an. «Manchmal muss man solche Wunden beobachten. Aber ich habe Verstä ndnis, wenn du es eilig hast, hier wegzukommen. »

       Ich starre weiter auf meinen Fuß, der wieder in makelloses Weiß gewickelt ist. Plö tzlich spü re ich meine schmerzenden Muskeln. Vielleicht kommt das nur von der Anstrengung der letzten Nacht. Andererseits …

       «Vielleicht sollte ich noch einen Tag bleiben? », schlage ich vor.

       «Wie du willst. Du kannst gerne bleiben, solange du willst. »

       Mathildes Miene verrä t nichts. Sie sammelt die Sachen zusammen und geht nach unten. Als ich wieder allein bin, strecke ich probehalber den Fuß. Ich fü hle mich nicht direkt fiebrig, aber das Letzte, was ich jetzt brauchen kann, ist, irgendwo auf einer franzö sischen Straß e krank zu werden. Und es ist ja nicht so, als wü sste ich, wohin ich als Nä chstes gehen soll, oder als wü rde es mich irgendwohin ziehen. Nicht mehr. Ein weiterer Tag Ruhe wü rde keinen Unterschied machen.

       Mir kommt der Gedanke, Mathilde kö nnte genau das mit ihrer Aussage bezweckt haben, doch ich schiebe ihn rasch beiseite. Dass ich hier bin, hat ihr bisher nichts als Schwierigkeiten eingebracht. Sie hat kaum einen Grund, mich zu einem lä ngeren Aufenthalt zu ü berreden.

       Wenigstens rede ich mir das ein. Aber als ich das Antibiotikum schlucke und mir das Frü hstü ck auf den Schoß ziehe, bin ich mir durchaus bewusst, dass ich vor allem Erleichterung verspü re, nicht wegzumü ssen.

           

       Gegen Mittag ist es auf dem Dachboden unerträ glich heiß, und der wü rzige Geruch von den alten Holzmö beln juckt mir in der Nase. Ich hö re Musik und dö se vor mich hin, und als ich wieder aufwache, steht mein Mittagessen neben der offenen Falltü r. Ich reibe mir die Augen und beschließ e, drauß en zu essen. Arnaud will, dass ich ihm aus den Augen bleibe, aber nicht mal er kann von mir erwarten, den ganzen Tag in der Scheune zu bleiben.

       Mit dem Tablett die Treppe runterzukommen ist kompliziert, aber ich schaffe es, indem ich mich auf das Gelä nder stü tze, wä hrend ich nach unten gehe. Ehe ich esse, benutze ich das Plumpsklo und wasche mich am Wasserhahn in der Scheune, an dem Georges seine Eimer fü llt. Dieser kleine Akt der Selbstä ndigkeit hebt meine Stimmung, und ich bin fast frö hlich, als ich mich mit dem Rü cken an eine Steinwand setze. Selbst im Schatten der Scheune ist es stickig und heiß. Wä hrend ich Brot und Kä se kaue, blicke ich ü ber das Weinfeld zum See hinü ber. Mein Ausflug dorthin letzte Nacht scheint keine schlechten Auswirkungen zu haben. Ich habe kein Fieber bekommen und spü re keine Schmerzen im Fuß, die auf eine erneut aufflammende Infektion hindeuten kö nnten. Die zunehmende Anspannung hat jedenfalls nichts mit meinem Fuß zu tun. Gott weiß, wo ich morgen um diese Zeit sein werde, aber ich will lieber heute schon zum See gehen und ihn mir wenigstens ansehen, bevor ich verschwinde.

       Eine bessere Gelegenheit wird sich kaum bieten.

       Ich beende meine Mahlzeit und mache mich, auf die Krü cke gestü tzt, erneut auf den Weg. Bei Tageslicht erkenne ich, dass die Rebstö cke halb tot sind. Die Blä tter sind fleckig und rollen sich an den Rä ndern ein, und die wenigen Reben hä ngen schlaff herab wie kleine Luftballons, aus denen die Luft gewichen ist. Kein Wunder, dass der Wein so ü bel riecht.

