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 Inhaltsübersicht.  KAPITEL 1



 

       Simon Beckett

       Der Hof

 

       Thriller

 

       Aus dem Englischen von Juliane Pahnke

        


 Inhaltsü bersicht

       Widmung

       KAPITEL 1 LONDON

       KAPITEL 2 LONDON

       KAPITEL 3

       KAPITEL 4 LONDON

       KAPITEL 5 LONDON

       KAPITEL 6

       KAPITEL 7

       KAPITEL 8 LONDON

       KAPITEL 9 LONDON

       KAPITEL 10

       KAPITEL 11 LONDON

       KAPITEL 12 LONDON

       KAPITEL 13

       KAPITEL 14 LONDON

       KAPITEL 15 LONDON

       KAPITEL 16 LONDON

       KAPITEL 17 LONDON

       KAPITEL 18 LONDON

       KAPITEL 19

       EPILOG

       DANKSAGUNG

 
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       In Erinnerung an Friederike Kommerell


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 KAPITEL 1

       Der Wagen fä hrt auf den letzten Tropfen. Seit Stunden keine Tankstelle, und die Tankanzeige ist tief in den roten Bereich gerutscht. Ich muss von der Straß e runter, aber die Felder erstrecken sich endlos zu beiden Seiten und zwingen mich, immer weiter geradeaus zu fahren, bis der Motor den Geist aufgibt. Es ist noch frü her Morgen, doch dieser Tag wird heiß und trocken. Der Wind, der durch die offenen Fenster hereinweht, bringt keine Kü hlung.

       Ich fahre ü ber das Lenkrad gebeugt und rechne jeden Moment damit, dass der Motor ausgeht. Dann sehe ich eine Lü cke in der grü nen Barriere. Zu meiner Linken schneidet ein Feldweg eine Bresche zwischen zwei Weizenfelder. Ich lenke den Wagen von der Straß e auf den holprigen Weg. Mir ist egal, wohin er mich fü hrt, solange ich dort nur in Deckung bin. Ich erreiche ein Wä ldchen. Ä ste kratzen an den Fenstern, als ich den Audi hineinlenke und den Motor ausschalte. Im Schatten der Bä ume ist es kü hler. Die Stille wird nur vom leisen Ticken des Motors und fließ endem Wasser durchbrochen. Ich schließ e die Augen und lehne den Kopf nach hinten. Aber ich habe keine Zeit, mich auszuruhen.

       Ich muss in Bewegung bleiben.

       Zuerst schaue ich ins Handschuhfach des Wagens. Ein bisschen Mü ll und ein fast volles Pä ckchen Zigaretten. Camel, meine alte Lieblingsmarke. Nichts davon kö nnte mich verraten. Als ich ü ber den Beifahrersitz hinweg danach greife, bemerke ich den Geruch. Schwach, aber unangenehm. Wie Fleisch, das jemand in der Sonne liegen gelassen hat.

       Etwas ist auf dem edlen Lederpolster des Beifahrersitzes verschmiert, ebenso auf dem abgewickelten Anschnallgurt, der bis in den Fuß raum hä ngt. Das robuste Material ist an einer Stelle fast durchgerissen, und als ich mit den Fingern darü berfahre, ist da etwas Klebriges und Dunkles.

       Mir wird schwindelig bei der Vorstellung, dass ich den ganzen Weg gefahren bin, wä hrend das da gut sichtbar war. Ich will mö glichst schnell eine groß e Entfernung zwischen das Auto und mich bringen, aber so kann ich es nicht zurü cklassen. Die Ä ste kratzen ü ber die Tü r, als ich aussteige. Ich finde den Bach, der durch das Wä ldchen fü hrt, und meine Hä nde zittern, als ich dort ein Taschentuch anfeuchte, das ich im Handschuhfach gefunden habe. Der Sitz lä sst sich einfach abwischen, aber das Blut ist in das Material des Gurts eingezogen. Ich reibe so viel wie mö glich herunter, dann wasche ich das Taschentuch im Bach aus. Wasser umschließ t meine Hä nde wie glä serne Handschellen, als ich sie mit dem Sand vom Grund des Bachs abschrubbe. Selbst danach fü hlen sie sich nicht richtig sauber an.

