Хелпикс

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 KAPITEL 4



       Am nä chsten Morgen gehe ich zum ersten Mal nach drauß en.

       Nach Gretchens Besuch habe ich den restlichen Tag verschlafen, und als ich irgendwann aufwachte, fand ich wieder ein Tablett mit Essen neben dem Bett vor. Ich schaffte es, lange genug wach zu bleiben, um die klare Hü hnerbrü he und das Brot zu essen und mir vorzunehmen, spä ter noch einmal mit der Krü cke zu ü ben, dann schlief ich wieder ein.

       Aber als ich am Morgen aufwache, haben das Essen und die Ruhe ihr Werk getan. Ich fü hle mich schon viel besser. Der Dachboden ist strahlend hell, aber noch nicht aufgeheizt. Die frische Luft ist angenehm kü hl, und ich weiß, das wird nicht bis Mittag so bleiben. Das gestrige Abendessen-Tablett wurde durch eines mit Frü hstü ck ersetzt – es gibt wieder gekochte Eier. Ich habe niemanden gehö rt, aber langsam gewö hne ich mich an den Gedanken, dass jemand heraufkommt, wä hrend ich schlafe.

       Ich esse wie ein Verhungernder, wische die letzten Reste vom Eigelb mit dem Brot auf und wü nschte, es gä be noch mehr. Der Wassereimer, den Gretchen gestern heraufgeschleppt hat, steht neben der Matratze. Ich wasche mir den getrockneten Schweiß so gut wie eben mö glich ab und hole dann den Rasierer aus dem Rucksack. Wenn ich richtig gerechnet habe, ist knapp eine Woche vergangen, und entsprechend stoppelig bin ich inzwischen. Aber dann ä ndere ich in letzter Sekunde meine Meinung. Es gibt auf dem Dachboden keinen Spiegel, nicht mal einen kaputten. Aber die Stoppeln fü hlen sich unter meinen Fingern merkwü rdig an. Noch kein richtiger Bart, aber auch nicht mehr wie mein eigenes Gesicht. Ja, ich fü hle mich nicht mehr wie ich selbst.

       Ich beschließ e, das gar nicht mal so ü bel zu finden.

       Ein paar Minuten lang fü hle ich mich herrlich sauber, aber dann beginne ich schon wieder zu schwitzen. Das kleine Fenster steht offen, doch damit kommt nur etwas Bewegung in die Luft, keine Abkü hlung. Die Hitze nimmt schon wieder zu, und mit ihr auch meine Unruhe. Ich stehe auf und will mit der Krü cke das Laufen ü ben. Dann sehe ich die Falltü r offen stehen. Ich hü pfe hinü ber und schaue nach unten in die Scheune.

       Niemand hat gesagt, ich solle hier oben bleiben.

       Dieses Mal ist es viel einfacher, die Stufen zu bewä ltigen. Ich klemme mir die Krü cke unter einen Arm und steige sie langsam hinunter wie bei einer Leiter. Mein Fuß pocht hin und wieder zur Warnung, aber wenn ich mich bei jedem Schritt mit dem Knie auf der Stufe abstü tze, brauche ich ihn gar nicht zu belasten.

       Ich mache auf der kleinen Galerie eine Pause, auf die ich gestü rzt bin, als Mathildes Vater mich die Treppe runtergestoß en hat. Die leeren Flaschen sind inzwischen wieder aufgestellt worden. Selbst bei Tageslicht ist die Scheune dü ster. Die Steinwä nde haben keine Fenster, und das einzige Licht kommt durch das groß e offene Tor. Die Luft ist hier unten kü hler, und als ich die letzten Stufen hinter mich bringe, bemerke ich den Geruch nach schalem Wein, der sich mit dem muffigen Geruch von Stein und Holz vermischt. Irgendwann in der Vergangenheit wurde die Scheune als kleine Kelterei genutzt. Es gibt einen leeren Metallbottich, und die Pflastersteine sind verschrammt, an einer Stelle hat man sie durch Beton ersetzt. Die Betonplatte ist neu, aber sie bekommt schon erste Risse.

