Хелпикс

Главная

Контакты

Случайная статья





LONDON.  KAPITEL 2



LONDON

       Das Oberlicht ist von Kondenswasser beschlagen. Regen trommelt darauf ein. Wir liegen auf dem Bett, unsere schmutzigen Spiegelbilder ü ber uns – verschwommene Doppelgä nger, die im Glas gefangen sind.

       Chloe ist ganz weit weg. Ich kenne ihre Stimmungen inzwischen gut genug, um sie nicht zu bedrä ngen und sie in Ruhe zu lassen, bis sie freiwillig wieder mit mir spricht. Sie starrt durch das Oberlicht nach drauß en, und ihre blonden Haare fangen das Licht von der Muschellampe ein, die sie auf dem Flohmarkt gekauft hat. Ihre Augen sind blau. Sie blinzelt nicht. Ich habe wieder das Gefü hl, ich kö nnte meine Hand quer durch ihr Sichtfeld wischen, ohne eine Reaktion zu bekommen. Ich will sie fragen, worü ber sie nachdenkt, aber ich schweige. Ich habe Angst, sie kö nnte es mir erzä hlen.

       Die Luft im Raum ist kalt und feucht auf meiner nackten Brust. Am anderen Ende der Wohnung steht eine leere Leinwand unberü hrt auf Chloes Staffelei. Sie ist jetzt schon seit Wochen leer. Der Geruch von Terpentin und Ö lfarben, den ich lange Zeit mit dieser kleinen Wohnung verknü pft hatte, ist verflogen und kaum mehr wahrnehmbar.

       Ich spü re, wie sie sich neben mir regt.

       «Denkst du auch manchmal darü ber nach, wie es sein wird zu sterben? », fragt sie.


[zur Inhaltsü bersicht]


 KAPITEL 2

       Ein Auge starrt mich an. Es ist schwarz, aber in der Mitte wird es von etwas Grauem umwö lkt, das mich an grauen Star denken lä sst. Mehrere Linien verlaufen von der Mitte aus wie Wellen. Irgendwo verschwinden diese Linien in der Struktur eines Holzstü cks. Das Auge wird zu einem Knoten, das Graue zu einem Spinnennetz, das sich darü ber wie eine staubige Decke spannt. Das Netz ist mit den Hü lsen lä ngst verendeter Insekten gespickt. Von der Spinne ist allerdings nichts zu sehen.

       Ich weiß nicht, wie lange ich nach oben starre, ehe ich erkenne, dass es sich um einen Holzbalken handelt, der vom Alter dunkel und rau ist. Irgendwann danach wird mir bewusst, dass ich wach sein muss. Ich verspü re nicht den Drang, mich zu bewegen, denn ich habe es warm und bequem. Fü r den Augenblick genü gt mir das. Mein Verstand ist leergefegt, und ich bin damit zufrieden, auf das Spinnennetz ü ber mir zu schauen. Aber sobald ich diesen Gedanken fassen kann, verliert er schon seine Gü ltigkeit. Mit dem Bewusstsein kommen auch die Fragen und ein Anflug von Panik: wer, was, wann?

       Wo, vor allem.

       Ich hebe den Kopf und schaue mich um.

       Ich liege in einem Bett und bin in einem Raum, den ich nicht erkenne. Es ist weder ein Krankenhauszimmer noch eine Arrestzelle. Sonnenlicht fä llt schrä g durch ein einzelnes, kleines Fenster. Der Balken, auf den ich starre, gehö rt zu der dreieckigen Dachkonstruktion, die sich zu beiden Seiten bis zum Boden erstreckt. Einzelne Lichtstrahlen fallen durch die Lü cken zwischen den Dachziegeln. Ein Dachboden also. Eine Art Scheune, so wie’s aussieht. Ein langer Raum mit nackten Dielenbrettern und Giebeln an beiden Enden. Mein Bett befindet sich unter einem der Giebel. Sperrmü ll und Mö bel, die zum grö ß ten Teil kaputt sind, stapeln sich an beiden Seiten vor den nackten Steinwä nden. Ein muffiger Geruch liegt in der Luft, nach Alter, Holz und Stein. Es ist heiß, aber nicht unangenehm.

       Das Licht, das durch das staubige Fenster fä llt, ist frisch und hell. Ich trage meine Armbanduhr, nach der es jetzt sieben Uhr ist. Als brä uchte ich nun noch eine Bestä tigung, dass Morgen ist, hö re ich von irgendwo da drauß en das heisere Krä hen eines Hahns.

       Ich habe keine Ahnung, wo ich bin oder was ich hier soll. Dann bewege ich mich, und der plö tzliche Schmerz am Ende meines Beins versetzt meinem Gedä chtnis den entscheidenden Ruck. Ich werfe die Decke beiseite, unter der ich liege. Erleichtert stelle ich fest, dass mein Fuß noch da ist. Er ist in einen weiß en Verband gewickelt, aus dem meine Zehenspitzen wie Radieschen hervorgucken. Ich versuche, mit den Zehen zu wackeln. Es tut weh, aber lä ngst nicht mehr so schlimm wie vorher.

       Erst dann bemerke ich, dass ich nackt bin. Meine Jeans und mein T-Shirt liegen ü ber der Rü ckenlehne eines Holzstuhls, der neben meinem Bett steht. Beides ist sorgfä ltig zusammengelegt und sieht frisch gewaschen aus. Meine Stiefel stehen neben dem Stuhl auf dem Boden, und jemand hat sogar versucht, den beschä digten zu sä ubern. Aber das Leder ist von den Blutflecken dunkel, und die Risse, die von dem Treteisen stammen, kann man nicht reparieren.