       Die Sonne brennt gnadenlos. Ich dachte, tagsü ber, wenn ich sehe, wohin ich trete, mü sste es einfacher sein, auf dem Feldweg voranzukommen, aber in der Hitze kommt mir der Weg weiter vor als letzte Nacht. Er ist zerfurcht und uneben, und Traktorreifen haben Spuren hinterlassen, die so hart sind wie in Beton gegossen. Die Krü cke rutscht immer wieder weg, und als ich den Wald erreiche, bin ich total verschwitzt. Es ist eine Erleichterung, in den Schatten einzutauchen. Jetzt haben die Bä ume auch nichts Bedrohliches mehr. Wie bei denen, die an der Straß e stehen, handelt es sich meistens um Kastanien, und ich bin froh, unter ihrem grü nen Dach zu sein.

       Wä hrend ich dem Feldweg durch den Wald folge, ertappe ich mich dabei, wie ich darauf lauere, dass erneut ein Schrei ertö nt wie letzte Nacht. Aber da ist nichts als das Zirpen der Grillen. Selbst die Statuen haben ihre bedrohliche Ausstrahlung eingebü ß t. Bei Tageslicht wirken sie harmlos. Etwa ein Dutzend dieser Steinfiguren steht neben dem Feldweg, wo man sie offensichtlich wahllos an der dichtesten Stelle des Waldes versammelt hat. Sie sind allesamt sehr alt und verwittert, und ich sehe jetzt erst, dass die meisten auß erdem beschä digt sind. Ein Pan mit abgebrochenem Huf tollt neben einer gesichtslosen Nymphe herum, worü ber ein Mö nch ohne Nase scheinbar schockiert ist. Etwas entfernt von den anderen steht eine verschleierte Frau. Der Schleier ist ü beraus kunstvoll aus dem Stein gemeiß elt und ä hnelt in seinem Faltenwurf richtigem Stoff. Ein dunkler Ö lfleck verunstaltet eine ihrer Hä nde, die sie auf ihr Herz gelegt hat, und sieht aus wie eingetrocknetes Blut. Ich kann mir nicht vorstellen, was sie alle in dem Versteck zwischen den Bä umen zu suchen haben, aber ich stelle fest, dass mir dieser Platz gefä llt. Ich ü berlasse sie ihrem langsamen Verfall und gehe den Feldweg entlang weiter.

       Der See ist nicht mehr weit entfernt. Mit Schilf umstanden, liegt das unter dem Sonnenlicht gleiß ende Wasser ruhig da. Enten, Gä nse und andere Wasservö gel gleiten ü ber den See und ziehen hinter sich v-fö rmige Spuren. Ich atme die wü rzige Luft ein und spü re, wie sich die Verspannungen in meinen Schultern lö sen. Heute Vormittag bin ich realistisch genug, um zu wissen, dass es nicht mö glich wä re, im See zu schwimmen. Aber der Gedanke hat nichts von seiner Verlockung eingebü ß t.

       Ich laufe zu einem Steilufer, das einen ungehinderten Blick ü ber den See ermö glicht. Ein einsamer Kastanienbaum steht hier oben und streckt die Ä ste bis ü ber den See aus, der an dieser Stelle sicher tief genug ist, um einfach hineinzuspringen, aber dann bemerke ich einen finsteren Schatten, der wie ein lauernder Hai in wenigen Metern Entfernung unter der Wasseroberflä che ruht. Ein unter Wasser liegender Fels, der auf denjenigen wartet, der sorglos genug ist, vom Felsvorsprung zu springen. Das hä tte ich wissen mü ssen, denke ich enttä uscht. Sogar der See stellt mir eine Falle.

       Ich lasse mich langsam zu Boden sinken und lehne mit dem Rü cken am Baumstamm, wä hrend ich ü ber das Wasser schaue. Der Weg hierher hat mich erschö pft, aber ich bin froh, die Anstrengung auf mich genommen zu haben. Eine zweite Chance wird es nicht geben. Wenigstens geht es meinem Fuß davon nicht viel schlechter. Der Verband, den Mathilde heute frü h angelegt hat, ist schon wieder verdreckt, aber es gibt keine frischen Blutflecke, und der Schmerz ist mehr ein Jucken. Meine Ä ngstlichkeit kostet mich noch einen Tag, aber wenigstens wird mich jetzt nichts mehr davon abhalten, morgen fortzugehen.

       Und was dann?