       Ich spritze mir Wasser ins Gesicht und ziehe eine Grimasse, als es die Kratzer auf meiner Wange benetzt. Dann gehe ich zurü ck zum Auto, das nach der langen Fahrt von einer dicken Staubschicht ü berzogen ist, die den schwarzen Lack verbirgt. Mit einem Stein schlage ich die Nummernschilder aus Groß britannien herunter, dann hole ich meinen Rucksack aus dem Kofferraum. Als ich ihn heraushebe, verfä ngt sich ein Riemen an der Abdeckung fü rs Reserverad. Darunter blitzt etwas Weiß es auf. Ich schiebe die Matte beiseite, und mein Magen verkrampft sich, als ich das in Plastikfolie gewickelte Pä ckchen sehe.

       Mit weichen Knien lehne ich mich gegen den Wagen.

       Es hat ungefä hr die Grö ß e einer Tü te Zucker, aber das weiß e Puder darin ist lä ngst nicht so unschuldig. Hastig schaue ich mich um, als kö nnte mich jemand hier sehen. Aber hier sind nur Bä ume und das bestä ndige Summen der Insekten. Ich starre das Pä ckchen an und bin zu erschö pft, um diese neue Komplikation zu begreifen. Ich will es nicht mitnehmen, aber hierlassen kann ich es auch nicht. Also nehme ich es, stopfe es ganz nach unten in meinen Rucksack, knalle die Kofferraumklappe zu und gehe los.

       Die Weizenfelder liegen noch verlassen da, als ich aus dem Wä ldchen komme. Ich werfe die Nummernschilder des Wagens und die Schlü ssel zwischen die hohen Halme, ehe ich mein Handy aus der Tasche ziehe. Es ist hoffnungslos und irreparabel kaputt. Im Gehen nehme ich die SIM-Karte heraus und zerbreche sie in zwei Teile, ehe ich die winzigen Plastikstü cke in das eine Feld werfe und das Handy in das andere.

       Ich wü sste ohnehin nicht, wen ich anrufen sollte.

       Das graue Asphaltband der Straß e flirrt und zuckt, wä hrend die Sonne hö her steigt. Die wenigen Wagen, die unterwegs sind, wirken wie in der Hitze gefangen, sie scheinen sich kaum zu bewegen, bis sie plö tzlich farbig aufblitzen und vorbeirauschen. Mein Trekkingrucksack, der ü ber meinen Kopf ragt und Schatten spendet, ist wie eine persö nliche Klimaanlage. Fast eine Stunde gehe ich so, bis ich das Gefü hl habe, genug Distanz zwischen mich und den Wagen gebracht zu haben. Dann hebe ich den Daumen und hoffe, jemand nimmt mich mit.

       Meine roten Haare sind dabei sowohl ein Vorteil als auch ein Nachteil. Ich ziehe die Aufmerksamkeit auf mich, und man sieht sofort, dass ich hier fremd bin. Als Erstes werde ich von einem jungen Paar in einem klapprigen Peugeot mitgenommen.

       «Où allez-vous? », fragt er, und die Zigarette in seinem Mund bewegt sich dabei kaum.

       Es kostet mich Ü berwindung, in die fremde Sprache zu wechseln. Ich habe Franzö sisch in letzter Zeit mehr gehö rt als gesprochen. Aber das ist gar nicht der Grund fü r mein Zö gern. Wo will ich hin?

       Ich habe keine Ahnung.

       «Irgendwohin. Ich reise einfach herum. »

       Ich sitze auf dem Beifahrersitz, das Mä dchen hat sich ohne Widerspruch auf die Rü ckbank gesetzt. Ich bin froh, dass der Fahrer eine Sonnenbrille trä gt, denn so brauche ich meine auch nicht abzunehmen. Sie verdeckt das Schlimmste von dem Bluterguss.

       Er schaut auf meine roten Haare. «Brite? »

       «Ja. »

       «Dein Franzö sisch ist echt gut. Schon lange hier? »

       Einen Moment ringe ich um die Antwort. Es fü hlt sich an, als wä re ich schon ewig hier. «Eigentlich nicht. »

       «Und wo hast du es so gut gelernt? » Die Frage kommt von dem Mä dchen, das sich zwischen den Sitzen nach vorne beugt. Sie ist dunkelhaarig und mollig, mit einem hü bschen, offenen Gesicht.