       Ich breite die Decke wieder ü ber meinen Kö rper und versuche, mich zu erinnern. Was war passiert, nachdem ich in die Falle tappte und bevor ich hier aufwachte? Dazu will mir nichts einfallen, aber dafü r drä ngen andere Erinnerungen sich in den Vordergrund. Im Wald bin ich auf das Treteisen getreten. Ich bin per Anhalter gefahren und habe den Wagen versteckt und bin zu Fuß weitergegangen. Und dann erinnere ich mich auch wieder an das, was mich ü berhaupt hergefü hrt hatte.

       Lieber Himmel, denke ich und fahre mit der Hand ü ber mein Gesicht, weil ich jetzt alles wieder weiß.

       Der Anblick meines Rucksacks, der gegen ein altes schwarzes Schaukelpferd gelehnt ist, lä sst mich zusammenzucken. Ich setze mich auf, weil ich wieder weiß, was in dem Rucksack ist. Das war zu schnell; ich schließ e die Augen und kä mpfe gegen eine Welle der Ü belkeit. Der Raum dreht sich um mich. Als der Schwindel nachlä sst, hö re ich Schritte, die sich von unten nä hern. Ein quietschendes Gerä usch, und ein Teil des Fuß bodens schwingt auf.

       Ein Arm schiebt die Falltü r hoch, und eine Frau kommt auf den Dachboden. Ich erkenne sie; ich bin ihr schon einmal begegnet. Sie war die Frau mit dem Baby im Bauernhaus. Was die Frage klä rt, wo ich bin. Wenn auch nicht, warum. Sie zö gert, als sie mich sieht.

       «Sie sind wach», sagt sie.

       Es dauert einen Moment, ehe ich merke, dass sie mich auf Englisch angesprochen hat. Sie hat einen harten Akzent und klingt zö gerlich, doch sie spricht fließ end. Ich spü re grobe, unbehauene Steine an meinem Rü cken, ehe ich erkenne, dass ich unwillkü rlich zurü ckgewichen bin. Mit einer Hand umklammere ich das verschwitzte Laken. Ich zwinge mich loszulassen. Sie bleibt in einiger Entfernung vor dem Bett stehen, das im Grunde nur eine Matratze auf den Dielenbrettern ist.

       «Wie fü hlen Sie sich? » Ihre Stimme ist leise und ruhig. Sie trä gt ein ä rmelloses Oberteil und eine abgewetzte Jeans. An ihr ist nichts Bedrohliches, aber mein Verstand ist schwerfä llig wie ein altersschwacher Computer. Mein Hals schmerzt, als ich versuche zu sprechen. Ich schlucke und versuche es erneut.

       «Mein Fuß …»

       «Der war ü bel zugerichtet. Aber keine Sorge, das kommt wieder in Ordnung. »

       Keine Sorge? Ich schaue mich um. «Wo bin ich? »

       Sie antwortet nicht sofort. Hat sie die Frage nicht verstanden, oder muss sie sich die richtige Antwort zurechtlegen? Ich wiederhole die Frage auf Franzö sisch.

       «Sie sind auf dem Hof. Wo Sie nach Wasser gefragt haben. » Ihre Stimme ist in ihrer Muttersprache fließ ender, aber noch immer ist etwas Zö gerliches an ihr. Als mü sse sie jedes Wort genau abwä gen, ehe sie es ausspricht.

       «Ist das … Es sieht wie eine Scheune aus? »

       «Im Haus ist leider kein Platz. » Ihre grauen Augen sind ganz ruhig. «Meine Schwester hat Sie im Wald gefunden. Sie hat mich geholt, und wir haben Sie hergebracht. »

       Ich erinnere mich vage an das Gesicht eines Mä dchens. Nichts von alledem ergibt irgendeinen Sinn. Mein Verstand ist noch immer ganz benommen, weshalb ich nicht genau weiß, was von meinen Erinnerungen wirklich ist und was nur dem Delirium zuzuschreiben.

       «Wie lange bin ich schon hier? »

       «Wir haben Sie vor drei Tagen gefunden. »

       Drei Tage? Dunkel kann ich mich an Schmerzen und Schweiß, an kü hle Hä nde und beruhigende Worte erinnern. Aber das kö nnen auch Fieberträ ume gewesen sein. Ich spü re den Schmerz langsam wieder erwachen. Misstrauisch beobachte ich, wie sie ein Papiertaschentuch aus der Tasche holt und daraus eine groß e, weiß e Tablette wickelt.

       «Was ist das? »

       «Nur ein Antibiotikum. Die haben wir Ihnen verabreicht, wä hrend Sie bewusstlos waren. Sie hatten Fieber, und die Wunde hat sich infiziert. »

       Ich schaue auf die Wö lbung, die mein Fuß unter der dü nnen Decke formt. Meine anderen Ä ngste kommen mir plö tzlich bedeutungslos vor.