       Ich weiß es nicht.

       Wenn es einen Vorteil hatte, in die Falle getreten zu sein, dann wohl die Ablenkung von allen unnü tzen Gedanken. Wä hrend meiner Zeit hier war ich zu beschä ftigt, um mir ü ber meine Vergangenheit oder meine Zukunft den Kopf zu zerbrechen. Aber das geht bald zu Ende. Nur noch eine Nacht, dann stehe ich wieder dort, wo ich gestartet bin. In einem fremden Land auf der Flucht und ohne einen Schimmer, was ich tun soll.

       Meine Hä nde zittern, als ich meine Zigaretten aus der Hosentasche ziehe, aber bevor ich mir eine anzü nden kann, kommt der Springer Spaniel aus dem Unterholz getobt. Die Enten am Rand des Sees stieben laut auseinander, als er sie verfolgt. Arnaud, denke ich und versteife mich. Aber nicht der Papa folgt dem Hund. Es ist Gretchen mit dem Baby.

       Der Spaniel bemerkt mich als Erster. Mit hektisch wedelndem Schwanzstummel rennt er auf mich zu.

       «Braves Mä dchen. »

       Froh ü ber die Ablenkung, streichle ich den Hund und versuche ihn davon abzuhalten, auf meinen Fuß zu steigen. Gretchen bleibt stehen, als sie mich sieht. Sie trä gt ein ä rmelloses Baumwollkleid aus hellblauem Stoff, das ihre gebrä unte Haut betont. Das Kleid ist dü nn und ausgebleicht, und ihre Beine sind bis auf die Flipflops nackt. Trotzdem wü rde sich auf der Straß e jeder Mann nach ihr umdrehen.

       Sie trä gt das Baby Michel auf eine Hü fte gestü tzt. Von ihrer freien Hand hä ngt ein blassrotes Tuch, bei dem die Ecken zusammengeknotet sind, um eine Tasche zu formen.

       «Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe», sage ich.

       Sie schaut zu dem Feldweg, als mü sse sie ü berlegen, ob sie nicht lieber zurü ckgeht. Dann tauchen fü r einen flü chtigen Moment die Grü bchen in ihren Wangen auf.

       «Das haben Sie nicht. » Sie wuchtet das Baby etwas weiter oben auf ihre Hü fte. Das Tragen des Kinds hat sie in der Hitze angestrengt. Sie hebt das rote Stoffbü ndel hoch. «Wir sind hergekommen, um die Enten zu fü ttern. »

       «Ich dachte, nur in der Stadt machen Leute so was. »

       «Michel liebt es. Und wenn sie wissen, dass sie hier gefü ttert werden, bleiben sie, und wir kö nnen uns hin und wieder eine nehmen. »

       «Nehmen» war wohl eher ein Euphemismus fü r «tö ten». So viel zur friedlichen Stimmung. Gretchen knotet das Tuch auf und kippt das Brot aus. Die Vö gel flattern aufgeregt nä her. Ihr lä rmendes Schnattern wird von kleinen Begeisterungslauten des Kinds und vom Bellen des Hunds begleitet, der direkt am Wasser herumtollt.

       «Lulu! Hierher, komm! »

       Sie wirft fü r den Spaniel einen Stein. Wä hrend der Hund dem Stein nachjagt, kommt sie zu mir nach oben auf den Felsvorsprung und setzt sich in der Nä he hin. Das Baby setzt sie neben sich. Es findet einen Ast und fä ngt an, damit zu spielen.

       Ich schaue zurü ck zu dem Feldweg und erwarte halb, Arnaud dort mit seinem Gewehr auftauchen zu sehen. Aber der Wald ist leer. Ich fü hle mich unbehaglich, obwohl ich nicht ganz sicher bin, ob die Warnung ihres Vaters der Grund ist oder Gretchens Nä he. Abgesehen von den Enten und Gä nsen scheinen wir die einzigen Lebewesen weit und breit zu sein.

       Gretchen seufzt theatralisch. Sie packt den vorderen Saum ihres Kleids und wedelt damit auf und ab.