       An einer Wand ist ein Wasserhahn. Als ich ihn aufdrehe, spritzt Wasser auf die Steine. Ich forme meine Hand zur Schale und trinke ein paar Mundvoll. Das Wasser ist so kalt, dass die Zä hne davon schmerzen. Aber es schmeckt herrlich erfrischend. Ich spritze mir Wasser ins Gesicht und trete dann an das groß e Weinregal, das danebensteht. Es ist halbvoll mit unetikettierten Flaschen, aber ein Gutteil der Korken ist fleckig, wo der Wein durchgedrungen ist. Ich schnuppere an einem und krä usle die Nase, weil der Wein sauer riecht. Schließ lich humple ich zum Scheunentor.

       Sonnenlicht dringt herein. Ich bleibe einen Moment lang stehen und nehme den Anblick in mich auf. Die Welt da drauß en ist in dem Scheunentor wie in einem Bilderrahmen gebannt und hebt sich strahlend von den dunklen Wä nden ab. Wie eine Kinoleinwand. Ich kneife die Augen zusammen und hinke auf meine Krü cke gestü tzt weiter. Es ist, als wü rde man in ein Bild in Technicolor treten. Ich atme tief durch und genieß e den Duft von Wildblumen und Krä utern. Meine Beine sind noch zittrig, aber nach der stickigen Luft auf dem Dachboden ist es wunderbar, die Sonne auf dem Gesicht zu spü ren. Ich achte auf meinen verletzten Fuß, als ich mich auf den staubigen Innenhof begebe, um den Anblick in mich aufzunehmen.

       Direkt vor der Scheune liegt der Weinberg, den ich vom Fenster des Dachbodens aus gesehen habe. Er ist von Wald gesä umt, und in weiter Ferne kann ich das Blau des Sees ausmachen, der zwischen den Bä umen hervorblitzt. Dahinter erstreckt sich das blasse Gold der umliegenden Felder, so weit das Auge reicht. Was auch immer mit diesem Hof nicht stimmt – friedlich ist es hier jedenfalls. Die Luft ist erfü llt vom Zirpen der Grillen und dem gelegentlichen Meckern von Ziegen, die ich noch nicht entdeckt habe. Aber sonst stö rt nichts die Stille. Keine Autos, keine Maschinen, keine Menschen.

       Ich schließ e die Augen und sauge die Atmosphä re auf.

       Allmä hlich dringt ein anderes Gerä usch in mein Bewusstsein. Ein rhythmisches, metallisches Quietschen. Ich blicke auf und sehe einen alten Mann, der zwischen den Rebstockreihen auf mich zukommt. Er ist ein krummbeiniger, drahtiger alter Kerl, und das Quietschen kommt von den verzinkten Eimern, die er trä gt und die leicht an den Henkeln schlenkern. Seine wenigen Haare sind fast weiß, das Gesicht ist knorrig und braun wie Eichenrinde. Er scheint kaum grö ß er zu sein als ich, obwohl ich mich hingesetzt habe, aber etwas Sehniges, Starkes strahlt er aus, und die Unterarme unter den hochgerollten Hemdsä rmeln sind muskulö s und dick.

       Das muss dieser Georges sein, von dem Gretchen gesprochen hat, vermute ich und nicke ihm zu. «Morgen. »

       Er gibt durch nichts zu erkennen, ob er mich bemerkt. Ohne Eile geht er Richtung Scheune und direkt an mir vorbei, als existierte ich ü berhaupt nicht. Unsicher drehe ich den Kopf und beobachte ihn, als er im Innern verschwindet. Die Eimer klappern, als er sie absetzt, und kurz darauf hö re ich das leise Drö hnen von Wasser in einem Eimer, den er am Hahn fü llt. Nach ein paar Minuten verstummt das Wasserrauschen, und er taucht wieder auf. Er wü rdigt mich keines Blicks und geht zurü ck zu dem Pfad zwischen den Rebstö cken. Seine Unterarme schwellen unter dem Gewicht der Eimer an.

       «Freut mich auch, Sie kennenzulernen! », rufe ich hinter ihm her.