       «Frü her bin ich oft hergekommen. Als ich jü nger war. Und ich … Ich steh auf franzö sische Filme. »

       Danach halte ich lieber den Mund, weil ich mehr von mir preisgebe, als ich eigentlich will. Zum Glü ck scheint sich keiner von beiden allzu sehr fü r Details zu interessieren. «Ich schau ja lieber amerikanische Filme», meint er und zuckt mit den Schultern. «Wie lange bleibst du? »

       «Keine Ahnung», sage ich.

       Sie setzen mich am Rand einer kleinen Stadt ab. Ich greife auf meine Geldreserve in Euro zurü ck, um mir Baguette und Kä se, eine Flasche Wasser und ein Wegwerffeuerzeug zu kaufen. Ich kaufe auß erdem bei einem Straß enhä ndler auf dem Marktplatz eine Baseballkappe. Eine billige Nike-Kopie, aber sie spendet Schatten und hilft, meine Abschü rfungen zu verstecken. Ich weiß, dass ich mich paranoid verhalte, aber ich kann einfach nicht anders. Ich will nicht mehr Aufmerksamkeit auf mich ziehen als unbedingt nö tig.

       Es ist eine Erleichterung, die Stadt hinter mir zu lassen und wieder ü ber offenes Gelä nde zu laufen. Die Sonne brennt auf meinen Nacken herunter. Nach etwa einem Kilometer mache ich unter einer Reihe Pappeln halt und versuche, von dem Baguette und dem Kä se zu essen. Ich bringe nur wenige Bissen herunter, ehe ich alles wieder hochwü rge. Mein Magen fü hlt sich wund an, und als die Krä mpfe endlich aufhö ren, sinke ich gegen einen Baum und bin so erschö pft, dass ich einfach nur hier liegen und aufgeben will.

       Aber das kann ich nicht machen. Meine Hä nde zittern bei dem Versuch, mir mit dem Wegwerffeuerzeug eine Zigarette anzuzü nden. Ich ziehe daran. Es ist die erste seit zwei Jahren, sie schmeckt, als wü rde ich endlich heimkehren. Ich atme einen Teil meiner Anspannung mit dem Zigarettenrauch einfach aus und genieß e es fü r ein paar Augenblicke, an nichts zu denken.

       Nach der Zigarette stehe ich wieder auf und gehe weiter. Ich habe nur eine ungefä hre Vorstellung davon, wo ich bin, aber da ich ohnehin keinen Plan habe, ist das gar nicht so schlimm. Ich strecke den Daumen raus, wenn ein Auto kommt, aber das passiert nicht allzu oft. Die Straß en hier sind vor allem routes bis, also Landstraß en durchs Hinterland, die von Durchreisenden, die sich an Nationalstraß en und Autobahnen halten, eher gemieden werden. Am Nachmittag und nachdem ein Citroë n und ein Renault mich mitgenommen haben, habe ich weniger als zwanzig Kilometer zurü ckgelegt. Die Mitfahrgelegenheiten waren nur von kurzer Dauer – Einheimische, die ins nä chste Dorf oder in die Stadt wollten. Inzwischen gibt es nicht mal mehr diese. Die Straß e ist so leer, dass ich glauben kö nnte, die Welt da drauß en hä tte mich vergessen. Die einzigen Gerä usche sind das Schaben meiner Schuhe und das unablä ssige Zirpen der Insekten. Es gibt keinen Schatten, und ich bin froh ü ber das bisschen Schutz von der Baseballkappe.

       Nachdem ich eine gefü hlte Ewigkeit gegangen bin, werden die offenen Felder von einem dichten Kastanienwald abgelö st, der mit altem Stacheldraht abgesperrt ist. Aber die Ä ste mit den breiten, fä cherfö rmigen Blä ttern hä ngen weit ü ber die Straß e und bieten so wenigstens etwas Schutz vor der Sonne.