       «Es ist einfach zu heiß », sagt sie und wirft mir einen prü fenden Seitenblick zu. «Ich dachte, am See ist es vielleicht kü hler. »

       Ich halte den Blick starr auf den See gerichtet. «Bist du schon mal im See geschwommen? »

       Gretchen hö rt auf, sich frische Luft zuzufä cheln. «Nein. Papa sagt, es ist nicht sicher. Auß erdem kann ich gar nicht schwimmen. »

       Sie beginnt, die winzigen gelben Blumen zu pflü cken, die im Gras blü hen. Schnell entsteht eine Blumenkette. Die Stille scheint ihr nichts auszumachen, obwohl ich von mir nicht dasselbe behaupten kann. Plö tzlich wird die Stille von demselben Schrei durchschnitten, den ich gestern Nacht gehö rt habe. Er kommt aus dem Wald hinter uns. Am helllichten Tag ist er nicht annä hernd so beunruhigend, doch klingt er nicht weniger gequä lt.

       «Was war das? », frage ich und starre in den Wald.

       Weder Gretchen noch Michel wirkt sonderlich besorgt. Sogar der Hund stellt nur kurz die Ohren auf, ehe er weiter an seinem Stein nagt. «Das sind bloß die Sanglochons. »

       «Die was? » Ich erinnere mich, den Begriff schon einmal von ihr gehö rt zu haben, aber damals habe ich mir nichts dabei gedacht.

       «Sanglochons», wiederholt sie ungeduldig, als wä re ich ein Idiot. «Das ist eine Kreuzung zwischen Wildschweinen und Hausschweinen. Papa zü chtet sie, aber sie stinken so widerlich, dass wir sie im Wald halten. Sie zanken sich immer, wenn es was zu fressen gibt. »

       Ich bin erleichtert, dass das alles ist. «Dann ist das hier ein Schweinemastbetrieb? »

       «Nein, natü rlich nicht! », erwidert Gretchen und mustert mich tadelnd. «Die Sanglochons sind nur Papas Hobby. Und das hier ist kein Bauernhof. Es ist ein Châ teau. Uns gehö ren der See und der ganze umliegende Wald. Wir besitzen fast hundert Hektar Kastanien, die wir jeden Herbst ernten. »

       Sie klingt stolz, woraus ich schließ e, dass das ziemlich viele Kastanien sein mü ssen. «Wie ich gesehen habe, keltert ihr auch euren eigenen Wein. »

       «Das haben wir mal. Papa wollte ihn Châ teau Arnaud nennen. Er hat ein paar Weinstö cke zu einem guten Preis bekommen und unsere Gemü sebeete umgegraben. Aber die Reben waren nicht robust genug fü r unseren Boden. Sie bekamen eine Art Braunfä ule, weshalb es nur eine Lese gab. Wir haben immer noch Hunderte Flaschen davon, und Papa meint, wir werden sie bestimmt eines Tages verkaufen kö nnen, wenn er erst gereift ist. »

       Ich denke an die sä uerlich riechenden Flaschen in der Scheune und hoffe, dass sie nicht vorhaben, das Zeug in naher Zukunft zu verkaufen. Gretchen pflü ckt noch eine Blume und flicht sie in den Blumenkranz ein. Dann schaut sie zu mir hoch.

       «Sie reden nicht gerne ü ber sich, kann das sein? »

       «Da gibt’s ja auch nicht viel zu sagen. »

       «Das glaube ich Ihnen nicht. Sie versuchen nur, geheimnisvoll zu tun. » Sie schenkt mir ein Lä cheln, bei dem ihre Grü bchen aufblitzen. «Kommen Sie schon, erzä hlen Sie. Woher kommen Sie? »

       «England. »

       Sie versetzt meinem Arm einen spielerischen Klaps. «Ich meine, woher genau? »

       «Ich habe zuletzt in London gelebt. »

       «Was haben Sie da gemacht? Womit haben Sie Ihr Geld verdient? »

       «Nichts Dauerhaftes. In Bars gejobbt, auf Baustellen …» Ich zucke mit den Schultern. «Ich habe als Englischlehrer gearbeitet. »

       Kein Donnergrollen, und die Erde tut sich auch nicht auf. Gretchen pflü ckt ungerü hrt die nä chste Blume und scheint eine weitere Frage stellen zu wollen, aber der Hund wä hlt ausgerechnet diesen Moment, um den Stein, auf dem er herumgekaut hat, in meinen Schoß fallen zu lassen.