       «Wie schlimm ist es? »

       Sie nimmt eine Flasche, die neben dem Bett steht, und gieß t Wasser in ein Glas. «Es verheilt. Aber Sie werden eine Weile nicht laufen kö nnen. »

       Ich weiß nicht, ob sie mich belü gt. «Was ist passiert? Da war eine Falle …»

       «Spä ter. Sie mü ssen sich jetzt ausruhen. Hier. »

       Sie hä lt mir die Tablette und das Glas hin. Ich nehme beides und bin zu durcheinander, um einen klaren Gedanken zu fassen. Aber sie ist so ruhig und reserviert, das empfinde ich als wohltuend. Sie mü sste um die dreiß ig sein, plus/minus ein, zwei Jahre. Sie ist dü nn, doch Hü ften und Brü ste sind ü ppiger. Die dunklen Haare sind direkt ü ber dem Nacken abgeschnitten. Gelegentlich schiebt sie sie auf einer Seite hinters Ohr. Eine Geste, die auf mich eher wie eine Angewohnheit wirkt und nicht wie Affektiertheit. Das Einzige, was an ihr wirklich auß ergewö hnlich ist, sind die Augen, die zwar mü de und verschattet sind, aber von einem dunklen, rauchigen Grau.

       Ich spü re jetzt ihren Blick auf mir ruhen. Ernst und undurchdringlich beobachtet sie mich, wä hrend ich mit etwas Wasser die Tablette schlucke. Aus dem einen Schluck wird schnell das ganze Glas, das ich durstig herunterstü rze.

       «Mehr? », fragt sie, als ich es absetze. Ich nicke und strecke ihr das Glas hin. «In der Flasche neben dem Bett ist frisches Wasser. Versuchen Sie, so viel wie mö glich zu trinken. Und wenn der Schmerz zu schlimm wird, nehmen Sie ruhig zwei hiervon. »

       Sie hä lt ein Tablettenflä schchen hoch. Wie aufs Stichwort beginnt mein Fuß zu pochen. Der Schmerz ist nur ein Schatten seines frü heren Selbst, aber es tut trotzdem weh. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen, doch etwas an ihren ruhigen grauen Augen lä sst mich wissen, dass ich sie nicht tä uschen kann.

       «Woher wussten Sie, dass ich Englä nder bin? »

       Sie antwortet ohne Zö gern. «Ich habe in Ihren Reisepass geguckt. »

       Sofort ist mein Mund staubtrocken. «Sie haben meinen Rucksack durchsucht? »

       «Ich wollte nur herausfinden, wer Sie sind. »

       Ihr Gesichtsausdruck ist ernst, aber nicht entschuldigend. Ich versuche, nicht zu dem Rucksack zu schauen, aber mein Herz hä mmert laut in der Brust.

       «Ich muss jetzt gehen», erklä rt sie. «Versuchen Sie, sich auszuruhen. Ich bringe Ihnen bald etwas zu essen. »

       Ich nicke. Jetzt will ich eigentlich nur noch alleine sein. Ich warte, bis sie verschwunden ist und die Falltü r sich hinter ihr senkt. Dann ziehe ich meinen Rucksack zu mir her. Das Schaukelpferd schaukelt leicht vor und zurü ck. Ich ö ffne den Rucksack und stecke die Hand hinein. Zuerst nichts auß er Klamotten. Dann, als ich schon ü berzeugt bin, dass das Pä ckchen verschwunden ist, spü re ich unter den Fingerspitzen das leise knisternde Plastik.

       Ich weiß einen Moment lang nicht, ob ich erleichtert oder entsetzt sein soll.

       Das Paket scheint unberü hrt zu sein. Es liegt schwer in meiner Hand. Ich hä tte es loswerden sollen, als ich noch die Gelegenheit dazu hatte. Dafü r ist es jetzt zu spä t. Ich wickle es in ein T-Shirt, schiebe es bis an den Boden des Rucksacks und bedecke es mit meinen restlichen Klamotten. Dann ü berprü fe ich meinen Reisepass und mein Geld. Beides ist noch da, aber als ich die Hand zurü ckziehe, berü hren meine Finger ein glä nzendes Pappquadrat.

       Das Foto. Ich will es mir nicht ansehen, aber ich kann nicht anders und ziehe es heraus. Ein Schmerz hat sich unter meinem Brustbein eingenistet und erwacht, als ich das lä chelnde Gesicht des Mä dchens im Sonnenlicht sehe. Impulsiv packe ich die Ecken des Fotos und will es in zwei Hä lften zerreiß en. Aber ich kann nicht. Stattdessen streiche ich die Knicke glatt und stecke es zurü ck in die Tasche.

       Plö tzlich bin ich erschö pft. Und noch verwirrter als ohnehin schon. Die Frau hat mir eigentlich nichts verraten. Besonders verwirrt mich, dass ich in ihrer Scheune liege und nicht in einem Krankenhausbett. Und verspä tet fä llt mir noch etwas auf. Nachdem die Frau die Falltü r hinter sich zugezogen hat, habe ich ein anderes Gerä usch wahrgenommen. Das dumpfe Schaben von Metall auf Holz.

       Wie wenn jemand einen Riegel vorschiebt.

       Mein bandagierter Fuß pocht, als ich die Beine von der Matratze schwinge. Ich ignoriere den Schmerz und stehe auf, nur um fast wieder hinzufallen. Ich lehne mich gegen die Steinwand und warte, bis der Dachboden sich nicht mehr um mich dreht. Dann versuche ich, einen ersten Schritt zu machen. Mein Fuß protestiert unter meinem Gewicht, und ich hü pfe einbeinig vorwä rts, stü tze mich am Stuhl ab und bringe dabei in dessen Innern irgendwas zum Scheppern. Jetzt erst bemerke ich, dass es ein Toilettenstuhl ist. Und zum ersten Mal seit dem Aufwachen bemerke ich den heftigen Druck auf meiner Blase.