       Ich lasse den Rucksack langsam von meinen schmerzenden Schultern gleiten und nehme einen Schluck aus meiner Flasche. Es sind nur noch wenige Fingerbreit darin, und das Wasser ist warm wie Blut und vermag kaum meinen Durst zu lö schen. Ich hä tte eine zweite Flasche kaufen sollen, denke ich. Aber ich hä tte so vieles tun sollen. Jetzt ist es zu spä t, um irgendwas davon zu ä ndern.

       Ich kneife die Augen zusammen und starre die Straß e entlang, die pfeilgerade verlä uft und in der Hitze flirrt. Ich schraube den Deckel auf die Wasserflasche und starre weiter auf die Straß e, als wü rde allein deshalb ein Auto auftauchen, weil ich es will. Natü rlich klappt das nicht. Himmel, ist das heiß. Schon jetzt bin ich wieder vö llig ausgedö rrt. Ich nehme die Kappe ab und fahre mir mit der Hand durch die verschwitzten Haare. Vor einer Weile bin ich am Tor zu einem Bauernhof vorbeigekommen, erinnere ich mich. Ich kaue auf der Unterlippe und ü berlege. Eigentlich will ich nicht zurü ck. Aber meine trockene Kehle nimmt mir die Entscheidung ab. Ich habe keine Ahnung, wie weit es bis zur nä chsten Stadt ist, und es ist zu heiß, um ohne Wasser weiterzugehen. Ich setze den Rucksack wieder auf.

       Das Tor ist mit demselben rostigen Stacheldraht versehen, der auch den Waldrand sä umt. Ein Weg verlä uft vom Tor bis zu den Kastanienbä umen. Ein Briefkasten ist an einem Torpfosten befestigt, und in blassweiß en Buchstaben steht darauf nur ein Wort: Arnaud. Ein altes, aber solide wirkendes Vorhä ngeschloss hä ngt an einem Schließ band am Tor, aber jemand hat es offen gelassen.

       Ich schaue ein letztes Mal die Straß e hoch, doch da ist noch immer kein Auto in Sicht. Also achte ich auf den Stacheldraht, schiebe das Tor auf und gehe hindurch. Der Weg fü hrt in sanftem Schwung bergauf, dann wieder hinab. Weiter hinten entdecke ich im Schutz der Bä ume eine Ansammlung von Dä chern. Ich folge dem Weg und gelange in einen staubigen Hof. Ein heruntergekommenes, altes Bauernhaus, das von einem wacklig wirkenden Gerü st halb verdeckt wird, steht an seinem Kopfende. Gegenü ber gibt es eine groß e Scheune und an einer Seite einen leeren Stalltrakt, in dessen Giebel eine Uhr eingelassen ist, die nur noch einen Zeiger hat. Im Stall sind keine Pferde, nur ein paar staubige Fahrzeuge parken offenbar mehr oder weniger permanent in den offenen Tü ren.

       Niemand ist zu sehen. Irgendwo in der Nä he meckert eine Ziege, und ein paar Hü hner kratzen im Dreck. Wä ren die Tiere nicht, kö nnte man meinen, das Anwesen sei verlassen. Ich bleibe am Rand des Hofs stehen, irgendwie widerstrebt es mir weiterzugehen. Die Tü r zum Bauernhaus steht offen. Ich steige die Stufen hinauf und klopfe an das rohe Tü rblatt. Einen Moment lang ist alles still, dann hö re ich die Stimme einer Frau.

       «Qui est-ce? »

       Ich stoß e die Tü r auf. Nach der Helligkeit im Hof wirkt das Hausinnere auf mich undurchdringlich dunkel. Es dauert ein, zwei Sekunden, ehe ich eine junge Frau erkenne, die am Kü chentisch sitzt. Und es dauert etwas lä nger, bis ich das Baby erkenne, das sie auf dem Arm trä gt.

       Ich hebe die leere Flasche und zö gere, wä hrend ich mir die Frage auf Franzö sisch zurechtlege. «Kann ich wohl etwas Wasser haben, bitte? »

       Wenn es ihr Unbehagen bereitet, von einem Fremden gestö rt zu werden, zeigt sie das nicht offen. «Wie sind Sie hier reingekommen? », fragt sie ruhig.