       «Na, vielen Dank. »

       Vorsichtig hebe ich die mit Hundesabber ü berzogene Gabe hoch und werfe sie weg. Der Hund schieß t den Steilhang hinunter und kommt verwirrt zum Stehen, als der Stein ins Wasser klatscht. Er starrt mich herzerweichend an.

       Gretchen lacht. «Sie ist so dumm! »

       Ich finde noch einen Stein und rufe den Hund. Er ist immer noch vom Verlust des ersten Steins abgelenkt, der offensichtlich sein liebster war. Aber als ich den Ersatz Richtung Bä ume werfe, bekommt er das sofort mit und schieß t glü cklich hinterher.

       «Gretchen ist ein deutscher Name, richtig? », frage ich, froh ü ber die Chance, das Thema zu wechseln.

       Sie flicht die nä chste Blü te ein. «Papas Familie stammt aus dem Elsass. Ich bin nach meiner Groß mutter benannt. Und unser kleiner Michel hier hat Papas zweiten Vornamen bekommen. Es ist wichtig, die Familientradition aufrechtzuerhalten. »

       «Nach wem ist Mathilde benannt? »

       Gretchens Miene versteinert. «Woher soll ich das wissen? »

       Sie reiß t die nä chste Blume mit so viel Wucht heraus, dass sie den Stiel mitsamt der Wurzel in der Hand hä lt. Ungeduldig wirft sie die Blume weg und pflü ckt die nä chste. Ich versuche, die Stimmung mit einem Themenwechsel aufzulockern. «Und wie alt ist Michel? »

       «Im Herbst wird er eins. »

       «Ich habe seinen Vater gar nicht gesehen. Kommt er aus der Gegend? »

       Ich versuche nur, hö flich ein Gesprä ch zu fü hren, aber Gretchens Gesicht verhä rtet sich noch mehr. «Wir reden nicht ü ber ihn. »

       «Tut mir leid, ich wollte nicht neugierig sein. »

       Nach kurzem Schweigen zuckt sie mit den Schultern. «Na ja, ist ja kein Geheimnis. Er ist fortgegangen, bevor Michel geboren wurde. Er hat uns einfach hä ngenlassen. Wir haben ihn in der Familie willkommen geheiß en, und er hat uns betrogen. »

       Das klingt eher nach ihrem Vater als nach Gretchen, aber ich enthalte mich lieber jeglichen Kommentars. Sie fä delt die letzte Blume auf die Kette und verbindet die beiden Enden, ehe sie die Kette um Michels Hals hä ngt. Er grinst und zerdrü ckt die Blumen mit der kleinen Faust.

       Ein leerer Ausdruck tritt auf Gretchens Gesicht, als hä tte jemand ihre Gesichtshaut gepackt und sie mit Gewalt nach hinten gezogen. Sie klapst den Kleinen auf den Arm, und diesmal schlä gt sie fester zu als vorhin bei mir. «Bö ser Junge! » Ihr Neffe beginnt zu heulen. Das ü berrascht mich nicht, denn ihre Hand hat einen roten Abdruck auf seinem pummeligen Ä rmchen hinterlassen. «Bö ser, bö ser Junge! »

       «Es war nur ein Versehen», sage ich, weil ich fü rchte, sie kö nnte ihn ein zweites Mal schlagen.

       Fü r eine Sekunde glaube ich, sie wird stattdessen auf mich einprü geln. Doch der Moment ist so schnell vorbei, wie er gekommen ist, und ihre Laune bessert sich schlagartig. «Er macht stä ndig solche Sachen», sagt sie und wirft die kaputte Blumenkette weg. Dann hebt sie ihren Neffen hoch und knuddelt ihn. «Komm, Michel. Nicht weinen. Gretchen hat’s nicht so gemeint. »

       Ich wü rde behaupten, dass sie es sehr wohl so gemeint hat, aber das Baby lä sst sich leichter ü berzeugen. Sein Heulen wird zu einem Schluckauf, und schon bald gluckst er wieder. Nachdem Gretchen ihm Augen und Nase abgewischt hat, ist der ganze Vorfall schon vergessen.