       Aber das wird warten mü ssen. Es ist offensichtlich, dass ich nicht weit kommen werde. Aber ich kann nicht zurü ck ins Bett, ehe ich nicht Gewissheit habe. Ich stü tze mich auf den staubigen Mö beln ab und bewege mich taumelnd bis zur Luke. Ein Eisenring ist in die Bodenklappe eingelassen. Auf einen alten Sekretä r gestü tzt, halte ich mich fest und ziehe an dem Eisenring. Die Falltü r gibt leicht nach, dann steckt sie fest.

       Sie ist verriegelt.

       Himmel. Ich muss Panik niederkä mpfen. Ich kann mir keinen Grund denken, warum ich hier oben eingesperrt bin. Zumindest keinen guten. Aber es steht auß er Frage, dass ich zu schwach bin, um auch nur zu versuchen, hier rauszukommen. Selbst wenn ich etwas finde, mit dem der Riegel sich aufhebeln lä sst, hat es mich schon das letzte bisschen Kraft gekostet, einmal quer ü ber den Dachboden zu humpeln. Ich benutze den Toilettenstuhl und bin froh, mich erleichtern zu kö nnen. Dann sinke ich wieder auf die Matratze. Ich bin mit einem schmierigen Schweiß film ü berzogen, und mein Kopf und der Fuß pochen gleichermaß en.

       Ich nehme zwei von den Schmerztabletten und lege mich wieder hin. Doch ich bin zu aufgedreht, um schlafen zu kö nnen. Der Schmerz im Fuß lä sst gerade nach, als ich von der Falltü r her ein Gerä usch hö re. Dann schwingt sie mit einem Quietschen auf.

       Dieses Mal kommt jemand anderes nach oben, ein Mä dchen. Ich habe sie noch nie gesehen, aber als sie die Falltü r zuklappt, tanzt das Licht auf ihrem Gesicht und weckt damit eine misstö nende Erinnerung. Sie trä gt ein Tablett und lä chelt lauernd, als sie sieht, dass ich wach bin. Ich lege hastig die Decke ü ber meinen Unterleib. Sie senkt den Blick und verkneift sich ein Grinsen.

       «Ich habe Ihnen was zu essen gebracht. »

       Sie ist noch ein Teenager, knapp zwanzig, schä tze ich. Sogar mit dem verwaschenen T-Shirt und der Jeans ist sie wunderschö n. Sie trä gt pinke Flipflops, und der Anblick ist fü r mich irgendwie unpassend und zugleich merkwü rdig beruhigend.

       «Nur etwas Brot und Milch», sagt sie und stellt das Tablett neben der Matratze ab. «Mathilde sagt, Sie sollten lieber noch nicht so viel essen. »

       «Mathilde? »

       «Meine Schwester. »

       Die andere Frau, schließ e ich daraus. Zwischen den beiden besteht keine allzu groß e Ä hnlichkeit. Das Haar des Mä dchens ist heller, fast blond, und reicht ihr bis an die Schultern. Ihre Augen sind eine hellere Ausgabe vom dunklen Grau ihrer Schwester, und ihre Nase hat einen leichten Hö cker, wo sie einmal gebrochen war. Eine winzige Unvollkommenheit, die ihre Schö nheit irgendwie komplettiert.

       Sie wirft mir weiterhin Seitenblicke zu und lä chelt die ganze Zeit. Dabei bilden sich bezaubernde Grü bchen in ihren Wangen.

       «Ich bin Gretchen», sagt sie. Kein franzö sischer Name, aber sobald sie ihn ausgesprochen hat, finde ich, dass er gut zu ihr passt. «Ich bin froh, dass Sie wach sind. Sie waren tagelang krank. »

       Jetzt weiß ich, warum sie mir so bekannt vorkommt. Das madonnenhafte Gesicht, das ich wä hrend meines Deliriums gesehen habe, war gar keine Halluzination. «Du bist die, die mich gefunden hat? »

       «Ja. » Sie wirkt verlegen, aber auch zufrieden. «Eigentlich war das aber Lulu. »

       «Lulu? »

       «Unser Hund. Sie fing an zu bellen, und ich dachte erst, sie hä tte ein Kaninchen gewittert. Auf den ersten Blick sahen Sie ziemlich tot aus. Sie haben sich gar nicht gerü hrt, und ü berall schwirrten Fliegen herum. Dann machten Sie ein Gerä usch, und ich wusste, Sie leben noch. » Sie schü ttelt sich. «Es war ziemlich widerlich, Sie mit dem Brecheisen aus der Falle zu befreien. Sie haben sich gewehrt und lauter komische Sachen gebrü llt. »

       Ich versuche, gleichgü ltig zu klingen. «Zum Beispiel? »

       «Ach, das war nur wirres Zeug. » Sie tritt heran und stellt sich neben das Schaukelpferd. «Sie haben im Fieberwahn geredet, und das meiste war ohnehin englisch, also hab ich es gar nicht verstanden. Aber Sie haben damit aufgehö rt, sobald wir Ihren Fuß aus dem Eisen hatten. »

       So, wie sie das erzä hlt, schien das alles nicht die Spur ungewö hnlich gewesen zu sein. «Wer ist wir? »

       «Mathilde und ich. »

       «Nur ihr zwei? Ihr habt mich ganz allein hier raufgeschafft? »

       «Natü rlich. » Sie zieht einen Flunsch. «Sie sind nicht so schwer. »

       «Nein, aber … Wieso bin ich nicht im Krankenhaus? Habt ihr denn keinen Krankenwagen gerufen? »