       Ich beobachte, wie er durch den Weingarten trottet und am anderen Ende im Wald verschwindet. Ich frage mich, wofü r er wohl die Wassereimer von hier unten da rauf schleppt. Der Hof scheint bis auf Hü hner und die Ziegen, die ich meckern hö re, kein Vieh zu haben, und ebenso wenig habe ich Feldfrü chte gesehen auß er dem Wein. Wenn ich die sä uerlich riechenden Korken und den Platz in der Scheune richtig deute, wo vorher wohl die Apparaturen gestanden haben, scheint der Hof als Weingut auch nicht besonders erfolgreich gewesen zu sein.

       Ich frage mich, wovon sie leben.

       Ich habe mich genug ausgeruht, und meine nackte Haut beginnt zu brennen und sich zu rö ten. Schwerfä llig komme ich auf die Fü ß e, klemme mir die Krü cke unter den Arm und schlurfe um die Ecke des Gebä udes. Dort ist das Plumpsklo ohne Dach, das nur aus einem Loch im Boden besteht, und dahinter finde ich mich im Innenhof wieder, an den ich mich noch gut erinnern kann. Hier ist es sogar noch heiß er. Die Hitze flirrt ü ber den Pflastersteinen, und das eingerü stete Haus, in dem ich damals nach Wasser gefragt habe, wirkt in der gleiß enden Sonne wie ausgebleicht. Ein Wetterhahn hä ngt schief auf dem eingedrü ckten Dach und wartet auf einen Lufthauch.

       Einige Hennen picken gemü tlich im Schmutz, aber sonst ist niemand hier. Der Gedanke an Wasser hat mich wieder durstig gemacht. Es gibt den Hahn in der Scheune, aber nach dem gleichgü ltigen alten Mann mö chte ich gern ein anderes menschliches Gesicht sehen, und wenn es nur kurz ist. Ich humple rü ber zu dem Haus. Die Krü cke rutscht immer wieder auf den glatten Katzenkopfsteinen weg. Die kaputte Uhr am Giebel des Stalls zeigt immer noch dieselbe Zeit an. Zwanzig vor irgendwas. Die Fahrzeuge, die darunter geparkt sind, wurden seit meinem letzten Besuch offensichtlich nicht bewegt. Ein staubiger Lastwagen mit Anhä nger steht vor dem Stall, als wä re er dort verendet, wä hrend der Kü hler eines altersschwachen Traktors aus einer der bogenfö rmig ü berspannten Boxen schaut wie die Schnauze eines schlafenden Hunds. Eine andere Box wird von der Esse einer alten Schmiede eingenommen. Stahlstreifen lehnen an der Esse, aber erst als ich die brutalen, dreieckigen Zä hne an einem der Streifen sehe, erkenne ich, was ich da vor mir habe.

       In meinem Fuß setzt die Erinnerung neuerlichen Schmerz frei. Eilig gehe ich zum Haus weiter.

       Es ist sogar noch heruntergekommener, als ich es in Erinnerung hatte. Das Gerü st verdeckt die Hä lfte der Fassade, und an den Fenstern hä ngen schief wie die Flü gel toter Motten die unbehandelten Lä den. Der Boden direkt am Fundament ist mit Mö rtelbatzen ü bersä t. Irgendwer muss den halbherzigen Versuch unternommen haben, die einsturzgefä hrdete Fassade zu reparieren, doch offensichtlich hat er dieses Vorhaben rasch aufgegeben. Und nicht erst kü rzlich, denn das Gerü st ist an den Verschraubungen schon rostig und ebenso ein Beitel, der auf dem Boden liegt. Als ich mit meiner Krü cke dagegenstoß e, hinterlä sst der Beitel einen perfekten Abdruck auf den Steinen.

       Die Kü chentü r steht offen. Ich wische mir den Schweiß aus den Augen, ehe ich klopfe. «Hallo? »

       Niemand antwortet. Als ich mich umsehe, entdecke ich ein Stü ck weiter eine andere Tü r, die unbehandelt und krumm ist. Mit der Krü cke quä le ich mich dorthin und klopfe an, ehe ich die Tü r zö gernd aufschiebe. Im Innern ist es dunkel, und selbst vor der Tü r spü re ich die feuchte Kä lte, die aus diesem Lagerraum strö mt.