       «Ich bringe ihn besser wieder ins Haus», sagt sie und steht auf. «Kommen Sie mit? »

       Ich zö gere. Ich wü rde lieber noch am See bleiben, und dann ist da immer noch ihr Vater.

       «Nein, das lasse ich wohl lieber. »

       «Warum? Haben Sie Angst vor Papa? » Sie grinst.

       Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Der Mann hat mich bisher mit dem Gewehr bedroht und eine Treppe runtergeworfen. Darum ist es nur vernü nftig, ihn nicht noch mehr zu provozieren. Trotzdem wurmt mich ihre Andeutung gewaltig.

       «Ich glaube einfach, es wird das Beste sein, wenn er mich nicht mit dir zusammen sieht. Das ist alles. »

       Sie lä chelt. «Keine Sorge. Er hat einen schlimmen Rü cken und legt sich nach dem Mittagessen immer hin. Und Georges geht mittags nach Hause. Es ist also niemand da, der Sie verraten kö nnte. »

       Es scheint, als habe ich keine andere Wahl. Mit einem letzten wehmü tigen Blick auf den See hieve ich mich unelegant wieder auf die Fü ß e. Gretchen geht langsam, damit ich mithalten kann. Sie hat die Hü fte vorgestreckt, um das Gewicht des Babys zu stü tzen, und ihre Beine sind unter dem hellblauen Kleid lang und gebrä unt. Ihre Flipflops schlappen ü ber den staubigen Feldweg und bilden einen Kontrapunkt zum Schaben meiner Krü cke. Eine spä tnachmittä gliche Ruhe hat sich ü ber den Wald gesenkt. Sie scheint noch ausgeprä gter zu sein, als wir die Statuen erreichen. Die Steinfiguren verleihen dem Waldweg die Stille eines Kirchenschiffs.

       «Was machen die eigentlich hier? », frage ich und bleibe stehen, um wieder zu Atem zu kommen.

       Gretchen schaut kaum hin. «Papa wird sie verkaufen. Er hat schon vor Jahren angefangen, sie zu sammeln. Sie wä ren ü berrascht, was in den Gä rten alter Châ teaus herumsteht. »

       «Du meinst, er hat sie gestohlen? »

       «Natü rlich nicht! Papa ist doch kein Dieb! », erwidert sie heftig. «Das sind doch nur alte Statuen, und die Herrensitze, wo er sie herhat, sind alle verlassen. Wie kann er sie stehlen, wenn dort schon lange keiner mehr lebt? »

       Ich bezweifle, ob die Besitzer das genauso sehen wü rden, aber ich habe Gretchen fü r einen Nachmittag schon genug verä rgert. Und der Spaziergang hat mich mehr erschö pft, als ich gedacht hä tte. Der Hund lä uft vor uns her, als wir aus dem Wald treten, und jagt durch den ausgetrockneten Weingarten. Die Sonne brennt immer noch heiß, aber inzwischen steht sie tiefer, und wir werfen lange Schatten, die aussehen wie dü rre Riesen. Ich arbeite mich verbissen mit gesenktem Kopf vorwä rts und bin zu erschö pft, um zu reden. Als wir die Scheune erreichen, bin ich vö llig durchgeschwitzt, und meine Beinmuskeln zucken von der Anstrengung.

       Gretchen schiebt sich eine Haarsträ hne hinters Ohr, als wir am Scheunentor stehen bleiben. Eine unbewusste Geste, die sie vermutlich ihrer Schwester abgeschaut hat. «Sie sind ja ganz nass geschwitzt», sagt sie und zeigt beim Lä cheln wieder ihre Grü bchen. «Sie sollten mehr mit der Krü cke ü ben. Ich mache nachmittags meistens mit Michel einen Spaziergang. Wenn Sie mö gen, kann ich mich morgen wieder mit Ihnen am See treffen. »

       «Dann bin ich nicht mehr hier», erklä re ich ihr. «Ich verschwinde morgen frü h. » Wenn ich es ausspreche, kann ich es selbst fast glauben. Allein der Gedanke fü hlt sich aber an, als wollte ich mich den Steilhang hinunterstü rzen.