       «Wir haben kein Telefon. » Sie scheint das nicht besonders merkwü rdig zu finden. «Auß erdem weiß Mathilde, wie man sich um Wunden und solche Sachen kü mmert. Papa war mit Georges unterwegs, und sie wollte nicht … Nun, wir haben es allein geschafft. »

       Ich weiß nicht, was sie sagen wollte, sich aber verkniffen hat, oder wer Georges ist. Aber es gibt zu viele andere Fragen, die mir wichtiger erscheinen. «Ist Mathilde Krankenschwester? »

       «Ach nein. Aber sie hat Mama gepflegt, bevor sie starb. Und sie kü mmert sich auch um die Tiere, wenn sie sich verletzen. Die Sanglochons kä mpfen stä ndig gegeneinander oder ziehen sich am Zaun Schnittverletzungen zu. »

       Ich habe keine Ahnung, was ein Sanglochon ist, und es interessiert mich auch gar nicht. «Ihr habt nicht mal einen Arzt geholt? »

       «Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass es nicht nö tig war. » Sie klingt verä rgert. «Ich weiß nicht, wieso Sie so sauer sind. Sie sollten dankbar sein, dass wir uns um Sie gekü mmert haben. »

       Die ganze Situation wird immer unwirklicher. Aber ich bin wohl nicht in der Position, um irgendwen gegen mich aufzubringen. «Das bin ich auch. Es ist nur … verwirrend. »

       Besä nftigt stü tzt sie sich auf das Schaukelpferd. Ihr Blick bleibt an meinem Gesicht hä ngen. «Was ist mit Ihrer Wange passiert? Sind Sie gestü rzt, als Sie in die Falle getreten sind? »

       «Oh, ich … glaube schon. » Ich habe den Bluterguss ganz vergessen. Ich berü hre ihn, und der Schmerz weckt Erinnerungen, die mein Herz schneller schlagen lassen. Rasch lasse ich die Hand sinken und versuche, mich auf die Gegenwart zu konzentrieren. «Das Fangeisen sah nicht sonderlich alt aus. Hast du eine Ahnung, was es dort zu suchen hat? »

       Sie nickt. «Das ist eine von Papas Fallen. »

       Ich weiß nicht, was mich mehr entsetzt: die beilä ufige Art ihres Gestä ndnisses oder die Tatsache, dass es da drauß en noch mehr davon gibt.

       «Du meinst, du hast davon gewusst? »

       «Natü rlich. Papa stellt viele Fallen auf. Er ist der Einzige, der weiß, wo sich jede einzelne befindet. Aber er hat uns gesagt, wo im Wald wir lieber aufpassen sollen. »

       Sie spricht es «P’paaa» aus und stö ß t die beiden Silben sanft wie eine einzige hervor. Die Kurzform klingt fü r mich ehrfü rchtig und nicht kindlich. Aber was weiß ich schon; im Moment habe ich ganz andere Probleme.

       «Was will er damit denn fangen? Es gibt in dieser Gegend doch keine Bä ren, oder? » Ich meine mich zu erinnern, schon mal von Braunbä ren in den Pyrenä en gehö rt zu haben. Das ist zwar nicht gerade in der Nä he, aber es ist im Moment die einzige halbwegs vernü nftige Erklä rung, die mir einfä llt.

       Gretchens Lachen macht diese vage Hoffnung gleich wieder zunichte. «Nein, natü rlich nicht! Die Fallen sollen die Leute davon abhalten, einfach aufs Grundstü ck zu kommen. »

       Sie sagt das, als wä re es absolut normal, fast tö dliche Menschenfallen aufzustellen. Ich schaue auf meinen Fuß und kann es immer noch nicht glauben. «Das meinst du nicht ernst? »

       «Der Wald gehö rt uns. Wenn jemand sich darin herumtreibt, geschieht es ihm ganz recht. » Sie ist jetzt kü hler, fast schon ü berheblich. «Was haben Sie ü berhaupt auf unserem Grund zu suchen gehabt? »

       Ich hab mich vor einem Polizeiauto versteckt. So langsam glaube ich, das wä re noch das kleinere von zwei Ü beln gewesen. «Ich wollte mich erleichtern. »

       Gretchen kichert. Ihre schlechte Laune ist verflogen. «Ich wette, Sie wü nschen sich jetzt, es ausgehalten zu haben. » Ich bringe ein schwaches Lä cheln zustande. Sie betrachtet mich, und ihre Finger fahren dabei ü ber die raue Mä hne des Schaukelpferds. «Mathilde sagt, Sie sind ein Rucksacktourist. Sind Sie hier auf Urlaub? »

       «So was in der Art. »

       «Sie sprechen sehr gut Franzö sisch. Haben Sie eine franzö sische Freundin? »

       Ich schü ttle den Kopf.

       «Dann eine englische? »

       «Nein. Wann kann ich gehen? »

       Gretchen hö rt auf, die Pferdemä hne zu streicheln. «Warum? Haben Sie es eilig? »

       «Es gibt Leute, die mich erwarten. Sie werden sich Sorgen machen. »

       Die Lü ge klingt sogar in meinen Ohren wenig ü berzeugend. Sie lehnt sich zurü ck und stü tzt sich mit den Hä nden auf dem Schaukelpferd hinter ihr ab. Ihre Brü ste drü cken sich gegen das T-Shirt. Ich schaue weg.