       «Das Tor stand offen. »

       Ich fü hle mich wie ein Eindringling, als sie mich mustert. Sie setzt das Baby in einen hö lzernen Hochstuhl. «Mö chten Sie auch ein Glas Wasser trinken? »

       «Das wä re groß artig. »

       Sie nimmt die Flasche mit zur Spü le und fü llt sie am Wasserhahn, ehe sie auß erdem ein groß es Glas fü llt. Ich trinke dankbar. Das Wasser ist eiskalt und hat den erdigen Geschmack von Metall.

       «Danke», sage ich und gebe ihr das leere Glas zurü ck.

       «Kö nnen Sie das Tor hinter sich schließ en? », bittet sie mich. «Es hä tte nicht offen bleiben dü rfen. »

       «Okay. Noch mal vielen Dank. »

       Ich kann ihren Blick auf mir spü ren, als ich den sonnigen Innenhof wieder ü berquere.

       Ich folge dem Weg zurü ck durch den Wald zur Straß e. Es ist dort so still wie zuvor. Sorgfä ltig schließ e ich das Tor und marschiere weiter. Hin und wieder drehe ich mich um und schaue, ob ein Auto kommt, aber hinter mir ist nur das von der Sonne aufgeheizte Asphaltband. Ich habe die Daumen unter die Schulterriemen meines Rucksacks gehakt, um das Gewicht etwas besser zu verteilen. Er fü hlt sich schwerer an, sobald ich an das denke, was darin ist. Also konzentriere ich mich lieber darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen und an nichts zu denken.

       Das Drö hnen eines Motors lö st sich allmä hlich aus der aufgeheizten Stille. Ich drehe mich um und sehe etwas am Horizont auftauchen – ein dunkler Fleck, der in der Hitze verschwimmt. Zuerst scheint er regungslos ü ber einer Reflexion seiner selbst zu verharren. Dann tauchen die Rä der auf und werden immer lä nger, bis sie die Straß e berü hren. Ein blaues Auto hä lt auf mich zu.

       Ich trete schon aus dem Schatten der Bä ume, als ich etwas auf dem Wagendach bemerke. Im nä chsten Moment begreife ich, was ich da sehe. Ich springe ü ber den Stacheldrahtzaun und reiß e mir dabei die Jeans auf. Wegen des Rucksacks lande ich ziemlich unglü cklich. Ohne anzuhalten, stü rze ich in den Wald, wä hrend das Motorengerä usch lauter wird. Als der Wagen fast auf meiner Hö he ist, ducke ich mich hinter einem Baum und blicke ä ngstlich zur Straß e hoch.

       Der Polizeiwagen braust vorbei. Ich lausche, ob er das Tempo verlangsamt. Aber das Motorengerä usch wird immer leiser, bis es ganz verschwindet. Ich lege den Kopf gegen den Baum. Ich weiß, dass ich ü berreagiere und dass die franzö sische Polizei vermutlich kein Interesse an mir hat. Aber ich bin zu nervö s, um es drauf ankommen zu lassen. Und ich kann nicht riskieren, dass sie meinen Rucksack durchsuchen.

       Ich habe einen bitteren Geschmack im Mund. Blut – bei meiner Flucht habe ich mir auf die Lippe gebissen. Ich spucke aus und nehme die Wasserflasche aus meinem Rucksack. Meine Hä nde zittern, als ich mir den Mund ausspü le. Danach erst schaue ich mich um, wo ich gelandet bin.

       Der Wald erstreckt sich auf einem abgeflachten Hü gel, und in einiger Entfernung kann ich zwischen den Bä umen einen See aufblitzen sehen. Auf der einen Seite sehe ich die Dä cher eines Bauernhofs, die auf die Entfernung winzig und unbedeutend wirken. Vermutlich habe ich dort nach dem Wasser gefragt. Ich bin also noch auf ihrem Grund und Boden.