       «Was machen Sie hier? »

       Ich wirbele herum und fü hre ein kompliziertes Tä nzchen mit der Krü cke und meinem gesunden Fuß auf, um das Gleichgewicht zu bewahren. Mathildes Vater ist hinter dem Stall aufgetaucht. Er trä gt eine Leinentasche ü ber der Schulter, aus der das blutige Bein eines Kaninchens hervorschaut. Am meisten besorgt mich aber das Gewehr, das er in den Hä nden hä lt und das jetzt direkt auf mich zielt.

       «Sind Sie taub? Ich fragte, was Sie hier zu suchen haben. »

       Bei Tageslicht sieht er ä lter aus. Eher sechzig als fü nfzig. Auf seiner Stirn haben sich braune Altersflecke ausgebreitet. Er ist nicht besonders groß und kurzbeinig bei einem langen Rumpf. Trotzdem ist er ein Bulle von einem Mann.

       Ich brauche einen Moment, um mich auf der Krü cke abzustü tzen, und versuche, nicht auf das Gewehr zu starren. «Nichts. »

       Er schaut an mir vorbei auf die offene Tü r. «Warum schleichen Sie hier rum? »

       «Ich wollte einen Schluck Wasser. »

       «Es gibt in der Scheune einen Wasserhahn. »

       «Das weiß ich, aber ich brauchte auch etwas frische Luft. »

       «Ich dachte, Sie wollten einen Schluck Wasser? » Von der verwitterten Haut heben sich die hellgrauen Augen wie dreckiges Eis ab. Als er die Krü cke sieht, werden sie noch kä lter. «Wo haben Sie die her? »

       «Ich habe sie auf dem Dachboden gefunden. »

       «Und wer hat Ihnen erlaubt, sie zu benutzen? »

       «Niemand. »

       Ich bin nicht sicher, warum ich Mathilde beschü tze. Aber es kommt mir falsch vor, ihr die Schuld zu geben. Ich bin mir nur allzu deutlich der Waffe bewusst, als ihr Vater aggressiv mit dem Kinn ruckt.

       «Sie dachten also, Sie kö nnten sich einfach so bedienen? Was wollen Sie uns noch alles klauen? »

       «Ich habe nicht …» Doch plö tzlich bin ich zu mü de, um mit ihm zu streiten. Die Sonne scheint mich niederzudrü cken und das letzte bisschen Kraft aus mir zu saugen. «Ich dachte nicht, dass es jemandem was ausmacht. Ich bringe sie zurü ck. »

       Ich will mich an ihm vorbeischieben und zurü ck in die Scheune gehen, aber er verstellt mir den Weg. Er macht keine Anstalten, sich zu bewegen, und hä lt weiter die Waffe auf mich gerichtet. Bis jetzt hatte ich gedacht, er post nur, aber ein Blick in die kalten Augen lä sst mich daran ernsthaft zweifeln. Inzwischen ist es mir aber auch egal. Ich erwidere starr den Blick, und wä hrend der Moment verstreicht, durchdringt ein rhythmisches Quietschen die Stille. Ich blicke ü ber den Hof und sehe Georges, der ohne Eile in unsere Richtung kommt und einen rostigen Eimer in der Hand trä gt.

       Wenn er ü berrascht ist, seinen Arbeitgeber mit einer auf mich gerichteten Waffe zu sehen, zeigt er das nicht. «Ich hab den Zaun so gut wie mö glich repariert, M’sieur Arnaud. Wird erst mal halten, muss aber demnä chst ersetzt werden. »

       Ich kö nnte genauso gut unsichtbar sein. Arnauds Gesicht – bis zu diesem Augenblick habe ich den Namen am Briefkasten am Tor vergessen – rö tet sich.