       «Sie kö nnen jetzt noch nicht gehen», erklä rt sie. «Es geht Ihnen noch nicht wieder gut. Sie sind fast gestorben, verstehen Sie? Sie sollten dankbar sein. »

       Das sagt sie nun schon zum zweiten Mal. Ich bin nicht sicher, ob das eine Drohung sein soll. Die Falltü r ist jetzt nicht verriegelt, und einen kurzen Moment ü berlege ich, ob ich dorthin rennen soll. Dann werde ich von der Wirklichkeit eingeholt – Laufen ist im Moment fü r mich keine Option.

       «Ich geh lieber zurü ck», sagte sie.

       Das Schaukelpferd nickt heftig, als sie aufsteht. Ihre Jeans umschmiegt ihren Hintern und die Hü ften, als sie sich bü ckt, um die schwere Falltü r hochzuheben. Sie macht mehr Aufhebens darum, als eigentlich nö tig wä re, und der rasche Blick, den sie in meine Richtung wirft, als sie sich aufrichtet, lä sst mich glauben, dass das kein Zufall ist.

       «Kannst du den Riegel offen lassen? », frage ich. «Hier oben ist kaum frische Luft. »

       Gretchens Lachen ist hell und mä dchenhaft. «Natü rlich ist hier genug frische Luft. Wie kö nnten Sie sonst atmen? Sie wä ren ja schon tot, wenn’s nicht so wä re. »

       Obwohl ich darauf warte, zucke ich doch zusammen, als ich hö re, wie der Riegel wieder vorgeschoben wird.

           

       Ich erinnere mich nicht, wie ich eingeschlafen bin. Als ich aufwache, ist der Dachboden dunkel und von Schatten bevö lkert. Ich drehe meine Uhr so, dass Licht darauf fä llt, und sehe, dass es schon nach neun ist. Ich lausche auf irgendwelche Gerä usche von drauß en, aber nichts dringt bis zu mir. Kein Flü stern, nicht mal ein Vogel oder ein Insekt.

       Ich habe das Gefü hl, der letzte Mensch auf Erden zu sein.

       Das Tablett mit Essen, das Gretchen mir gebracht hat, steht noch neben dem Bett. Es gibt eine mit Wasser gefü llte Weinflasche, eine Schü ssel mit Milch und zwei Stü cke von etwas, das wie selbstgebackenes Brot aussieht. Ü berrascht stelle ich fest, wie ausgehungert ich bin. Die Milch ist kü hl und dickflü ssig und schmeckt sehr krä ftig, weshalb ich vermute, es kö nnte sich um Ziegenmilch handeln. Ich tunke das Brot hinein und bin ü berzeugt, damit nicht mal ansatzweise meinen Hunger stillen zu kö nnen. Aber wer mir das Essen hergerichtet hat, weiß es besser als ich. Nach wenigen Mundvoll vergeht mir der Appetit. Ich schiebe das Tablett beiseite und lege mich wieder hin.

       Fü r den Moment gesä ttigt, starre ich auf die dunklen Deckenbalken. Mein Fuß pocht wie ein Metronom. Ich weiß nicht, ob ich Patient oder Gefangener bin. Man kü mmert sich anstä ndig um mich, und wenn der Wald rund um den Hof voller illegaler Fallen ist, erklä rt das, warum sie nicht das Risiko eingehen wollen, mich in ein Krankenhaus zu bringen.

       Aber nachdem ich mit meinen Gedanken so weit gekommen bin, schlagen sie eine dü stere Richtung ein. Ich bin noch immer in einer Scheune eingesperrt, und niemand weiß, dass ich hier bin. Was wü rde passieren, wenn es mir plö tzlich schlechter geht? Und was wird aus mir, wenn ich mich vollstä ndig erholt habe? Lassen sie mich dann einfach wieder gehen?

       Verschwitzt und unruhig werfe ich mich auf der unebenen Matratze hin und her und versuche, eine bequeme Position zu finden. Irgendwann muss ich doch eingeschlafen sein. Ich bin wieder in dem Wä ldchen und reibe an den Blutflecken auf dem Sicherheitsgurt herum. Sie gehen nicht raus, und der Gurt schlä gt immer wieder gegen den Beifahrersitz. Das Schlagen wird lauter, und dann bin ich plö tzlich wach und wieder auf dem Dachboden. Das Gerä usch kommt von unten. Mir bleibt gerade noch genug Zeit, um zu realisieren, dass jemand die Stufen hochkommt. Dann wird der Riegel mit einem Kreischen zurü ckgezogen, und die Falltü r fliegt auf.

       Mit einem Knall fä llt die Klappe auf die Dielen. Ein Mann stapft die letzten Stufen herauf und hä lt eine Laterne hoch. Er ist in den Fü nfzigern, dick wie ein Fass, mit stahlgrauen Haaren und einem von der Sonne zerfurchten Gesicht. Im Moment ist es zu einer wü tenden Maske verzerrt, wä hrend sich seine Augen auf mich richten. Ein Jagdgewehr liegt in der anderen Hand. Es ist zwar nicht auf mich gerichtet, aber alles an dem Mann lä sst keinen Zweifel daran, dass sich das schnell ä ndern kann.

       Ich setze mich auf und lehne mit dem Rü cken an der Wand. Er stapft ü ber die Dielen auf mich zu. Mathilde eilt hinter ihm die Stufen hoch.

       «Lass das! Nicht! »

       Er ignoriert sie. Am Fuß ende der Matratze bleibt er stehen und starrt mich finster an. Der gelbliche Schein der Laterne erschafft eine Hö hle aus Licht um uns und taucht den Rest des Raums in tiefe Dunkelheit.