       Gretchen starrt mich an. «Sie kö nnen nicht gehen! Was ist mit Ihrem Fuß? »

       «Ich krieg das schon hin. »

       Ihr Gesicht verhä rtet sich. «Das ist Mathildes Schuld, nicht wahr? »

       «Mathilde? Nein, natü rlich nicht. »

       «Sie verdirbt immer alles. Ich hasse sie! »

       Ihre plö tzliche Gehä ssigkeit stö ß t mich ab. «Das hat absolut nichts mit Mathilde zu tun. Ich muss eben fort, das ist alles. »

       «Schö n. Dann verschwinden Sie schon! »

       Sie dreht sich um und lä sst mich einfach stehen. Ich seufze und starre in das dunkle Innere der Scheune. Ich warte, bis ich wieder zu Atem gekommen bin, dann beginne ich den langen Aufstieg die Holztreppe hinauf zum Dachboden.

           

       Ich schlafe ein paar Stunden, und als ich aufwache, scheint die Sonne nicht mehr in den Dachboden. Es ist immer noch heiß und stickig, aber das Licht wirkt dä mmrig. Es ist vermutlich schon spä t. Der Blick auf die Uhr bestä tigt meine Vermutung: nach acht. Bisher ist noch nichts vom Abendessen zu sehen. Ich frage mich, ob es sich einfach nur verspä tet oder ob ich Arnaud oder Gretchen so sehr verä rgert habe, dass ich nichts verdient habe.

       Ich bin ohnehin nicht sicher, ob ich was essen kann.

       Ich gehe nach unten und wasche mich am Wasserhahn. Das eisige Wasser raubt mir den Atem, aber danach fü hle ich mich ein bisschen besser. Dann setze ich mich vor die Scheune und beobachte, wie die Sonne langsam untergeht. Als sie hinter dem Kastanienwald verschwindet, gö nne ich mir eine Zigarette. Meine letzte, aber morgen kann ich mich zuerst auf die Suche nach einem Supermarkt oder einem Bar-Tabac machen. Und danach …

       Ich habe keine Ahnung.

       Die glü hende Spitze meiner Zigarette hat fast meine Finger erreicht, als ich Schritte ü ber den Hof kommen hö re. Mathilde taucht auf und trä gt ein Tablett, auf dem ich zu meiner Ü berraschung eine Flasche Wein und einen Teller mit dampfendem Essen sehe.

       Ungeschickt komme ich auf die Fü ß e. «Bleib sitzen», sagt sie und stellt das Tablett neben mir ab. «Tut mir leid, dass das Abendessen so spä t kommt. Michel war nö rgelig und ließ sich nicht beruhigen. »

       Obwohl ich mir vorhin noch eingeredet habe, es wä re mir egal, welchen Grund es fü r ihre Verspä tung gibt, bin ich erleichtert ü ber diese banale Erklä rung.

       «Das riecht lecker», sage ich. Das tut es wirklich. Es gibt Schweinefleisch mit Kastanien, Bratkartoffeln und grü nem Salat. Zu schade, dass ich keinen Hunger habe.

       «Ich dachte, du nimmst heute Abend vielleicht etwas Wein. Es ist nur unser eigener, aber zusammen mit dem Essen ist er gar nicht mal so schlecht. »

       «Welchen Anlass gibt’s dafü r? » Ich ü berlege, ob sie ein bisschen meinen Abschied feiern will.

       «Kein Anlass. Es ist nur Wein. » Sie gieß t das Wasserglas halbvoll mit der dunklen Flü ssigkeit. «Willst du immer noch morgen weiterziehen? »

       Ich frage mich, was Gretchen ihr wohl erzä hlt hat. Vielleicht nichts, und ich will mir auf ihre Frage was einbilden. «Ja. »

       «Wie sehen deine Plä ne aus? »

       «Ich habe noch keine konkreten Plä ne. » Es klingt gar nicht schlecht, wenn ich es so formuliere. Mathilde schiebt sich eine Haarsträ hne hinters Ohr.