       Ich stehe auf und wische mir den Dreck von der Jeans. Mein T-Shirt klebt mir schweiß nass am Rü cken. Es ist inzwischen so heiß, dass die Luft zu backen scheint. Wieder blicke ich zu dem See hinü ber und wü nsche mir, ich kö nnte darin schwimmen. Aber das wird nicht passieren. Ich muss in Bewegung bleiben. Nach einem letzten Schluck Wasser lasse ich den Baum hinter mir, mache ein paar Schritte und schreie auf. Etwas bohrt sich schmerzhaft in meinen Fuß.

       Ich sinke auf die Knie, als der Schmerz mein Bein hinaufschieß t. Mein linker Fuß steckt in einem Paar schwarzer, halbrunder Kiefer. Ich versuche, mich aus der Umklammerung zu befreien, doch bei jeder Bewegung schieß t erneut eine sengende Schmerzwelle mein Bein hinauf.

       «Herrgott! »

       Ich verharre und atme tief durch, um die Panik niederzuringen. Ich bin in eine Art Eisenfalle getreten, die unter einem Gewirr aus knorrigen Baumwurzeln versteckt lag. Sie umklammert den Spann bis hinauf zum Knö chel, und die gezackten Eisenzä hne haben sich durch das dicke Leder meines Stiefels gebohrt. Sie stecken so tief in meinem Fleisch, dass ich spü re, wie die Spitzen eisig den blanken Knochen berü hren.

       Ich kneife die Augen fest zusammen und gebe mir Mü he, den Anblick auszublenden. «Scheiß e, Scheiß e, Scheiß e! »

       Aber das bringt mich auch nicht weiter. Ich schü ttle den Rucksack ab und versuche, eine bessere Sitzposition zu finden, um die Kiefer der Falle packen zu kö nnen. Sie rü hren sich keinen Millimeter. Ich stü tze mich mit dem gesunden Fuß an einer Baumwurzel ab und versuche es erneut. Dieses Mal werde ich mit einem winzigen Nachgeben belohnt, aber das ist lä ngst nicht genug. Meine Arme zittern vor Anstrengung, und die Metallrahmen bohren sich mir in die Handflä chen. Langsam lasse ich wieder los und lehne mich keuchend zurü ck.

       Ich sauge an den wunden Stellen an meinen Hä nden und schaue mir die Falle jetzt genauer an. Eine primitive Vorrichtung, die von ockerfarbenem Rost ü berzogen ist. Trotzdem kann sie noch nicht allzu lange hier liegen. Das Ö l an den Scharnieren scheint noch ziemlich frisch zu sein. Beä ngstigend frisch, finde ich und versuche lieber nicht darü ber nachzudenken, was das bedeuten kö nnte, sondern widme meine Aufmerksamkeit der Kette, mit der die Falle im Boden verankert ist. Sie ist sehr kurz und fü hrt zu einem Holzpflock, der zwischen den Baumwurzeln vergraben ist. Mir genü gt es, mehrmals daran zu zerren, um zu wissen, dass es Zeitverschwendung ist, sie herausziehen zu wollen.

       Ich sitze auf dem Boden, mein gefangenes Bein lang vor mir ausgestreckt. Mit einer Hand versuche ich, mich in eine etwas bequemere Position zu bringen, und spü re dabei etwas Feuchtes. Die Wasserflasche liegt dort, wo ich sie fallen gelassen habe. Ich reiß e sie hoch, obwohl inzwischen fast alles rausgelaufen und in der trockenen Erde versickert ist. Vorsichtig nehme ich einen Schluck, schraube die Flasche zu und versuche nachzudenken.

       Okay, bleib ganz ruhig. Der anfä ngliche Schmerz ist einem bestä ndigen Pochen gewichen, das Zahnschmerzen ä hnelt und bis in mein Schienbein strahlt. Blut beginnt, das Leder meines Stiefels zu durchnä ssen. Bis auf das Summen der Insekten ist der vom Sonnenlicht gesprenkelte Wald still. Ich schaue zu den Dä chern des Bauernhofs hinü ber. Sie sind zu weit weg. Keiner wü rde mich hö ren, wenn ich schreie. Aber das will ich auch gar nicht. Jedenfalls nicht, solange ich es vermeiden kann.

       Ich krame im Rucksack nach meinem Taschenmesser. Ich weiß, dass es irgendwo da drin sein muss. Aber bei der Suche stoß en meine Finger auf etwas anderes. Ich ziehe es heraus, und der Anblick trifft mich wie ein Schock.