       «In Ordnung. »

       Mit diesen Worten ist der alte Mann entlassen, aber er fragt dennoch: «Kommen Sie spä ter runter und sehen es sich an? »

       Arnaud schnaubt irritiert. «Ja. Spä ter dann. »

       Georges nickt zufrieden und ü berquert wieder den Hof. Bisher hat er durch nichts zu erkennen gegeben, dass er mich bemerkt hat. Ich muss mich wieder auf die Krü cke stü tzen, wä hrend Arnaud mich mustert. Seine Kiefer mahlen, als mü sste er auf seinen Worten herumkauen.

       Aber ehe er sie ausspucken kann, kommt ein Hund hinter dem Stall hervorgestü rmt. Ein junger Springer Spaniel mit hä ngender Zunge und Schlappohren. Als er uns entdeckt, springt er auf Arnaud zu und umkreist dann tä nzelnd mich. Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr ich zittere. Ich beuge mich hinunter und tä tschle den Hundekopf.

       «Hierher! », platzt Arnaud heraus. Der Hund, zerrissen zwischen Gehorsam und der Aufmerksamkeit, die ich ihm schenke, bebt. «Komm her, du verdammtes Vieh! »

       Gehorsam siegt. Der Hund schleicht zu Arnaud und jault, als dieser ihm einen Klaps gibt. Der Spaniel kauert sich zusammen, als Arnaud die Hand ein zweites Mal hebt, und wackelt aufgeregt mit dem Schwanz. Er wü rde sich vermutlich eine weiß e Flagge an den Schwanz binden, wenn er kö nnte. Ehe Arnaud erneut zuschlagen kann, verzerrt ein Krampf seine Gesichtszü ge. Er versteift sich, eine Hand fä hrt zum Rü cken, und er richtet sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf.

       «Mathilde! Mathilde! », brü llt er.

       Sie taucht, beladen mit dem Baby und einem Korb mit Gemü se, an dem noch Erde haftet, hinter der Hausecke auf. Ü ber ihr Gesicht huscht ein entsetzter Ausdruck, als sie uns so sieht, doch er macht rasch einer ausdruckslosen Miene Platz.

       «Was hat der hier drauß en zu suchen? », will Arnaud wissen. «Ich habe dir doch gesagt, du sollst ihn von mir fernhalten. »

       Mathilde versucht, das Baby zu beruhigen, das bei der erhobenen Stimme seines Groß vaters angefangen hat zu weinen. «Es tut mir leid, ich …»

       «Es ist nicht ihre Schuld», sage ich.

       Arnaud fä hrt zu mir herum. Sein Gesicht ist bleich vor Wut. «Ich habe nicht mit Ihnen geredet. »

       «Ich bin nur rausgekommen, um frische Luft zu schnappen», erklä re ich erschö pft. «Ich gehe zurü ck auf den Dachboden, okay? »

       Arnaud schnaubt. Er schaut zu dem Baby, das immer noch weint, und streckt die Hä nde danach aus. «Gib ihn mir. »

       Seine Hä nde wirken unnatü rlich groß, als er das Kind von Mathilde bekommt und es auf Augenhö he vor sich hä lt und sanft von einer Seite auf die andere wiegt. Er hat immer noch das Gewehr unter den Arm geklemmt. «Hm? Was ist los, Michel? Du wirst doch nicht weinen. Sei fü r deinen Groß vater ein groß er Junge. »

       Er klingt schroff und zugleich sehr liebevoll. Das Baby hickst und strahlt ihn dann zahnlos an. Ohne den Blick von seinem Enkel zu wenden, dreht Arnaud den Kopf zur Seite und spricht mich ü ber die Schulter hinweg an.

       «Gehen Sie mir aus den Augen. »

           

       Ich verbringe den Rest des Tages schlafend. Oder eher im Halbschlaf. Auf dem stickigen Dachboden gleite ich immer wieder zwischen Bewusstsein und Traum hin und her. Irgendwann wache ich auf und finde ein Tablett mit Essen und einen Eimer mit frischem Wasser, die jemand neben meinem Bett abgestellt hat. Mathilde, vermute ich. Denn obwohl ich gesagt habe, ich will kein Buch, liegt eine alte broschierte Ausgabe von Madame Bovary mit auf dem Tablett.

       Eine Entschuldigung fü r den Zusammenstoß mit ihrem Vater vielleicht?