       «Du kö nntest hierbleiben. Wir kö nnen auf dem Hof Hilfe brauchen. »

       Ihre Worte entsprechen so ü berhaupt nicht dem, was ich erwartet habe, und erst begreife ich es gar nicht. «Bitte was? »

       «Wenn du nicht sofort wieder wegmusst, gibt’s hier immer was zu tun. Wenn du interessiert bist, heiß t das. »

       «Du bietest mir einen Job an? »

       «Bis auf Georges sind nur wir drei hier. Wir kö nnten ein zusä tzliches Paar Hä nde gut gebrauchen, und Gretchen hat mir erzä hlt, du wä rst frü her Maurer gewesen. » Ihre Hand schiebt wieder die Haare zurü ck. «Du wirst gesehen haben, in was fü r einem erbä rmlichen Zustand unser Haus ist. Die Wä nde mü ssen dringend ausgebessert werden. »

       «Ich habe auf Baustellen gearbeitet, aber das ist nicht dasselbe. Warum beauftragt ihr nicht ein ö rtliches Bauunternehmen mit den Arbeiten? »

       «Das kö nnen wir uns nicht leisten», sagt sie. «Wir kö nnen auch nicht besonders viel zahlen, aber Kost und Logis sind frei. Du musst auch nicht sofort mit der Arbeit anfangen. Warte erst, bis du wieder zu Krä ften gekommen bist, und dann arbeite einfach in deinem eigenen Tempo. Mach einfach das, wozu du dich in der Lage fü hlst. »

       Ich fahre mir mit der Hand ü bers Gesicht und versuche nachzudenken. «Was ist mit deinem Vater? »

       «Mach dir um ihn keine Sorgen. »

       Ja, schon klar. «Er weiß doch, dass du mir einen Job anbietest, oder? »

       Die grauen Augen sind undurchdringlich. «Ich wü rde dich nicht fragen, wenn er nicht Bescheid wü sste. Mein Vater kann manchmal stur sein, aber er ist Realist. Die Arbeit muss getan werden, und da die Vorsehung dich hergefü hrt hat … Es wä re fü r uns alle das Beste. »

       Vorsehung, ach so. Es hatte also nichts mit den Fallen ihres Vaters zu tun. «Ich weiß nicht …»

       Sie erhebt sich anmutig. In der Dä mmerung wirken ihre Gesichtszü ge sehr ernst und undurchdringlicher als je zuvor. «Gute Nacht. Wir sehen uns morgen frü h. »

       Ich beobachte, wie sie um die Ecke der Scheune verschwindet. Vö llig perplex nehme ich einen Schluck Wein und verziehe das Gesicht.

       «Gott …»

       Der Wein wird bestimmt keine Preise gewinnen, aber er ist krä ftig. Ich riskiere noch einen Schluck und versuche, meine Gedanken zu sortieren. Plö tzlich hat sich alles verä ndert. Wenn ich ohne einen genauen Plan und ein Ziel fortginge, wü rde mich das in Schwierigkeiten bringen, aber ich glaubte bisher nicht, dass ich eine Wahl habe. Jetzt habe ich sie, und vielleicht ist es gar keine so schlechte Idee, mir eine Atempause zu gö nnen. Wenn ich bleibe, lö st das meine Probleme nicht, aber mir bleibt mehr Zeit zum Nachdenken. Wenigstens kann mein Fuß in Ruhe verheilen, ehe ich irgendwelche schwerwiegenden Entscheidungen treffen muss.

       Gott allein weiß, dass ich auf keinen Fall wieder in irgendeine Situation geraten will, die mich vor unlö sbare Probleme stellt.

       Die Sonne ist fast untergegangen und hinterlä sst nur das goldene Echo ihrer Strahlen. Ich koste von dem Schweinefleisch. Es schmeckt intensiv und ein bisschen nach Wild und ist mit Knoblauch gekocht. Es ist so zart, dass es auseinanderfä llt. Ich nehme noch einen Schluck Wein und fü lle mein Glas auf. Mathilde hat recht: Zum Essen schmeckt er besser, wenngleich das nicht viel zu bedeuten hat. Der Alkohol und das intensive Aroma bescheren mir einen angenehmen Schwips.

       Irgendwann merke ich, dass die Depression, die permanent wie eine dunkle Wolke ü ber mir hing, sich gelichtet hat. Ich gö nne mir noch ein Glas Wein und blicke ü ber den Wald zu den dahinterliegenden Feldern. Das einzige Gerä usch ist das abendliche Zirpen der Grillen. Keine Autos sind zu hö ren, keine Menschen. Der Frieden ist perfekt.

       Ja, das hier ist der perfekte Ort, um sich zu verstecken.




  

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