       Die Fotografie hat Eselsohren und ist verblasst. Ich hatte keine Ahnung, dass sie noch im Rucksack war. Ich habe sogar vergessen, dass es dieses Foto gab. Das Gesicht des Mä dchens ist von einem Knick fast vollstä ndig verwischt, ihr Lä cheln ist verzerrt. Hinter ihr hebt sich der strahlend weiß e Brighton Pier von einem makellos blauen Himmel ab. Ihre Haare sind blond und von der Sonne ausgebleicht. Ihr Gesicht hat eine gesunde Brä une. Sie sieht glü cklich aus.

       Mir wird schwindelig. Die Bä ume scheinen sich um mich zu drehen, als ich das Foto wieder einstecke. Ich atme tief durch und zwinge mich, jetzt nicht durchzudrehen. Die Vergangenheit ist vorbei. Ich kann nichts dagegen unternehmen, ich kann sie nicht ä ndern. Die Gegenwart bereitet mir schon genug Sorgen. Ich finde mein Taschenmesser und setze mich zurecht. Das Messer hat eine knapp acht Zentimeter lange Klinge, einen Korkenzieher und einen Flaschenö ffner. Leider nichts, um ein Fangeisen zu entschä rfen. Ich ramme die Klinge trotzdem zwischen beide Bü gel und versuche, die Falle aufzustemmen, aber sie bewegt sich nur ein paar Millimeter und schnappt sofort wieder zu. Ich werfe das kaputte Messer beiseite und schaue mich nach etwas anderem um. In der Nä he liegt ein toter Ast. Er ist auß er Reichweite, aber mit Hilfe eines anderen kü rzeren Asts kann ich ihn zu mir heranziehen und schiebe dann das dickere Ende zwischen die Bü gel. Das Metall grä bt sich in das Holz, aber die Falle beginnt ganz langsam, sich zu ö ffnen. Ich ü be noch mehr Druck aus und beiß e die Zä hne zusammen, als die Eisenzä hne ganz langsam die Umklammerung meines Fuß es lockern.

       «Ja! Los jetzt! »

       Der Ast bricht. Die Bü gel springen wieder zusammen.

       Ich schreie.

       Als der Schmerz nachlä sst, liege ich flach auf dem Rü cken. Ich richte mich auf und hä mmere mit dem Ast auf den Boden ein. «Scheiß ding! »

       Ich kann jetzt nicht lä nger so tun, als wä re die Situation nicht ernst. Selbst wenn ich meinen Fuß befreien kann, bezweifle ich, dass ich mit der Verletzung noch weit komme. Aber das Problem kann ich getrost vernachlä ssigen. Der Umstand, dass ich mich nicht aus eigener Kraft befreien kann, ist viel beä ngstigender.

       Bist du jetzt glü cklich? Das hast du dir selbst eingebrockt. Ich blende die finsteren Gedanken aus und versuche stattdessen, mich auf das viel drä ngendere Problem zu konzentrieren. Mit dem Korkenzieher des Taschenmessers beginne ich, um den Metallstift, der die Falle verankert, die Erde aufzugraben. Ein vergeblicher Versuch, aber wenigstens kann ich meine Wut abarbeiten, indem ich auf Boden und Wurzeln einhacke. Schließ lich lasse ich das Messer fallen und sinke wieder gegen den Baumstamm.

       Die Sonne steht inzwischen spü rbar tiefer. Es wird noch stundenlang hell bleiben, aber die Vorstellung, die ganze Nacht hier zu liegen, entsetzt mich. Ich zerbreche mir den Kopf, was ich noch tun kann, aber mir fä llt nur eins ein.

       Ich hole tief Luft und schreie.

       Meine Schreie verhallen ohne Echo. Ich bezweifle, dass man sie bis zu dem Bauernhof gehö rt hat, bei dem ich vorhin gewesen bin. Ich schreie lauter, sowohl auf Englisch als auch auf Franzö sisch. Ich schreie so lange, bis meine Stimme heiser wird und mein Hals schmerzt.