       «Verschwinden Sie», knurrt er. Ihn umgibt eine Aura aus unterdrü ckter Wut. Als kö nnte er sich gerade noch bezä hmen, mich nicht aus dem Bett zu zerren.

       Mathilde greift nach seinem Arm. «Lass ihn doch wenigstens bis morgen frü h …»

       Er schü ttelt sie ab, ohne den Blick von mir abzuwenden. «Verschwinden Sie», wiederholt er.

       Ich habe wohl kaum eine Wahl. Ich schlage die Decke zurü ck und versuche so zu tun, als wä re mir meine Nacktheit egal. Dann hü pfe ich zu dem Toilettenstuhl und setze mich zum Anziehen darauf. Ich versuche, nicht vor Schmerz das Gesicht zu verzerren, als ich die Jeans ü ber meinen verbundenen Fuß schiebe. Ich kann ihn unmö glich in einen Schuh stecken und stopfe deshalb den kaputten Wanderstiefel mit meinen anderen Sachen in den Rucksack. Nachdem das erledigt ist, stehe ich unsicher auf.

       Der Mann zeigt mit dem Gewehrlauf auf die Falltü r. «Los jetzt», sagt er ü berflü ssigerweise.

       «Ist ja schon gut, ich gehe», versichere ich ihm und versuche, wenigstens einen Rest Wü rde zu wahren.

       Und das will ich wirklich. Ich bin allerdings nicht sicher, ob ich es zum anderen Ende des Dachbodens schaffe. Ich zö gere, dann straffe ich mich und mache mich auf den langen Weg zur Falltü r. Mathildes Gesicht ist ausdruckslos, als ginge sie nichts an, was gerade passiert.

       Der Mann macht einen Schritt auf mich zu. «Bewegung. »

       Ich bin nicht in der Lage, Einwä nde zu erheben. Ich klammere mich mit beiden Hä nden an den Aluminiumrahmen meines Trekkingrucksacks und schiebe ihn vor mir her. Die Entfernung zur Falltü r lege ich mit vielen langsamen, schlurfenden Sprü ngen auf dem gesunden Bein zurü ck. Mathilde und ihr Vater folgen mir. Im Schein seiner Laterne sehe ich Gretchen mit dem Baby auf den Stufen stehen. Erstaunlicherweise schlä ft es noch, der Kopf lehnt schlaff an ihrer Schulter. Aber sie hat die Augen weit aufgerissen und sieht verä ngstigt aus, als sie mir Platz macht.

       Ich schiebe den Rucksack bis zu der Luke vor. Wut und Krä nkung haben mich bis hierher getrieben, aber ich habe keine Ahnung, wie ich es die Treppe runter schaffen soll. Die sauberen Klamotten kleben schon wieder verschwitzt auf meiner Haut. Ich kann mich riechen – mein Schweiß stinkt nach Krankheit. Behutsam lasse ich mich nieder, und in der Lukenö ffnung sitzend, stecke ich die Arme durch die Schulterriemen des Rucksacks. Dann schiebe ich mich vor, taste mit dem gesunden Fuß nach der ersten Stufe und verlagere mein Gewicht darauf. Ich halte mich an der Einfassung der Luke fest und empfinde ein gewisses Triumphgefü hl, als ich auf die nä chste Stufe hü pfe. Mir bleibt kaum Zeit, die raschen Schritte hinter mir zu registrieren, bevor mich jemand in den Rü cken stö ß t und ich in die Dunkelheit stü rze.

       Die Luft wird mir aus den Lungen getrieben, als ich am Fuß der Treppe mit ohrenbetä ubendem Getö se in Flaschen krache. Dann liege ich einfach nur perplex und atemlos dort, wo ich gelandet bin. Das Eigengewicht des Rucksacks drü ckt mich nieder. Ich versuche, mich hochzuhieven. Dann ist jemand an meiner Seite und hilft mir auf.

       «Sind Sie okay? »

       Es ist Mathilde. Ehe ich antworten kann, kommt ihr Vater die Stufen herunter. Das Licht von seiner Lampe flackert auf den ü berall verstreuten Flaschen. Hinter ihm kann ich im Schatten Gretchen erkennen. Das Baby ist aufgewacht und hat angefangen zu weinen, aber das scheint niemand zu bemerken. Wir befinden uns jetzt auf einer Art gezimmerter Galerie, die sich zwischen dem Dachboden und dem unteren Teil der Scheune befindet. Ich mache mich von Mathildes Hä nden los und packe einen Flaschenhals, kä mpfe mich auf die Fü ß e und stelle mich ihm.

       «Bleiben Sie zurü ck! », schreie ich auf Englisch, weil mein Franzö sisch mich gerade im Stich lä sst. Warnend hebe ich die Flasche. Mein verletzter Fuß protestiert, als ich, um Gleichgewicht ringend, das Gewicht darauf verlagere.

       Der Mann erreicht das untere Ende der Treppe. Er ist der Mittelpunkt der gelben Aura von seiner Laterne. Seine Hand umschließ t das Gewehr, und er starrt die Flasche geringschä tzig an. Dann macht er einen Schritt auf mich zu. Mathilde tritt dazwischen. «Lass das. Bitte. »

       Ich bin nicht sicher, mit wem von uns beiden sie spricht. Aber ihr Vater bleibt stehen und starrt mich stumm und voll unverhohlenem Abscheu an.

       «Ich habe doch versucht zu gehen! », schreie ich.