       Der Abend vergeht in einem Gewaber aus Hitze und Schweiß. Ich liege in Boxershorts auf der Matratze und bin wie benebelt von dem wü rzigen Geruch auf dem Dachboden, der an eine Zigarrenkiste erinnert. Weil ich sonst nichts zu tun habe, unternehme ich einen Versuch, Madame Bovary zu lesen. Aber das altmodische Franzö sisch erschließ t sich mir nicht, und ich kann mich nicht konzentrieren. Die Worte verschwimmen vor meinen Augen, und das Buch rutscht mir immer wieder aus den Hä nden, bis ich aufgebe und es beiseitelege. Ich glaube, dass es noch zu heiß ist, um schlafen zu kö nnen, aber als ich die Augen schließ e, gleite ich in einen so tiefen Schlaf, dass es sich wie Ertrinken anfü hlt.

       Ich wache mit einem Schrei auf, und Bilder von Blut auf einer in Dunkelheit getauchten Straß e haben von meinem Verstand Besitz ergriffen. Einen Moment lang kann ich mich nicht erinnern, wo ich bin. Der Dachboden ist dunkel, aber durch das offene Fenster fä llt ein gespenstisches Licht herein. Meine Hä nde sind heiß und klebrig, und weil der Albtraum weiter in mir nachhallt, erwarte ich, sie mit Blut befleckt zu sehen. Aber es ist nur Schweiß.

       Das Leuchten des Monds ist hell genug, dass ich meine Uhr erkennen kann, ohne Licht zu machen. Es ist kurz nach Mitternacht. Zittrig greife ich nach den Zigaretten. Nur noch drei ü brig – ich habe begonnen, immer nur eine halbe zu rauchen. Ich entzü nde das angebrannte Ende von einer und ziehe den Rauch tief in die Lungen. Die Verzweiflung lä sst sich nicht vertreiben. Nachdem ich die Zigarette bis zum Filter aufgeraucht habe, weiß ich, dass ich so schnell nicht wieder in den Schlaf finden werde.

       Der Dachboden ist feuchtwarm und seltsam beengt und wird vom Mondlicht geflutet. Ein weiß er Streifen Licht verlä uft quer ü ber den Fuß boden und erstreckt sich bis auf den Rand der Matratze. Ich stehe auf und hü pfe den silbernen Pfad entlang zum Fenster. Die Nacht hat die Landschaft in Schwarz-Weiß getaucht. Jenseits der Schatten der Wä lder funkelt der Zwilling des Monds auf dem schwarzen Spiegel des Sees. In der Luft liegt eine fast metallische Feuchtigkeit. Ich atme sie tief ein und stelle mir vor, wie ich unter die dunkle Wasseroberflä che tauche. Ich spü re die Kä lte fö rmlich, die das Gewicht von jedem einzelnen Haar von meinem Kö rper lö st.

       Eine Eule ruft. Ich bemerke, dass ich unwillkü rlich die Luft angehalten habe, und atme aus. Ich kriege nicht genug Luft. Plö tzlich fü hle ich mich unerträ glich beengt. Ich schnappe mir die Krü cke und die Laterne und gehe zur Falltü r. Vorhin habe ich sie offen gelassen, und sie wirkt wie ein Loch, das ins Nichts fü hrt. Im schwachen Licht der Laterne bewege ich mich die Stufen hinunter.

       Ich denke nicht ü ber das nach, was ich tue. Die Scheune ist in Schwä rze getaucht, aber sobald ich vor das Tor trete, ist der Vollmond so hell, dass ich die Lampe nicht mehr benö tige. Ich schalte sie ab und lasse sie in der Scheune stehen. Die Nachtluft streicht beruhigend ü ber meine nackte Haut und duftet wü rzig nach Bä umen und Gras. Ich bin jetzt gar nicht mehr mü de, sondern verspü re nur den geradezu fiebrigen Wunsch, zum See zu gelangen.