       «Ist da jemand! », schluchze ich fast und dann, leiser: «Bitte. » Die Worte scheinen von der Nachmittagshitze aufgesaugt zu werden und verlieren sich zwischen den Bä umen. Danach senkt sich die Stille wieder ü ber den Wald.

       Da weiß ich, dass ich nirgendwo mehr hingehen werde.

           

       Am nä chsten Morgen habe ich Fieber. Ich hatte in der Nacht meinen Schlafsack aus dem Rucksack gezogen und ihn ü ber mir ausgebreitet, aber ich zittere immer noch ziemlich heftig. Mein Fuß puckert dumpf im Rhythmus meines Pulsschlags. Er ist bis weit ü ber den Knö chel hinaus angeschwollen. Obwohl ich den Stiefel so weit wie mö glich aufgeschnü rt habe, ist das Leder, das inzwischen schwarz und klebrig vom Blut ist, gespannt wie eine Trommelhaut. Es fü hlt sich wie ein riesiges Geschwü r an, das jederzeit aufplatzt.

       Beim ersten Licht des neuen Tages versuche ich wieder zu schreien, aber weil mein Hals so ausgedö rrt ist, bringe ich nicht mehr als ein heiseres Krä chzen zustande. Schon bald kostet selbst das zu viel Anstrengung. Ich versuche, mir andere Mö glichkeiten auszudenken, um Aufmerksamkeit zu erregen. Eine Weile scheint mir der Gedanke verlockend, den Baum in Brand zu setzen, unter dem ich hocke. Ich taste sogar schon in den Hosentaschen nach dem Feuerzeug, ehe ich wieder zur Vernunft komme.

       Die Tatsache, dass ich das ernsthaft in Erwä gung gezogen habe, ä ngstigt mich am meisten. Aber dieser klare Moment ist nicht von langer Dauer. Als die Sonne aufgeht, beginnt es rasch heiß zu werden, und ich schiebe den Schlafsack beiseite. Ich bringe das Kunststü ck zustande, wie verrü ckt zu schwitzen und gleichzeitig vor Kä lte zu bibbern. Ich schaue meinen Fuß voller Hass an und wü nschte, ich kö nnte ihn wie ein gefangenes Tier einfach abkauen. Und kurz glaube ich, das wirklich zu kö nnen, und kann meine Haut und mein Blut und die Knochen fö rmlich schmecken, als ich in mein Bein beiß e. Dann bin ich wieder bei mir, sitze mit dem Rü cken an den Baumstamm gelehnt, und das Einzige, was in meinen Fuß beiß t, sind die sichelfö rmigen Eisenbü gel.

       Ich verliere immer wieder das Bewusstsein, tauche in verworrene, ü berhitzte Phantasien ab. Irgendwann ö ffne ich die Augen und sehe ein Gesicht, das mich prü fend mustert. Es gehö rt einem Mä dchen und ist wunderschö n und madonnenhaft. Es scheint mit dem auf dem Foto zu verschmelzen und plagt mich mit Schuldgefü hlen und Trauer.

       «Es tut mir leid», sage ich oder glaube zumindest zu sagen: «Es tut mir leid …»

       Ich starre das Gesicht an und hoffe auf ein versö hnliches Zeichen. Aber als ich sie anschaue, beginnt die Form ihres Schä dels durch die Haut zu scheinen. Die Oberflä che schä lt sich ab, und darunter kommt ein Bild aus Fä ulnis und Verfall zum Vorschein.

       Ein neuer Schmerz ü berrollt mich, eine neuerliche Qual, die mich fortträ gt. Aus weiter Ferne hö re ich jemanden schreien. Als die Schreie verebben, hö re ich Stimmen, die in einer Sprache reden, die ich zwar erkenne, aber nicht verstehe. Ehe die Worte gä nzlich verstummen, kann ich einige jedoch so klar und deutlich hö ren wie den Schlag einer Kirchturmglocke.

       «Doucement. Essayez d’ê tre calme. »

       Vorsichtig, verstehe ich. Aber es verwirrt mich, dass sie leise sein mü ssen.

       Dann reiß t der Schmerz mich vollends fort, und jenseits davon existiere ich nicht lä nger.




  

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