       Meine Stimme ist wacklig. Das Adrenalin hat mich geschwä cht; ich zittere. Plö tzlich spü re ich das kalte Gewicht der Flasche in meiner Hand. Ich schwanke, und mir wird ü bel. Fü r einen Augenblick stehe ich wieder auf einer dunklen Straß e, und eine andere Szene voller Blut und Gewalt spielt sich vor meinen Augen ab.

       Ich lasse die Flasche fallen. Sie rollt ü ber die staubigen Dielenbretter und stö ß t mit einem dumpfen Klackern gegen die anderen. Das Baby heult immer noch und windet sich in Gretchens Armen, aber niemand sagt ein Wort, als ich auf die nä chste Treppe zuhumple. Fast augenblicklich geben meine Beine nach, und ich lande unsanft auf den Knien. Ich heule fast vor lauter Frust, aber ich habe nicht mehr die Kraft aufzustehen. Dann ist Mathilde wieder an meiner Seite und schiebt ihren Arm unter meinen.

       «Ich schaffe das», behaupte ich bockig. Sie ignoriert meinen Einwand und schiebt mich gegen einen Holzbalken, ehe sie sich wieder an ihren Vater wendet.

       «Er ist nicht in dem Zustand, irgendwohin zu gehen. »

       Sein Gesicht wirkt hart im Laternenlicht. «Das ist aber nicht mein Problem. Ich will ihn nicht hier haben. »

       Wenn Ihre Falle nicht wä re, wä re ich auch nicht hier, will ich einwenden, aber kein Laut kommt ü ber meine Lippen. Mir ist schwindelig. Ich schließ e die Augen und lehne den Kopf gegen den Balken. Ihre Stimmen wirbeln um mich herum.

       «Er ist ein Fremder, darum konnte er das nicht wissen. »

       «Das ist mir egal. Er bleibt nicht. »

       «Ist es dir lieber, wenn die Polizei ihn abholt? »

       Die Erwä hnung der Polizei lä sst mich den Kopf heben, aber die Warnung hat offensichtlich nichts mit mir zu tun. In meinem fiebrigen Zustand glaube ich zu erkennen, wie beide sich stumm miteinander messen. Erwachsene, die ü ber den Kopf eines Kindes hinweg reden, das kein Wort versteht. Vermutlich wollen sie nicht, dass die Polizei von den Fangeisen erfä hrt, denke ich. Aber ich bin zu mü de, um mich zu fragen, warum das so ist.

       «Lass ihn nur fü r ein paar Tage bleiben», fleht Mathilde. «Bis er wieder zu Krä ften gekommen ist. »

       Die Antwort ihres Vaters lä sst lange auf sich warten. Er starrt mich an, dann wendet er sich mit einem herablassenden Schnauben ab. «Mach, was du willst. Aber sorge dafü r, dass er mir aus den Augen bleibt. »

       Er geht zur Treppe. «Die Laterne», sagt Mathilde. Er zö gert, und ich kann sehen, wie er darü ber nachdenkt, sie einfach mitzunehmen und uns ohne Licht hierzulassen. Dann stellt er die Lampe auf den Boden und verschwindet ohne ein Wort in der Dunkelheit unter der Galerie.

       Mathilde holt die Laterne und hockt sich neben mich. «Kannst du stehen? »

       Als ich nicht antworte, wiederholt sie die Frage auf Englisch. Ich bleibe immer noch stumm, aber ich beginne, mich hochzuhieven. Ohne Zö gern nimmt sie mir den Rucksack von den Schultern.

       «Stü tz dich auf mich. »

       Ich will das eigentlich nicht, aber ich habe keine andere Wahl. Unter der dü nnen Baumwolle ist ihre Schulter fest und warm. Sie legt einen Arm um meine Taille. Sie reicht mir bis ans Kinn.

       Als wir das untere Ende der Treppe erreichen, taucht Gretchen aus dem Schatten auf. Das Baby hat ein rotes, verweintes Gesicht, aber es schaut sich eher neugierig als verstimmt um.

       «Ich habe dir gesagt, du sollst mit Michel im Haus bleiben», tadelt Mathilde.

       «Ich wollte doch nur helfen. »

       «Ich kriege das schon hin. Bring ihn zurü ck ins Haus. »

       «Warum soll immer ich auf ihn aufpassen? Er ist dein Baby. »

       «Bitte tu einfach, was ich dir sage. »

       Gretchens Gesicht verhä rtet sich. Sie schiebt sich an uns vorbei, und ihre Flipflops schlappen laut und wü tend auf den Stufen. Ich spü re Mathildes Seufzen mehr, als dass ich es hö re.

       «Komm», sagt sie erschö pft. Sie stü tzt mich, als wir die Treppe hochsteigen und ich zur Matratze humpele. Es dauert ewig. Ich sinke auf das Lager und bemerke nur am Rande, wie sie nach unten geht. Kurz darauf ist sie wieder da und bringt den Rucksack und die Laterne mit. Sie stellt beides neben das Bett.

       «Dein Vater hat nicht gewusst, dass ich hier bin, stimmt’s? », frage ich. «Du hast es ihm nicht erzä hlt. »

       Mathilde steht auß erhalb des Lichtkreises. Ich kann ihr Gesicht nicht erkennen und weiß darum nicht, ob sie mich ansieht oder nicht.

       «Wir reden morgen darü ber», sagt sie schließ lich und lä sst mich auf dem Dachboden allein.




  

© helpiks.su При использовании или копировании материалов прямая ссылка на сайт обязательна.