       Ich folge dem Weg, den Georges am Vormittag benutzt hat, und humple an den Reihen der Rebstö cke vorbei. Das Mondlicht lä sst die Blattspitzen silbrig aufleuchten, und die Unterseiten wirken fast schwarz. Diese Welt ist monochrom, es gibt nur Licht und Schatten. Ich bleibe am Waldrand stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Die Bä ume formen jenseits vom Weinberg eine Wand aus Finsternis. Die Luft ist hier kü hler und dä mpft jedes Gerä usch. Mondlicht fä llt durch die Ä ste und wirft wirre Muster auf den Boden. Ich zittere und frage mich, was ich hier zu suchen habe. Ich weiß, ich sollte lieber zurü ckgehen, aber die Verlockung durch den See ist stä rker.

       Mein Atem geht schwer, als ich mich durch den Wald kä mpfe. Ich stapfe mit gesenktem Kopf voran und bin so auf das fixiert, was ich tue, dass ich die blasse Gestalt erst bemerke, als sie direkt vor mir steht.

       «Himmel! »

       Ich stolpere rü ckwä rts. Jetzt sehe ich noch mehr von ihnen. Regungslose Kö rper, die zwischen den Bä umen aufblitzen. Mein Herz hä mmert, aber keiner von ihnen rü hrt sich. Als der erste Schock nachlä sst, erkenne ich auch, warum.

       Im Wald stehen Statuen.

       Sie sind zu beiden Seiten des Waldwegs versammelt. Steinerne Mä nner und Frauen, vom Mondlicht besprenkelt. Himmel. Erleichtert sacke ich zusammen, aber ich muss zumindest eine von ihnen berü hren, um mich davon zu ü berzeugen, dass die lebensechten Gliedmaß en wirklich nicht aus Fleisch und Blut sind. Meine Finger spü ren nur die Rauheit von Flechten und glatten, harten Stein.

       Ich lä chle verschä mt. In diesem Moment wird die Stille des Walds von einem Kreischen durchschnitten. Ein schriller, unmenschlicher Laut, der unendlich zu dauern scheint, ehe er schließ lich verstummt. Ich starre in die Schwä rze und packe die leichte Krü cke. Nur ein Fuchs oder eine Eule, rede ich mir ein. Aber zugleich spü re ich die Hä rchen in meinem Nacken, die sich aufgerichtet haben. Ich drehe mich um und blicke die Statuen an. Sie haben sich nicht bewegt, aber jetzt zerren ihre blinden Blicke an meinen Nerven. Dann erklingt ein zweites Kreischen, und meine Nerven versagen.

       Jeder Gedanke an den See ist vergessen. Humpelnd haste ich den dunklen Weg zurü ck. Mein Atem kratzt laut, das Blut rauscht mir in den Ohren, und ich kä mpfe mich mit der Krü cke ab. Vor mir kann ich durch die Bä ume die mondbeschienenen Felder erkennen, die unwahrscheinlich weit entfernt sind. Himmel, bin ich wirklich so weit gelaufen? Dann erreiche ich endlich die offene Flä che, und die ordentlichen Reihen der Rebstö cke ersetzen die schwarzen Bä ume. Ich hetze weiter, ringe nach Luft und erreiche endlich meine Zuflucht in der Scheune. Ich japse und schnaufe und bleibe nur stehen, um die Lampe zu entzü nden und zurü ck zum Wald zu schauen. Der Feldweg ist verlassen, aber ich kann mich nicht entspannen, ehe ich nicht zurü ck auf meinem Dachboden bin und die Falltü r hinter mir geschlossen ist.

       Auf der Matratze breche ich zusammen. Meine Brust hebt und senkt sich, und die Beine fü hlen sich wie Gelee an. Ich bin vö llig verschwitzt und so nass, als wä re ich tatsä chlich im See gewesen. Der Gedanke, dorthin zu laufen, kommt mir jetzt geradezu irre vor. Als kö nnte ich mit meinem verbundenen Fuß schwimmen! Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe.

       Ach ja? Weiß t du das wirklich nicht?

       Jetzt will ich vor allem schlafen. Aber erst rapple ich mich noch einmal auf, humple zurü ck zu der Falltü r und zerre eine Kommode darü ber.

       Danach fü hle ich mich wenigstens sicher. Ich gehe ins Bett und schlafe wie ein Toter.




  

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